Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 3. Nr. März 1998

Zur Rezeption und Erforschung der österreichischen Literatur in der Ukraine:
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunftsperspektiven

Larissa Cybenko (Lviv)

Bevor ich direkt zur Erörterung des von mir genannten Problemkreises komme, möchte ich die Frage stellen: wie weit auseinander liegen heute das traditionsreiche Land Österreich und das neue Staatsgebilde Ukraine auf der "mentalen Landkarte" Europas? Obwohl die Luftlinie, die Wien mit Kyjiv oder Lviv (Lemberg) verbindet, in der Wirklichkeit viel kürzer ist, als z. B. der Abstand von Österreich zu den Kanarischen Inseln, bleibt dieses Land für die Mehrheit der West- und Zentraleuropäer noch eine richtige "terra incognita". Denn eine Luftlinie ist nur eine Linie und kein Weg, auf dem sich die Menschen treffen. Die Grenzen, die auf diesem Weg vorkommen, sind bis heute noch nicht so leicht zu überwinden. Das Schaffen eines gesamten geistigen Raumes, monolithisch und vielfältig zugleich, wäre einer der wichtigsten Aufgaben der modernen europäischen Kultur. Zu den wirkungsreichsten Mitteln, die uns helfen, diese Aufgabe zu verwirklichen, gehört meines Erachtens die Philologie. Denn dank ihr lernen wir, in anderer Weise zu denken, in anderer Weise zu fühlen. Der bekannte russische Philologe der Gegenwart, Sergej Awerinzew, sagte dazu: "Eine der wichtigsten Aufgaben des Menschen besteht darin, den anderen Menschen zu verstehen, ohne ihn in einen "berechenbaren" Gegenstand oder die Widerspiegelung eigener Emotionen zu verwandeln. Diese Aufgabe steht vor jedem einzelnen Menschen, aber auch vor jeder einzelnen Epoche, vor der gesamten Menschheit. Philologie dient der Verständigung und hilft der Erfüllung dieser Aufgabe".(1)

In dem Sinne wäre es für das geistige Leben der heutigen Ukraine, die sich auf dem Weg der Transformation von der postkommunistischen in die demokratische Gesellschaft nach dem europäischen Muster befindet, besonders wichtig, die Annäherung an Zentraleuropa wiederzufinden. Die traditionsreiche Kultur und Literatur des Landes, dessen Identität immer wieder als zentraleuropäisches geistiges Phänomen entdeckt wird, erfreut sich bei dieser Annäherung besonderer Aufmerksamkeit: die Entfaltungsmöglichkeit der Rezeption der österreichischen Literatur in der Ukraine wird zum guten Beispiel von Interkulturalität und Erweiterung des Horizontes im Rahmen eines Landes. In der letzten Zeit, und zwar in den 6 Jahren des Bestehens des ukrainischen Staates, kann man einen Aufschwung des Interesses an den österreichischen Kultur und Literatur merken.

Was die Geisteswissenschaften und insbesondere die Literaturwissenschaft anbetrifft, so werden bei uns heute zwei Aufgaben gelöst: das Nachholen und die Übernahme der wichtigsten Grundtheorien, wie sie im Laufe des 20. Jh. in der Weltpraxis geformt waren von einer Seite, und das gestaltende Hervorbringen der originellen Forschungsmethoden unter dem eigenen Blickwinkel von der anderen. Das Erschaffen des passenden Instrumentariums verläuft parallel zur Entwicklung der neuen Forschungsintentionen, was der Entwicklung der modernen Philologie insgesamt entspricht.

