Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 3. Nr. März 1998

Philologie, Literatur- und Sprachwissenschaft - die Rolle der Neuphilologien im 20. Jahrhundert

Frank-Rutger Hausmann (Freiburg i. Br.)

In der gegenwärtigen Diskussion um den Stand und Rang der Geisteswissenschaften hört man immer wieder die Stichworte "Europäisierung" und "Globalisierung". Diese beiden Termini sollen zum Prüfstein werden, an denen sich Wohl und Wehe der Geisteswissenschaften in der zukünftigen Mediengesellschaft entscheiden. Damit ist gemeint, daß Philologen jedweder Ausrichtung ihr Scherflein zum Prozeß der europäischen Einigung beitragen sollen, und daß sie sich mit den Möglichkeiten weltweiter Kommunikation und Information nicht nur vertraut machen müssen, sondern auch deren Begrenztheiten aufzeigen sollen. Hinter diesen Forderungen verbirgt sich der Primat von Politik und Ökonomie, die den diversen Bildungseinrichtungen ihre Interessen aufzwingen und ihre Autonomie beschneiden wollen. Die Richtlinienkompetenz der diversen Bundes- und Länderministerien, die für die Bildungseinrichtungen zuständig sind, ist inzwischen so groß, daß diese nur noch mit Mühe ihre Autonomie verteidigen können und unter immer stärkeren Rechtfertigungsdruck geraten. Die Verweigerung bzw. Freigabe von Stellen, Räumen und Ausstattungsmitteln ist dabei ein geschmeidiges Zuchtinstrument, um den Universitäten und ihnen verwandten Einrichtungen einen fremden Willen aufzuzwingen. Eine allgemeine Verrechtlichung aller Lebensbereiche hat auch das Bildungssystem ergriffen: Es kann um alles gestritten und prozessiert werden, von den Studienplätzen und Hochschulzulassungen bis hin zu den Examensnoten, von der Dauerbeschäftigung bis hin zur Gleichstellung von Mittelbauvertretern mit Professoren, von der Zulassung zum Referendariat bis hin zur Gewährung von Stipendien, von der Rechtschreibung bis hin zum Anbringen weltanschaulicher Symbole in den Klassenzimmern. Sparzwänge und Richterentscheidungen bilden neben den Velleitäten der Politiker die Unabwägbarkeiten, um die Vermittlung von Bildungsinhalten zu beeinflussen. Wer sich nicht beugt, und das heißt in diesem Zusammenhang, prinzipiell bereitfindet, bei der Ausbildung von Schülern und Studenten auf die Interessen der mediengesteuerten, wirtschafts- und politikabhängigen Freizeitgesellschaft Rücksicht zu nehmen, gerät unter immer stärkeren Rechtfertigungszwang. Wie konnte es zu diesem Ansehensverlust der Universitäten kommen? Haben alle, die sich neuerdings in ihre Belange einmischen, ein Recht dazu? Was haben die Hauptverantwortlichen, die Professoren, getan, daß es so weit kommen konnte? (Ich lasse die anderen Bereiche des Bildungssektors mangels Kompetenz außer Betracht).

