Eszter Propszt (Szeged)
Ungarn hatte im Laufe der Jahrhunderte vielfältige politische, wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen zu den deutschsprachigen Ländern, teils wegen seiner geographischen Lage, teils weil auf dem Territorium des jeweiligen Staates ein bedeutender deutschsprachiger Bevölkerungsteil lebte. Nach der großen Ansiedlungswelle deutscher Einwanderer im 18. Jahrhundert folgte eine kulturelle Blütezeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Kultur, deren tragende Schicht das städtische Bürgertum war, erzielte und erreichte eine beachtliche Breitenwirkung, vor allem Budapest zeigte ein reiches Angebot an Presse-, Theater- und Zeitungswesen. Mit dem Aufstieg des ungarischen Bürgertums und den Unabhängigkeitsbewegungen in der Doppelmonarchie verdrängte die erwachende Nationalkultur allmählich die deutsche. Das deutsche Schul- und Bildungswesen wurde eingeschränkt, kulturelle und publizistische Aktivitäten begrenzt. Der Weg zur Minderheitenliteratur begann.
Nach dem ersten Weltkrieg verlor Ungarn wichtige Gebiete mit deutscher Bevölkerung (Siebenbürgen, Burgenland, Zips). Die kulturelle Kontinuität war gebrochen. Innerhalb der Landesgrenzen blieben nur noch zerstreute Siedlungen, hauptsächlich in ländlichen Gebieten, wo beinahe jedes Dorf eine geschlossene Einheit bildete. Da in diesen Dörfern jeweils andere Mundarten gesprochen wurden, entwickelten sich keine Regionalsprachen. Diese Gemeinschaften erreichte die bürgerliche Kultur auch vorher kaum. Die Rezeption der schriftlichen Kultur erschöpfte sich im Konsum von Kalendern, Zeitungen und religiösen Schriften. Die potentielle Intelligenz wurde in die Städte abgezogen, ihre Assimilation war automatisch. Auf dieser Grundlage konnte sich keine überregionale Minderheitenkulturen herausbilden.
Auch nach dem zweiten Weltkrieg gab es keinen Neuansatz. Im Gegenteil: eine große Zahl Ungarndeutscher wurde ausgesiedelt, darunter Intellektuelle. Viele von den Daheimgebliebenen wurden zur Zwangsarbeit verschleppt. Die Unterdrückung aller nationalen Eigenheiten raubte auch jegliche Hoffnungen auf die Fortführung der literarischen Tradition. Erst Mitte der fünfziger Jahre ließ der Druck auf die Minderheit nach. Die Defizite kann man auch an der Tatsache ablesen, daß 1954 nur noch eine deutsche Wochenzeitung ("Freies Leben") erschien; aus ihr ging dann 1957 die heute noch publizierte "Neue Zeitung" hervor.
Eine ungarndeutsche Literatur existierte in den endvierziger, fünfziger und sechziger Jahren nicht, zu einem effektiven Durchbruch kam sie erst 1973. Ihre Wiederbelebung wurde durch die "Neue Zeitung" vorgenommen. In ihrem Preisausschreiben "Greift zur Feder!" forderte sie die Leser zur dichterischen Tätigkeit auf. Ihr Bestreben war das der literarischen Sektion des ungarndeutschen Verbandes: "Im Dienste der Pflege und der Erhaltung der Muttersprache im Dienste der Befriedigung der ständig wachsenden kulturellen Bedürfnisse unserer deutschsprachigen Bevölkerung diejenigen Personen zu erfassen, die sich in deutscher Sprache schriftstellerisch betätigen können und wollen, außerdem neue Talente aufzufinden, sie zu dieser Arbeit zu ermutigen und für die Veröffentlichung ihrer Arbeiten systematische Möglichkeiten zu schaffen."(1) Die Wettbewerbsbeiträge wurden in erstaunlicher Fülle zugesandt, die erste Nachkriegsanthologie "Tiefe Wurzeln" (1974) erschien.