Unter der Rezeption und Erforschung der österreichischen Literatur in der Ukraine verstehe ich ihre Präsenz auf verschiedenen Niveaus des literarischen Lebens und der literaturwissenschaftlichen Deutung. Zunächst möchte ich mein Verständnis der Definition des Begriffes "österreichische Literatur" klarstellen. Ohne auf eine weitere Diskussion eingehen zu wollen, würde ich mich der Meinung der italienischen Germanistin A. Schininà anschließen, die in Hinsicht einer bibliographischen Studie zur österreichischen Literatur in Italien bemerkt: "... für diese Bibliographie ..." werden Autoren gewählt, "die aus den Gebieten der Habsburger Monarchie und der Republik Österreich stammen, mit deren Geschichte und Problemstellungen eng verbunden sind und die Literatur in deutscher Sprache produziert haben".(2) Obwohl das historische Österreich traditionell eindeutig als "Schmelztiegel von Völkern, Kulturen und Religionen" genannt wurde, was die Tatsache zufolge hatte, daß sich im Rahmen der Habsburger Monarchie die Kulturen mehrerer Völker und Literaturen in mehreren Sprachen entwickelten, die unter dem großen Einfluß der österreichischen literarischen Tradition standen, öfters auch bilingual waren, würde ich die Gesamtheit des hier entstandenen nationalen Literaturgutes als "Literatur des Donauraumes" definieren und den Aufgaben der komparatistischen Forschung einzureihen. Dabei möchte ich unterstreichen, daß das Schaffen einiger Schriftsteller sowohl im ersten als auch im zweiten Problemfeld erörtert werden könnte: z. B. die dichterische Welt solcher eindeutig "österreichischen" Schriftsteller, wie J. Roths oder L. von Sacher-Masoch wäre ohne den Kontext der "Literatur des Donauraumes" nicht denkbar.

Es wäre unmöglich, in diesen wenigen Minuten ein breites Panorama der Präsenz der österreichischen Kultur und der Erforschung der Einwirkung der österreichischen literarischen Tradition als Bestandteil des zentraleuropäischen Kulturgutes auf die heutigen Literaturprozesse in der Ukraine darzustellen. Vier Richtlinien wären aber dominant.

Erstens - die Intensivierung der Übersetzung und Erforschung der "österreichischen Klassiker" und der modernen Autoren, die zur Weltliteratur gehören, in Hinsicht auf die Zensur und Einfuhrbeschränkungen des totalitaristischen Regimes, aber bis zur Wende Ende der achtziger Jahre in der Ukraine unzugänglich oder beschränkt präsent waren, solcher, wie die österreichische Literatur der Jahrhundertwende, das Schaffen von Hugo von Hofmanstahl, R.M. Rilke, G. Trakl, F. Kafka, R. Musil, H. Broch, J. Roth, P. Celan, H. von Doderer, I. Bachmann, Thomas Bernhard von den letzten Jahrzehnten: Ch. Ransmayr. Obwohl einige von ihnen schon früher meistens in den russischen Übersetzungen nur episodisch, als Bestandteil der deutschen Literatur betrachtet wurden - bedenken muß man, daß das Land die ganze Sowjetzeit von der restlichen Welt fast abgeschlossen war - heute sollen sie für die Ukraine öfters "neuentdeckt" oder "neuinterpretiert" werden.

"Neu" sollte, z. B. für die ukrainische Kultur die dichterische Welt vom bedeutendsten Lyriker des alten Österreich, G. Trakl, gestaltet sein: aufs engste, durch den Tod mit Galizien verbunden (sein letztes Gedicht "Grodek", wo der Eigenname der westukrainischen Stadt zum Zeichen "einer verzweifelten Hoffnung" (Alfred Doppler) wird, war er von dieser Welt entfremdet, kam nie vor der Zeit seines Todes in Berührung mit dem geistigen Raum dieser Landschaft. Von großer Bedeutung wäre für uns die vor kurzem stattgefundene bilinguale Ausgabe seiner Gedichte (in der Übersetzung von T. Hawryliw).