Zunächst ist festzuhalten, daß sich die Universitäten oder sagen wir besser die Universitätslehrer bis heute trotz aller Widrigkeiten einen relativen Freiraum bewahrt haben, der es ihnen erlaubt, selbstgewählte und -orientierte Forschungen zu betreiben und ihre Studenten nach Methoden zu unterrichten, wie sie bei der Begründung ihrer Fächer (Germanistik, Anglistik, Romanistik usw.) zu Beginn des 19. Jahrhunderts üblich und sinnvoll waren. Die inhaltlichen und didaktischen Veränderungen des neuphilologischen Universitätsbetriebs im Laufe von fast 170 Jahren sind minimal und graduell, nicht prinzipiell. Die Universitäten erweisen sich damit als besonders resistent. Ich spreche, um dies gleich vorauszuschicken, aus professoraler Perspektive als ein Hochschullehrer, der seit dreißig Jahren forschend und lehrend als romanistischer Literaturwissenschaftler mit den Schwerpunkten "französische" bzw. "italienische Literaturwissenschaft" an deutschen Universitäten und Technischen Hochschulen tätig war und ist. Mehrere Phänomene, die ich hier beschreibe, resultieren aus der föderalen Verfassungsstruktur der deutschen Bundesrepublik, aber natürlich nicht alle. Ich bitte meine Hörer um Verständnis, wenn ich gelegentlich allzu deutschlandspezifisch argumentiere, aber ich werde immer wieder versuchen, auf allgemeine Probleme auszugreifen. Ich will es mir jedoch versagen, mich kritisch mit der Institution "Universität" auseinanderzusetzen und will auch nicht Politiker, Wirtschaftskapitäne, Gewerkschaftler, Journalisten usw. schelten, die alle ihr Scherflein dazu beigetragen haben, daß "Bildung", anders als gegen Ende der 60er und zu Beginn der 70er Jahre, kein Gegenstand von Diskussionen und gesellschaftsverändernden Prozessen mehr ist, für die sich eine breitere Öffentlichkeit interessiert. Wer könnte unter den Älteren, der sich an die Zeit um 1968 erinnert, die in Deutschland auf breiter Front geführte Bildungskampagne vergessen, die zur explosionsartigen Neugründung von glänzend ausgestatteten Universitäten inklusive großartiger Freihandbibliotheken führte? Und in anderen europäischen Ländern verhielt sich dies ebenso. Diese goldenen Zeiten sind vorbei. In der Zwischenzeit haben andere Probleme - Umweltkatastrophen, Zusammenbruch des Ostblocks, Aidsgefahr, Massenarbeitslosigkeit, zweite oder dritte Medienrevolution und wie sie alle heißen - die Menschen bewegt und bewegen sie noch. Demgegenüber beweisen die Universitäten, jedenfalls die deutschen, eine erstaunliche Beharrlichkeit. Sie tun so, als ob sie das alles nichts anginge und halten fest an Forschungskonzepten und Unterrichtsmodellen, die ihren Ursprung im Mittelalter haben und in der Zeit der Befreiungskriege in Form gegossen wurden. Die Stichworte lauten hier: Humboldtsche Universität, Freiheit von Forschung und Lehre, Einsamkeit und Freiheit. Man kann das schön am Beispiel der Vorlesung verdeutlichen, die immer noch Privileg und vornehmste Pflicht des Professors ist und an die höchsten akademischen Abschlüsse - Habilitation, doctorat d'état usw. - gebunden ist: Die Vorlesung entstand an den Hohen Schulen des Mittelalters, als es noch keinen Buchdruck gab, und stellte demnach ursprünglich nur ein praktisches Vervielfältigungsmittel dar: Der Baccalaureus, Magister, Licentiat, Professor usw. dozierte und diktierte, die anderen schrieben mit und schufen sich ihre kleine Privatbibliothek. Dieses Verfahren wurde beibehalten, als es schon längst Bücher gab. Aber Bücher waren teuer, das Verfahren der Vorlesung immer noch sinnvoll. Als jeder sich Bücher hätte kaufen können, wurde die Vorlesung dennoch beibehalten damit gerechtfertigt, der Dozent trage neueste Forschungsergebnisse vor, die sich noch nicht in Büchern fänden. Und heute? Volkswirte und Juristen lassen Skripten erstellen, in denen das Grundwissen, das ein Professor in einem bestimmten Fach prüft, leicht faßlich aufbereitet wird und die dann, übrigens mit Gewinn, zur Examensvorbereitung an die Studenten verkauft werden. Da ein Professor in diesen Disziplinen nur einen oder zwei Gegenstände liest, mag das sinnvoll sein. Aber Geisteswissenschaftler didaktisieren ihren Stoff im allgemeinen nicht und kompilieren mehrheitlich ihre Vorlesungen aus vorhandenen Handbüchern, sofern sie überhaupt noch welche halten, oder wählen so spezielle Themen, daß der studentische Anfänger meist überhaupt nichts damit anfangen kann. Sinnvoll wäre die Konzeption neuer Unterrichtsmodelle, in denen aktuelles wichtiges Grund- oder Spezialwissen mit modernen medialen Gestaltungs- und Unterrichtsmethoden (Stichwort: Hypertext usw.) vermittelt würde, und zwar derart, daß die Lehreinheiten immer wieder überarbeitet und dem neuesten Stand einer sich geschwinde verändernden Welt angepaßt würden. Was über Vorlesungen gesagt würde, gilt auch für Seminare und Übungen, die ebenso archaisch sind wie früher. Generell macht sich bitter das Fehlen einer vernünftigen Hochschuldidaktik bemerkbar, ein Begriff, der für die meisten Professoren und Hochschulangehörigen ein rotes Tuch ist. Die hohe Abbrecherquote in den Geisteswissenschaften, die um 40 % betragen soll, hängt sicherlich damit zusammen, denn das nur unzureichend strukturierte Studium stellt eine Art sozialdarwinistischer Auslese dar. Nur, wer sich in den Mäandern der studentischen Freiheit zurechtfindet, hat Aussicht, mit Erfolg zu studieren.