Für diese Autoren (Engelbert Rittinger, Georg Fath, Johann Herold, Josef Kanter) ergab sich also erst einmal die Aufgabe, die Literatur in den Dienst der deutschen Sprache (Hochsprache und Dialekte) zu stellen und damit in den Dienst der Vergangenheitsbewältigung und der Identitätsförderung. Die Frage der Sprache ist daher als Kernproblem der ungarndeutschen Literaturentwicklung zu betrachten. Das Ringen um die Sprache ist mit dem um die pure Existenz verbunden - verdeutlicht Valeria Koch in ihrem Gedicht "Stiefkind der Sprache".
"Sag mal wer kennt dich
für wen bist du wichtig
seit zweihundert Jahren
suchst du nach klaren
Spuren auf Erden
um nicht zu verderben(...)
Du bist ein fremdes Glied
geworden und geblieben
hier kein Grund dich zu lieben
dort keiner zu achten (...)"
Deutsch als Muttersprache wird nur noch von der älteren Generation "der Stiefkinder" gesprochen, aber lediglich im engen Familienkreis gebraucht; die mittlere Generation beherrscht es aus historischen Gründen nicht mehr; die Jüngeren erlernen es in der Regel als Fremd- oder Zweitsprache. Infolgedessen stellt sich die Frage, ob über eine ungarndeutsche Literatur oder eher über eine deutschsprachige Literatur Ungarns gesprochen werden muß.(2) Die Formulierung "ungarndeutsche Literatur" setzt den Akzent auf die Vermittlung und Bewahrung ungarndeutschen Gedanken- und Kulturgutes. Diese Aspekte haben aber seit dem Neubeginn an Gewicht verloren, die jüngeren Schriftsteller suchen das gesellschaftliche Problembewußtsein, das Wirklichkeitsverhältnis dieser Literatur zu erweitern. So kann man aufgrund stilistischer und thematischer Kriterien in der ungarndeutschen Gegenwartsliteratur eine Zweiteilung seitens der Literaturproduzenten vornehmen.
Im Falle der älteren Generation ist die Orientierung an der Gemeinschaft maßgebend, es geht um ein Sich-Wiedererkennen. Immer wieder erzählen sie mit dokumentarischer Kraft über Schicksale aus den Weltkriegszeiten, Verlust der Heimat, Sehnsucht nach alten Lebensformen und Unmöglichkeit der Rückkehr in diese Verhältnisse. Ihre Motive kreisen ständig um die Heimat (Baum, Wurzel), Heimatlosigkeit (herrenlose Tiere), um die Veränderung. Der Grundton ist in diesen Werken von Wehmut geprägt. Die Vergangenheit kann aber auch mit Humor heraufbeschworen werden, das ist vor allem für die Mundartliteratur charakteristisch. Sie schöpft ihren Reiz aus der Schilderung unmittelbaren Lebens oder auch Sichvergnügens kleinerer Gemeinschaften. Es kann nicht Übersehen werden, daß es bei diesen Autoren teilweise an sprachlichem und schöpferischem Potential fehlt, doch für sie scheint "docere" viel wichtiger zu sein als "delectare", sie schaffen oft im Sinne der Volkspädagogik. Ihr Poesieverständnis ist traditionell, sie möchten dem geschichtlich Vorgefundenen (dem Volkslied- der Gelegenheitsdichtung, der Empfindungslyrik des 19. Jahrhunderts, den Vorbildern Heine und Lenau) entsprechen; die Überschreitung dessen trauen sie sich nicht zu. Als Ausdrucksform bevorzugen sie die Lyrik, die ihnen im Schulunterricht begegnet war und die Prosa, die dem mündlichen Erzählen am nächsten steht. Das alles erklären sie teilweise mit ihrem mit der Literatur wenig vertrauten Adressatenkreis: "Ich will nicht einen Kopf größer sein als die Gemeinschaft" äußert Joseph Mikony(3) und Engelbert Rittinger meint: "Ich will mir keinen literarischen Namen erwerben, ich will kein allzu hohes Niveau anstreben. Das schaffe ich nicht. Die Leser würden mich aber auch nicht verstehen."