Es klingt paradox, daß das Schaffen von einem solchem Schriftsteller wie Joseph Roth, der der Meinung von Klaus Oettinger (Universität Konstanz) nach, "gewaltigster Erzähler von diesem Jahrhundert ist", obwohl in den westlichen Gebieten der Ukraine, in Ostgalizien, geboren (wie David Bronsen bemerkt: Galizien "verdankte Roth die weltanschauliche Ausrichtung, die Präposition mancher Charakteranlage und die sprachliche Orientierung") ins Ukrainische nie übersetzt wurde und in der Literaturforschung überhaupt kein Resonanz hatte. Wie im Fall vieler anderer, ideologisch in das sowjetische Prokrustesbett nicht passenden Schriftsteller und Dichter, wurde er einfach verschwiegen (es wäre genug, sich an seine Worte zu erinnern, als er 1933 Kommunisten mit den Nazi-Sozialisten verglich: "dieselben Uniformen - dieselben Trompeten - der gleiche Lärm der gottlosen Menschen"). Außer einigen Auszügen (wie z. B. aus dem Roman "Hotel Savoj" oder "Reise durch Galizien" die ukrainisch übersetzt und in der Periodika publiziert waren (hier steht der Mangel an finanziellen Mitteln wiederum im Wege), ist sein Werk nur  beschränkten Kreis der Germanisten in den letzten Jahren bekannt geworden. In der ukrainischen Literaturforschung wird seinem Schaffen die Aufmerksamkeit in Hinsicht auf das "Problem der literarischen Heimat" (D. Zatonskij) und "Literarische Landschaftswahrnehmung von Ostgalizien" (L. Cybenko) gewidmet.

Zum prägnanten Beispiel der "Neuinterpretation" gehört z. B. die vielfältige Erschließung des dichterischen Erbes von R. M. Rilke durch die ukrainische Kultur. Seine Gedichte werden mehr als andere europäische Dichter von den prominentesten ukrainischen Dichter neuster Zeit übersetzt, solchen wie M. Bazan, Ju. Klen, M. Orest, L. Pervomajskyj, V, Stuß; sein "Lied von der Liebe und dem Tod des Kornetts Christoph Rilke" erschien in der neuen Übersetzung von Ju. Andruchovycz. Wenn früher meistens nur die Rußlands Impressionen in Rilkes Dichtung zum Thema der Erforschung waren, so führt seine sorgfältig untersuchte Verbindung mit der Ukraine und der ukrainischen Orthodoxie (D. Nalywajko - "R. M. Rilke und die Ukraine als komplexes Problem") zur Bereicherung der Vorstellungen von diesem österreichischen Klassiker unseren Jahrhunderts.

Als weiteres Beispiel der Bekanntmachung der lesenden Kreise in der Ukraine mit der österreichischen Literatur möchte ich die ersten Übersetzungen und den literaturwissenschaftlichen Kommentar der Werke des Dichters, dessen Schaffen in den letzten Jahrzehnten große Resonanz in mehreren Ländern der Welt hat - der Erzählungen, Bühnenstücke und Essays von Jura Soyfer - erwähnen, die in diesem Jahr erschienen (P. Rychlo). Das Interesse für das Schaffen dieses österreichischen Dichters der Zwischenkriegszeit, als des Vertreters der Wiener "Subkultur", wird in der Ukraine außerdem dadurch bewirkt, daß er in Charkiw geboren wurde.

Was die Erforschung der "klassischen" und modernen österreichischen Literatur durch die heutige ukrainische Literaturwissenschaft anbelangt, so wären hier die Aspekte zu erwähnen, unter welchen die "österreichischen Themen" behandelt werden. Im Rahmen der Erforschung der Weltliteratur insgesamt werden bei der Rezeption und Deutung der literarischen Texte, die für die Ukraine neu aufgenommenen Methoden vorgeschlagen, wie z.B. "Die Gestalthermeneutik der österreichischen Literatur der ersten Hälfte des 20. Jh.", wo der Schwerpunkt in der Erforschung des Schaffens von R. Musil liegt (Dissertationsthema von Ju. Prochas`ko); oder "Die phänomenologische Deutung der Zeit und des Raumes bei Ch. Ransmayer" (Dissertationsthema von L. Cybenko). Dabei ist für die ukrainische Literaturwissenschaft bei der Annäherung an das Schaffen der deutschsprachigen Schriftsteller der Umgang mit den literarischen Texten in der Originalsprache ziemlich neu.