Beim Beharren auf den Prinzipien der Humboldtschen Universität werden übrigens mehrere Dinge übersehen: Die Humboldtsche Universität war eine Elite-, keine Massenuniversität. Auch die an ihr lehrenden Neuphilologen waren Textphilologen, die sich im Gefolge einer längst etablierten jahrhundertealten Altphilologie konstituierten und deren Methoden auf die Edition und Kommentierung volkssprachlicher Texte übertrugen. Erst aus dieser Editionsarbeit entwickelte sich zu Beginn dieses Jahrhunderts die heutige Sprach- und Literaturwissenschaft. Alle sprachlichen Fragen (Datierung der Hs., Alter des Texts, Beschaffenheit des gewählten Dialekts usw.) führten zur diachronischen Sprachwissenschaft mit Dialektologie, Lexikologie, Syntaxforschung, Phonologie usw., alle Fragen nach dem Autor, der Gattung und den Quellen zur Literaturgeschichte. Während heute die Neuphilologien ihre raison d'être in der Lehrerausbildung haben und sich die öffentliche Hand allein in Deutschland etwa 65 Universitäten leistet, an denen Philologen jeglicher couleur ausgebildet werden, um die Schulen mit genügend Lehrern zu versorgen, war dies zu Beginn des 19. Jahrhunderts kein vorrangiges Ziel. Studenten waren im allgemeinen materiell unabhängig und studierten nicht auf ein Berufsziel hin, sondern um der Sache willen. Fremdsprachen wurden von Sprachmeistern und Lektoren unterrichtet; Lehrstühle für neuere Philologien waren äußerst selten, Neuphilologien waren Orchideenfächer wie heute Orientalistik u.ä., ihre Vertreter betrieben vorzugsweise, um nicht zu sagen exklusiv, die Erschließung und Deutung mittelalterlicher Textmonumente, und erst nach der Deutschen Reichsgründung 1870/71 wurde das Schulwesen so weit geordnet, daß auch für die Lehrer der Mittel- und Höheren Schulen akademische und pädagogische Abschlüsse gefordert, entsprechende Ausbildungsgänge konzipiert wurden. Für das Habsburgerreich und das übrige Europa galt Analoges. Daß in den jetzt konzipierten neuphilologischen Studiengängen auch gründliche Kenntnis der alten Sprachen als Zugangsvoraussetzung gefordert, im übrigen die Kenntnis der ältesten und älteren Stufen der jeweils gelehrten Sprachen unterrichtet wurden, erklärt sich aus der Genese der Neuphilologien als Töchter der Altphilologie. Dies führte dazu, daß der Lehramtsstudent bis weit in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zwar fließend Vulgärlatein übersetzen und Altfranzösisch lesen konnte, aber so gut wie nichts von neuerer Literatur und erst recht nicht von den kulturellen Gegebenheiten der Gegenwart hörte. Auch wurde an einer breiten komparatistischen Ausbildung in mehreren romanischen Sprachen festgehalten, obgleich das Französische aus politischen Gründen das einzige Lehramtsfach mit "Staatsexamen" war. Für Germanistik und Anglistik war der Widerspruch zwischen Ausbildung und beruflichen Anforderungen nicht ganz so kraß, aber doch ähnlich; Alt- und Mittelenglisch, Alt- und Mittelhochdeutsch nahmen einen unangemessenen Raum in den universitären Curricula ein.