(4) In diesem Zusammenhang muß man erwähnen, daß diese Schreibenden sich ihre literarische Bildung autodidaktisch angeeignet haben und sich selber als "schreibende Arbeiter", "Hobbyschreiber", "Laienschreiber" bezeichnen.(5) Hinter ihren Intentionen verbergen sich verschiedene Gefahren. Die eine ist bei vielen das Abgleiten in die Klischeehaftigkeit einer Art Heimatliteratur; so verständlich diese Abhängigkeit von Heimat und Muttersprache auch ist, als alleiniges tragendes Element einer Literatur kann sie nicht bestehen.(6) Die andere ist die Isolation, vor allem für die Mundartdichtung. Da es eine Anzahl unterschiedlicher Mundarten gibt, konzentrieren sich die Autoren auf ein sehr enges Publikum. So auch Franz Zeltner: "[...] ich habe ein Publikum in meinem Heimatdorf. Wir sind 1000 Einwohner."(7)
Die nächste Generation fehlt so gut wie völlig. Aus den Jahrgängen zwischen 1930 und 1947 traten kaum ungarndeutsche Autoren hervor. Auch deshalb muß das Werk von Erika Áts (1934) eine besondere Erwähnung finden. Sie schlug eine Brücke zwischen der älteren und der jüngeren Generation; ihre Leistung reicht sowohl sprachlich als auch formal über die bloße Selbstdarstellung der Ungarndeutschen hinaus.
Die ersten Vertreter der gegenwärtig produktiven Generation (Valeria Koch, Nelu Bradean-Ebinger) sind nach 1947 geboren. Mit ihnen verstummt die Schicht schreibender Arbeiter, sie sind Akademiker, aber keine hauptberuflichen Schriftsteller. Ihre Stellung innerhalb der ungarndeutschen Literatur beschreiben sie mit dem Motiv des Unterwegsseins.(8) Auch bei ihnen zieht sich die Suche nach sprachlicher und kultureller Identität wie ein roter Faden durch ihre Werke. Geschichte und Tradition fassen sie aber nicht bloß als etwas zu Bewahrendes, sondern mehr als etwas zu Entwickelndes, In-Frage-zu-Stellendes auf. Hier ist eine Akzentverschiebung zu beobachten: von der Wir-Dichtung der Alten zu der Ich-Dichtung der Jüngsten. Der bereits verstorbene Claus Klotz nimmt in seinem Werk eine kritische Stellung gegenüber der ungarndeutschen Wirklichkeit ein, lehnt trügerische Harmonisierungsversuche wie ohnmächtige Hingabe ab. In seinem "Ahnerls Lied" bringt er den Zweifel um die Möglichkeit und Notwendigkeit eines Neuanfangs zum Ausdruck.
"Schlaf, Kindchen, schlaf,
verstehst nicht meine Sprach,
die Märchen und die Sagen
und meine deutschen Fragen.
Schlaf, Kindchen, schlaf.Schlaf, Kindchen, schlaf,
bleib fleißig und schön brav,
zum Häusle bauen, Auto kaufen
wirst du meine Sprach nicht brauchen
Schlaf, Kindchen, schlaf. [...]"
Seine Kurzgeschichte "Das Zweiglein", die als Sinnbild ungarndeutscher Literatur verstanden werden kann und die der Anthologie der Jüngeren (1989) den Titel gab, fällt auch durch ihre Skepsis auf.
"Das Zweiglein brach ab. Niemand sah es, nur der Gärtner. Die Adern spritzten noch Blut zur Wunde, aber das Zweiglein wurde immer dürrer. Und der Gärtner war traurig.''