Was die Präsenz der österreichischen Literatur in der Ukraine unter diesem Blickwinkel anbelangt, so wäre es erwünscht, bei der Erweiterung der Übersetzungsmöglichkeiten ihre umfassendere Darstellung in den verschiedensten Formen zu leisten. Unter anderem wäre es meiner Meinung nach erstrebenswert, ihr als Lehr- und Forschungsgegenstand "Austrianistik" im Rahmen des Faches "Germanistik" besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Das war und ist bis heute an den meisten Universitäten und akademischen Forschungsinstitutionen in der Ukraine noch nicht der Fall.

Zweitens - die Aufmerksamkeit für regionale Dichtung in den ehemaligen Provinzen der Donaumonarchie: deutschsprachige Literatur aus der Bukowina als Bestandteil des österreichischen Literaturprozesses: Rose Ausländer, Paul Celan, Gregor von Rezzori u.a. oder in der deutschen Sprache geschriebene Literatur aus und über Galizien im Rahmen der Problematik einer literarischen Landschaft und der Intertextualität: wie das Schaffen von Leopold von Sacher-Masoch im galizischen Kontext oder "Dialog der Texte" bei K.E. Franzos und J. Roth. Die enge Beziehung des Schaffens dieser Schriftsteller zum Land, wo sie geboren wurden und wo ihre schöpferische Welt wurzelt, begann infolge der "neuen nationalen Politik" in den ehemaligen Provinzen der Donaumonarchie in der Zwischenkriegszeit allmählich zu verhallen und kam nach den Deportationen und der Völkervernichtung im zweiten Weltkrieg zum völligen Schweigen. Die fast ein Halbjahrhundert dauernde Periode des totalen Herrschens der Sowjetideologie führte dazu, daß die Namen von diesen Schriftstellern und Dichtern aus dem Bewußtsein der Kulturschaffenden und Forscher dieser Regionen fast völlig verschwunden waren. Man könnte sich an solche Themen nur unter großem Aufwand wenden, wie z. B. im Fall der Erforschung der ukrainischen Themen im Schaffen von K.E. Franzos bei M. Nahirnyj in den 70er Jahren. "Ein verspätetes Echo" nannte P. Rychlo das Aufblühen des Interesses an den längst in Europa oder in der ganzen Welt bekannten Autoren aus der Bukowina (um nur wenige zu nennen: Alfred Margul-Sperber, Georg Drozdowski, Alfred Kittner, Rose Ausländer, Paul Celan, Selma Meerbaum-Eisinger). Ihre Werke werden in den letzten Jahren in immer größerem Umfang ins Ukrainische übersetzt, ihr Schaffen findet Interesse bei der jüngeren Generation der Literaturforscher.

Besondere Aufmerksamkeit wird auch dem Schaffen des in Lemberg geborenen und der Schilderung des Lebens in der galizischen Ukraine mehrere Werke gewidmeten österreichischen Schriftsteller L. von Sacher-Masoch geschenkt. Wenn im westukrainischen Literaturprozeß des 19. Jh., wie E. Nachlik in seiner Forschung zeigt, L. von Sacher-Masoch als "Autor farbiger Bilder und Geschichten aus dem galizischen Leben" eine große Resonanz hatte, so wurde sein Name im Sinne der Verneinung der Psychoanalyse in der Sowjetzeit völlig verschwiegen. Heute wäre es wichtig, sein Schaffen dem ukrainischen Leser bekannt zu machen, nicht zuletzt auch als anerkannten Interpreten erotischer Themen.