Wenn die neuphilologischen Fachverbände, jedenfalls die romanistischen und anglistischen, nach wie vor an dieser philologischen Grundausbildung festhalten, nur leichte kosmetische Änderungen zulassen und sich mehrheitlich einer Öffnung zu landes- und medienwissenschaftlichen Umorientierungen des Studiums verweigern, legen sie ein zumindest unkluges Verhalten an den Tag, das in absehbarer Zeit nicht nur zu einem Kollaps der überkommenen Universitätsstrukturen führen, sondern sogar den Fachleuten die letzte Verantwortung für die Gestaltung von Studienordnungen und Lehre überhaupt nehmen könnte. Die Gesellschaft, d.h. die außeruniversitären Kräfte, die wir bereits benannt haben, werden sich nur noch eine begrenzte Zeit mit der Ressourcenverschleuderung abfinden, die an den Universitäten stattfindet, solange diese so viele arbeitslose Lehrer und Magistrae/Magistri ausbilden, die zwar häufig doch noch einen Arbeitsplatz finden, jedoch nicht wegen ihrer akademischen Ausbildung, sondern ihr zum Trotz. Und dabei handelt es sich keinesfalls um ein ausschließlich deutsches Dilemma, man muß in anderen Ländern nur die entsprechenden Bezeichnungen für Abschlußexamina einfügen. Auch Frankreich, Italien, Österreich, Spanien, Großbritannien usw. kennen die um sich greifende Arbeitslosigkeit der Akademiker. Im Rahmen der europäischen Freizügigkeit dürften sich die Probleme noch zuspitzen, wenn die Bürger der Europäischen Gemeinschaft das ihnen längst zustehende Recht einklagen, sich in einem anderen Land der Gemeinschaft einen Arbeitsplatz zu suchen. Dann könnten EG-Bürger mit entsprechenden Studienabschlüssen z.B. auf den deutschen Arbeitsmarkt der Schulen drängen, was insofern interessant wäre, weil hier die Gehälter wesentlich höher liegen als in Italien, Spanien usw. Ich wage mir das dann entstehende Chaos nicht auszumalen, aber es ist kein Horrorbild, sondern eine Zeitbombe, die bald schon explodieren könnte. Das Recht zum Länder- und Arbeitsplatzwechsel ist verbrieftes Europarecht! Ich wiederhole noch einmal, wenn ich hier immer nur von Deutschland spreche, so nicht aus imperialistisch-chauvinistischer Nabelschau, sondern weil hier die Probleme besonders virulent sind und der Referent sich hier besonders gut auskennt. Im übrigen wurden die Neuphilologien sozusagen am Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland erfunden, dann in die Nachbarländer exportiert und wenigstens eine Zeitlang imitiert. An der Möglichkeit wie der Notwendigkeit der Verallgemeinerung dürfte deshalb mutatis mutandis kein Zweifel bestehen. Aufgrund der bereits angesprochenen Juridifizierung aller Lebensbereiche wird es als Lösung in naher Zukunft keinen Numerus clausus geben, der den Zugang zu den philosophischen Fakultäten stoppt. Im Gegenteil, die Zahl der Studierwilligen wird nur unerheblich sinken, weil es ohnehin zu wenig Arbeitsplätze gibt und ein Student nicht in den Arbeitslosenstatistiken mitgezählt wird; die Zahl der Lehrenden wird sich hingegen rapide verkleinern, wenn ab dem Jahr 2000 die nach 1968 als Professoren Berufenen in großer Zahl in den Ruhestand eintreten. Denn bereits jetzt läßt sich prognostizieren, daß die freiwerdenden Stellen nicht ersetzt, sondern zusammengestrichen und zusammengelegt werden. Ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland, das im Augenblick 2,3 Bill. DM Staatsschulden hat, wird gezwungen werden, rigoros zu sparen, wenn es nicht den Staatsbankrott erklären will. Daß der Bildungssektor keine Lobby hat und deshalb zur Ader gelassen werden wird, scheint mir unvermeidlich. Ein Eldorado für den wissenschaftlichen Nachwuchs wird es demzufolge nicht geben, auch wenn die Fachverbände dies glauben machen wollen. Damit ist zugleich ein Urteil über die Ausbildungsqualität in der Zukunft gesprochen; sie wird noch weiter sinken, wie sehr auch Romanisten, Anglisten, Germanisten, Altphilologen, Historiker usw. das Fähnlein der Allgemeinbildung, der Buchkultur und der gediegenen philologischen Erudition hochhalten. So viele Köpfe, so viele Meinungen. Weder können sich die Fachvertreter über die Inhalte und Essentials ihrer Fächer einigen, also z.B. sagen, was Romanistik ist, was zu einem Studium unabdingbar hinzugehört oder, besonders wichtig, was entbehrlich ist, weil jeder Befragte eine durchaus individuell-individualistische Vorstellung davon hat; noch können oder wollen sie von sich aus Modernisierungskonzepte vorstellen, die das Überkommene zwar in großen Teilen bewahren, ohne es zu vereinseitigen und Öffnungen zu modernen Fragestellungen und Lösungswegen zu verbauen. Der Kluge reagiert nicht erst, wenn das Unglück geschehen ist, er agiert beizeiten und versucht, seine eigenen Vorstellungen zur Geltung zu bringen. Da Professoren und Doktoren im allgemeinen als besonders klug gelten, sollten sie diese Maxime möglichst bald beherzigen. Viele Fachverbände, allen voran die deutschen Romanisten, haben in den vergangenen Jahren ihre Energien in die Entwicklung neuer Verbandsstrukturen verpulvert, statt sich zusammenzusetzen, sinnvolle Konzepte für ihr Überleben in der Zukunft zu entwickeln, aus denen sich realisierbare Forderungen an die öffentliche Hand, die Wirtschaft und den Medienbereich ergäben.