Drittens - Unter dem neuen Blickwinkel wird heute in der Ukraine die Literatur interpretiert, die von mir als "Literatur des Donauraumes" definiert wurde. Besonders wichtig wäre hier die kulturologische Erforschung der Gegenwirkungen der Literaturen des multikulturellen Donauraumes durchzuführen.

Von einer Seite entstand in den Gebieten der heutigen Westukraine, die etwa 150 Jahre zur Donau-Monarchie gehörten, die Literatur in deutscher Sprache, die damals eine Art "koine" - gemeinsames Kommunikationsmittel - im Raum des Reiches war und der sich die Schriftsteller mehrerer Ethnien bedienten (im Fall der Ukrainer - z. B. die ukrainischen Dichter in der Bukowina Jurij Fed`kowyè, Isidor Worobkewyè - in der zweiten Hälfte des 19. Jh.; die prominente Schriftstellerin der Jahrhundertwende - Olha Kobyljans`ka, der ukrainische Klassiker der gleichen Zeitperiode aus Galizien Iwan Franko, der selbst öfters "wir, Österreicher" schrieb, die ostjüdischen Schriftsteller - Karl Emil Franzos, Joseph Roth u.a.). Wenn das Schaffen der genannten ukrainischen Schriftsteller und Dichter aber bilingual war, so haben die deutschassimilierten jüdischen Schriftsteller eines der besten Beispiele der Ausducksmöglichkeiten der deutschen Sprache gezeigt, was ihr organisches Eintreten in die Literatur des deutschsprachigen Raumes zur Folge hatte. Dabei möchte ich interessante Ergebnisse der Forschung des Lemberger Literaturwissenschafters Taras Luczuk erwähnen, der von slawisch-deutschen "dianoëtik" (Platos Terminus, der "den Gedankenarbeit als Prozeß" bezeichnet), bei mehreren Schriftstellern aus dem Gebiet des ehemaligen Österreich-Ungarn spricht. Eines der besten Beispiele des Einflusses des Phänomens der Fremdsprachigkeit wäre der Stil der Sprache bei Joseph Roth.

Von der anderen Seite könnte man von der Herausbildung der österreichischen Tradition, vom österreichischen geistigen Erbe in der Literatur des Donauraumes sprechen. Ich meine hier die Tatsache, daß die kulturellen Verhältnisse der Donau-Monarchie alle Umwälzungen und Kataklismen des 20. Jh. überlebt hatten, sie ließen in der Mentalität und Habitusbildung einzelner Nationen von Mitteleuropa ihre Spuren. Einer der prägnantesten Beispiele wäre hier das Schaffen des polnisch-jüdischen Schriftstellers der Zwischenkriegszeit aus Ostgalizien (Gebiet der Westukraine), des Malers und Dichters Bruno Schulz, "Galizischer Kafka" genannt,  der seine Werke polnisch verfaßte, dessen Kosmos aber ohne Grundlage der traditionellen Kultur der Habsburger Zeit kaum denkbar wäre.

Wechselwirkungen von mehreren Kulturen dieser "verschwundenen Welt" können heute eine Schatzkammer von Autoren, Themen und Motiven sein. Besonders aktuell wäre hier die Anwendung der komparatistischen Methode. (Von großen Gewicht wäre die Tatsache, daß sich in den Archiven und Bibliotheken dieser Region große Menge des noch nicht in die Datenbanken eingeführten autochthonen biobibliographischen Materials - eine Fundgrube für die Forscher der Galizien- und Bukowinaliteratur - befindet.) Bestimmte Perspektive hat die Erforschung dieser Literatur als System der Sprachen, Gattungen und Realien - und zwar ihre Imagologie (typische Gestalten, Stereotypen), gemeinsame Gattungen, Mehrsprachigkeit der Autoren. Der Zeitraum der erforschter Periode könnte die Literatur des 19. Jh. bis zum Ausblick in die neusten literarischen Intentionen der Region umfassen: das traditionsgebundene Substrat der "Literatur des Donauraumes" wirkt wohl bis heute, was den Grund anbietet, von Herausbildung des "Galizien Mythos" in der modernen ukrainischen Literatur zu sprechen.

Gerade darunter möchte ich die vierte Richtlinie der Präsenz des "österreichischen kulturellen Erbes" im heutigen geistigen Leben der Ukraine nennen - seine originellen Spuren in der neuesten postmodernen ukrainischen Literatur. An die internationalen Phänomenen moderner Kunst orientierte Schriftsteller und Dichter, besonders die Vertreter der sogenannten "Stanislauer Epoche" in der zeitgenössischen ukrainischen Literatur (nach dem Namen der Stadt Stanislaw, heute Iwano-Frankiws`k in Galizien genannt), weisen in ihrem Schaffen mehrere Reminiszenzen der alten und neueren österreichischen Kultur auf. Dieses "österreichische Substrat" kommt in der Form von Andeutungen, Anspielungen, Übertragungen, typisch postmodern-unendlichen Aufzählungen von Namen, Begriffen, Beispielen, die aus dem Kulturgut des Donauraumes genommen sind, vor. So richtet sich der moderne ukrainische Autor Ju. Andruchowycz, der selbst fließend deutsch spricht und Rilke übersetzt, vor allem nach der klassischen österreichischen Literatur der Jahrhundertwende und der neueren österreichischen Literatur. Nicht ohne Ironie in Hinsicht auf die nostalgischen Habsburger Sympathien in Galizien schildert er in mehreren seiner Erzählungen und Essays den durch diese Nostalgie geborenen Eklektizismus der galizischen Landschaft (Essay "Erz-Herz-Perz"). In seinem neuen Roman "Perversion" gestaltet er das Wiener mondäne Milieu als "fatalistisches Überbleibsel des Imperiums". Der andere moderne galizische Autor Jurij Isdryk nennt seinen neuen erfolgreichen Roman "Wozzeck" ("nicht nach Büchner, auch nicht nach Alban Berg, sondern sicher nach Isdryk" - wie Ju. Andruchowycz bemerkt). Das variable Bild der inneren Tragödie des Menschen in der postkommunistischen Gesellschaft ist im Kontext von Rilke ("Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge"), Kafka und Musil zu lesen.

Zusammenfassend möchte ich sagen: die von mir angeführten vier Richtlinien der Rezeption und der Erforschung der österreichischen kulturellen Tradition und Literatur in der Ukraine sind die Probe, wenn nicht des gesamten, so doch vielseitigen Überblicks über die Entwicklung und die Perspektiven ihrer Aufnahme aus der ukrainischen Sicht darzustellen. "Österreich nach Österreich" - unter solchem Titel erschien im Frühjahr dieses Jahres in Lviv (Lemberg) die kulturologische Zeitschrift, die die neuesten Übersetzungen der österreichischen Autoren, die Werke der Schriftsteller und Dichter des Donauraumes, mehrere Artikel, welche österreichische Themen behandeln, enthält. Im kulturologischen Diskurs über den Weg nach der Suche der zentraleuropäischen Identität, wo die heutige Ukraine ihren Platz sieht, wäre die Annäherung an den österreichischen kulturellen und politischen Raum, historisch und vom Standpunkt der Gegenwart gesehen, von höchster Bedeutung. Dieser Prozeß weist große Potenzen auf: Neuentdeckung, originelle Deutungen und kreative Neugestaltungen.

© Larissa Cybenko (Lviv)

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Anmerkungen:

(1) S. Awerinzew: Filologija - nauka i istoritscheskaja pamjat. (Philologie - Wissenschaft und historisches Gedächtnis) In: Woprosy literatury Nr. 7/1984. S.159.

(2) A. Schininà: Rezeption österreichischen Literatur in Italien. In: Jura Soyfer. Internationale Zeitschrift für Kulturwissenschaften. 5.Jg., Nr. 4/1996, S.21.


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