Im folgenden soll nur ein Weg gewiesen werden, wie er im Augenblick an meiner Universität, der Universität Freiburg i. Br., beschritten wird (besonderen Anteil daran hat mein romanistischer Kollege Wolfgang Raible, der bei der Ausformulierung der wesentlichen Konzepte federführend war), um den Neuphilologien Überlebenschancen einzuräumen und eine notwendige Modernisierung so zu gestalten, daß die gewachsene Autonomie der einzelnen Fächer sichtbar und in wesentlichen Teilen erhalten bleibt und die philologisch-positivistische Tradition des 19. Jahrhunderts produktiv nutzbar gemacht wird. Vielleicht ist noch nicht alles verloren, aber es ist höchste Zeit, aktiv zu werden! Werfen wir zunächst einen Blick auf die Romanistik. Der Einzugsbereich heutiger Romanistik ist globaler dimensioniert als im 19. Jahrhundert, als man sich mit den mittelalterlichen Literaturen Frankreichs, Spaniens, der Provence, Italiens usw. beschäftigte und das Jahr 1500 eine unüberwindbare Epochenschwelle darstellte. Heute umfaßt allein die Gemeinschaft frankophoner Länder 49 Staaten. Romanische Sprachen dienen weltweit der Alltagskommunikation von fast 700 Millionen Menschen, etwa einem Siebtel der Weltbevölkerung, und damit liegen sie weit vor dem Englischen. Das Gewicht dieser Sprach-, Kultur- und Denkgemeinschaft ist zwar gigantisch, von maghrebinischer, schwarzafrikanischer Literatur, Kreolistik, Québec-Studien u.a. mehr ließ sich das 19. Jahrhundert noch nichts träumen, aber der Bereich ist so groß geworden, daß ein einzelner ihn in seinen Verästelungen nicht mehr überschaut. Dichte kulturelle, wirtschaftliche und persönliche Netze verbinden Deutschland mit seinen romanischen Nachbarn in Europa, aber auch in den Ländern Amerikas, Afrikas und Asiens. Abgesehen von den vielfältigen, oft impliziten Zulieferungsfunktionen der Romanistik hat sie einen grundlegenden Erkenntnisgegenstand in der Analyse und Deutung eines prägenden Teils der Geistesgeschichte. Ohne sie würde die Gesellschaft ärmer, beraubte sich langfristig eines Teils ihres Phantasie- und Innovationspotentials. Aber in der immer komplexer werdenden Welt tut Spezialisierung not, ohne den Blick auf das Ganze der Romania aus den Augen zu lassen. Mit den in den betroffenen Ländern betriebenen Studien kann der deutschsprachige Romanist mitnichten konkurrieren, und dies ist auch nicht sinnvoll, da für ihn diese Literaturen nicht Nationalliteraturen sind, sondern Nachbarliteraturen, denen er sich mit einem Blick von außen nähert. Erst diese Fernsicht läßt Strukturen erkennen, schärft den Blick für das Besondere und lehrt den, der einen derart "komparatistischen" Blick auf die Nachbarn richtet, die eigenen Besonderheiten besser zu begreifen. Die Romanistik muß sich dabei immer bewußt sein, daß ihr transnationaler Blick ein im weitesten Sinne europaorientierter ist. Der einzelne Romanist wird zwar notgedrungen Spezialist sein, er kann kein generelles Bild weltweiter romanischer Mentalitäten vermitteln, aber er sollte, mehr als andere Disziplinen, europatauglich machen und gegen nombrilistische und kampanilistische Nationalismen immunisieren. Als neuere Philologie muß die Romanistik wie Anglistik und Germanistik auf veränderte Kontexte reagieren. Dies ist keineswegs neu. Auf dem ersten Neuphilologentag nach dem Ersten Weltkrieg in Halle (1920) öffnete sich die Romanistik von einer ursprünglich einseitig mediävistisch orientierten textphilologischen Ausrichtung zu einer Disziplin der Neuzeit. Dies implizierte in der Sprachwissenschaft Hinwendung zur Synchronie (Gegenwarts- und Alltagssprache, Soziolekte, Fachsprachen, Universalienforschung usw.), in der Literaturwissenschaft Beschäftigung mit der Moderne seit der Renaissance unter Einschluß der Gegenwart und generell, aufgrund des deutsch-französischen Antagonismus, mit kontrastiver Wesenskunde, auf deren Begrenzungen an dieser Stelle nicht eingegangen werden muß. Dieser Wandlungsprozeß, der vor dem Hintergrund der Fachgeschichte revolutionär war, erfolgte zwar nicht ohne Widerstände der "Alten" und benötigte letztlich ein halbes Jahrhundert, um zur herrschenden Lehre zu werden, aber auf Dauer konnte sich ihm kein Romanist entziehen. Daß dieser Anpassungs- und Modernisierungsprozeß damals ohne großen Druck von außen, sondern eher aus besserer Einsicht einiger Progressiver erfolgte, läßt auch heute hoffen, daß Ähnliches wieder möglich wäre.

Rücksicht auf die Neuzeit nehmen, bedeutet heute jedoch etwas grundsätzlich anderes als um 1920. Der ganze Bereich der Medien, der alten wie der neuen, muß mit in die Neuphilologie einbezogen werden: Zeitungswesen, Rundfunk und Fernsehen, World Wide Web mit seinen verschiedenen Diensten, Multimedia-Möglichkeiten, generell heißt das: Umgang mit dem, was durch die Entwicklung der Informatik möglich geworden ist. Ein zweiter Sektor, der insbesondere für die Neuphilologien wichtig ist, ist das Verstehen fremder Kulturen, sei es im europäischen, sei es in einem weiteren Kontext. Die Neuphilologien müssen aber nicht nur zu (historischen) Kommunkationswissenschaften werden, sondern zugleich zu Kulturwissenschaften, die dazu beitragen, kulturelle Identitäten (Gemeinsamkeiten) und Alteritäten/Differenzen (Unterschiede) besser zu verstehen. Ihre Perspektive sollte sein, daß die Produktion wie die Rezeption von Texten, die seit jeher den Gegenstand der Sprach- und Literaturwissenschaft bilden, integriert werden. Dabei soll der Frage nachgegangen werden, welche Prozesse sich beim Übergang einer Gesellschaft von einer oralen zu einer Schriftkultur ergeben, denn ist diese einmal etabliert, bildet der Übergang von einer Manuskript- zu einer Buchdruck-Kultur einen weiteren wichtigen Veränderungsprozeß; und die Etablierung immer neuer Medien - Photographie, Film, Fernsehen, Personal Computer, Internet usw. - antwortet auf Bedürfnisse, die sich ihrerseits wieder in bestimmten Gattungen äußern, die sich zunächst in groben Zügen formieren und dann ausdifferenzieren. Es versteht sich von selber, daß eine derart konzipierte Kommunikations- und Medienwissenschaft nicht ohne historische Anbindung auskommt. Jeder Medienwandel ist ein Analogon für den darauf folgenden; alle erhellen sich wechselseitig. Hier haben auch die von den Philologien entwickelten Methoden ihren Platz, die sich mit der Entstehung und Beschaffenheit von Gattungen und Textsorten befassen, handele es sich um Literatursoziologie, Stilistik, Semiotik, Pragmatik, Intertextualität, Systemreferentialität usw. Auf eine Beschäftigung mit Antike und Mittelalter sollte aber auch noch aus anderen Gründen nicht verzichtet werden, wenngleich sie mit anderen didaktischen Zielrichtungen erfolgen müßte und mehr auf Allgemeinüberblicke als auf Spezialkenntnisse zielen sollte: Beide, Antike und Mittelalter, stellen große gemeinsame Kulturräume dar, die erst im 19. Jahrhundert durch Rückprojektion nationalstaatlicher und sprachlicher Grenzen ausdifferenziert wurden. Die Moderne ist, um mit einem alten Vergleich zu sprechen, ein Zwerg auf den Schultern von Riesen. Sie hat nichts wirklich neu erfunden, sondern nur weiterentwickelt. Wichtiger aber ist noch, daß das Mittelalter recht eigentlich supra- oder transnational war. Die Scholastik ist weder deutsch, noch französisch oder englisch; sie hat allenfalls mit derartigen Epitheta einzugrenzende Besonderheiten. Das Studium mittelalterlicher Geistesgeschichte könnte in diesem Sinne vorbildlich für das der Moderne werden, indem Synergieeffekte genutzt werden. Die Methoden der Literaturwissenschaft sind im Prinzip in der Romanistik keine anderen als in Germanistik, Anglistik und Slawistik. Dies würde bedeuten, daß bestimmte Bereiche wie etwa der Umgang mit Medien, die Methodenlehre der Sprach- oder Literaturwissenschaft, eine allgemeine kontrastierende Kulturwissenschaft usw. gewissermaßen aus einer Hand zu betreuen wäre mit jeweils notwendigen Ausdifferenzierungen. Diese eine Hand könnte dabei durchaus aus vielen Händen oder Fingern bestehen. Wichtig ist die morphologische Einheitlichkeit. Die unterschiedlichen Disziplinen sollten, soweit dies irgend möglich ist, zusammenarbeiten. Noch einmal, dies ist, wie Wolfgang Raible ausführt, auf allen Sektoren möglich, auf denen es um Texte, um Gattungs- und Diskurstraditionen, um Sprachwandel als Antwort auf die Veränderung der Lebenswelt geht. Weiterhin dort, wo Unterschiede zwischen sprachlich definierten Kulturräumen herausgearbeitet werden. Attraktoren sind in diesem Zusammenhang Kognitionswissenschaften, Anthropologie, historische Mentalitätsforschung, um nicht von den konventionelleren wie Geschichte, Philosophie, Pädagogik, Theologie usw. zu handeln.

Im Rahmen meiner Ausführungen bleibt nun keine Zeit mehr, auf die institutionelle Umsetzung meiner Gedanken einzugehen. Ich will jedoch diesbezüglich immerhin einige Ideen mitteilen: Europäisierung des Studiums heißt, auf ein sechssemestriges Studium mit einem europaweit anerkannten Studienabschluß (Bachelor, Lizentiat oder wie auch immer) umzuschwenken. Dieses Studium sollte ein Einfachstudium sein. Auf dieses "Grundstudium" könnte ein weiterführendes Studium der Spezialisierung erfolgen. Wie die Inhalte des für alle verbindlichen Grundstudiums aussehen sollten, ist zuvor skizziert worden. Die Studieninhalte sollten besser strukturiert werden; wir haben in einem Modell, das erst vom baden-württembergischen Wissenschaftsministerium angeregt, dann aber nach Erstellung wieder abgelehnt wurde, für jeden Wochentag eine unterschiedliche, aber sehr intensive Rahmenvorgabe gemacht: je einen Tag Sprachtraining, dann jeweils Sprach-, Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaft bzw. Wahlfachstudium. Jedes Studienjahr wird mit Prüfungen abgeschlossen; Abschlußprüfungen sind geschichtet (additiv), nicht mehr punktuell. Prüfungen erfolgen gruppistisch, um Gruppenarbeit einzuüben. Kreativität gilt als Lernziel und ist wichtiger als Rezeption. Soweit die Stichworte.

Nun könnte jemand einwerfen, derartige Veränderungen seien so weitreichend, daß sie einen unzumutbaren Eingriff in die Tradition der deutschen Universität bildeten. Dem ist zu entgegnen, daß dies in zahlreichen anderen Ländern Europas und auch in Übersee längst realisiert ist. Europafähigkeit gilt gegenwärtig bei den Politikern als hohe Tugend. Dieser Europafähigkeit sind ganz andere heilige Kühe geopfert worden, und sie wird noch viele Opfer fordern. Warum sollte der Bildungssektor davon ausgenommen werden.

© Frank-Rutger Hausmann   (Freiburg i. Br.)

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