Valeria Koch betont die Wichtigkeit des Anschlusses an das europäische Schrifttum. Sie meint, ihre Generation sollte aus dem Erbe der vorangegangenen schöpfen, ihre "eigenen Erfahrungen dazufügen und eine Synthese auf höherem Niveau schaffen." Sie formuliert eine neue Aufgabenbestimmung an die ungarndeutsche Literatur: "Ihre Aufgabe ist gewiß die aller Literatur. Der Ausdruck der Gedankenwelt, der Gefühlswelt einer Gemeinschaft. Im vorliegenden Fall ist von der Gemeinschaft der Ungarndeutschen die Rede, das Bewußtmachen ihres Lebens mit den Mitteln der Kunst ist daher ihre Aufgabe. Aber Literatur wird nur dann aus ihr, wenn sie das einzelne überschreitet, das Niveau des Kuriosen der Nationalität und, obwohl sie ihre Eigentümlichkeiten bewahrt, auch befähigt ist zum Aufzeigen des Allgemeinen."(9) Es kann behauptet werden, daß sie diese gewünschte Synthese in ihren Werken auch verwirklichen kann. Ein wichtiger Strang in ihrem Schaffen ist die Thematisierung der Begegnung mit der Kultur der beiden Sprachgemeinschaften, denen sie sich zugehörig sieht. Sie fühlt sich Hölderlin, Rilke, Heidegger, Pilinszky, Bartók "seelisch verwandt".(10) Eine Zweisprachigkeit möchte sie erreichen, notabene nicht übersetzen, sondern souveräne Gedichte deutsch und ungarisch schreiben.(11) Dieser Generation ist gelungen, den Rahmen der engen Heimatbindung zu sprengen. Das bezeugt einerseits eine differenzierte Thematik, die Entfremdung, die zwischenmenschlichen Konflikte, das Intime im Kampf mit der bedrohlichen Weltlage melden sich neben nationalspezifischen Inhalten als zeittypische Probleme. Andererseits muß die sprachstilistische und formelle Vielfalt hervorgehoben werden, deren sich die Dichter bedienen. Sie verwenden freie Rhythmen, impressionistische, expressionistische Muster und experimentieren mit visuellen und lautlichen Effekten. In diesem Zusammenhang versuchen sie im Gegensatz zu den Älteren(12) die unvermeidbare Assimilation im positiven Sinne zu nutzen.
Die Zugehörigkeit zu der Minderheit ist für die Jüngsten dieser Nachkriegsgeneration (Martha Fata, Vata Vágyi) eine bewußte Entscheidung, die sie im Laufe ihrer intellektuellen Entwicklung getroffen haben. Sie suchen aber nicht mehr im Namen einer Gemeinschaft zu sprechen oder kollektive Erfahrungen zu artikulieren. Sie schreiben von subjektiven Erkenntnissen ausgehend, in eigenem Namen. Fraglich ist, ob diese Literatur die ungarndeutsche Nationalität repräsentieren kann (oder will).
Diese kurze chronologische Darstellung gewährte einen Einblick in einen literarischen Prozeß, der wegen seiner Unabgeschlossenheit zur Zeit nur hypothetisch in der Formel "Von ungarndeutscher Literatur zur deutschsprachigen Literatur Ungarns" zusammengefaßt werden kann. In die Erörterung dieser Problematik muß man aber auch die Aspekte des Leseverhaltens der Rezipienten einbeziehen. Die Versuche, die die Erforschung dieses Gebiets erzielen, stießen zunächst auf Schwierigkeiten.(13) 1987 sind in der "Neuen Zeitung" Fragebögen mit diesem Schwerpunkt erschienen, in die Redaktion sind insgesamt fünf ausgefüllt eingesandt worden. Es sollten Befragungen unternommen werden, um die Gründe zu klären. Das Ergebnis: die ungenügenden deutschen Sprachkenntnisse und das Fehlen einer abstrakteren Lexik als jener des alltäglichen Sprachgebrauchs. Kommunikationsbarrieren gibt es aber auch auf der Seite der Produzenten. Wie gesagt, haben sich die Älteren auf einen sehr engen Adressatenkreis eingestellt. Obwohl sie die gemeinschaftlichen Richtlinien betonen, verlieren auch sie ihr Publikum manchmal aus den Augen. Georg Wittman äußert seine Bedenken: "... daß die Leserschaft des Deutschen Kalenders, die kleinere Leserschar der Neuen Zeitung und die noch kleinere Gruppe der Leser von Büchern, Erzählungen zu meinem Publikum gehören (...) kann ich nur hoffen aber nicht sehen".(14) Im Falle der Ich-Dichtung der Jüngsten ist das Risiko, den Kontakt mit dem Publikum zu verlieren, noch größer. Diese immer weitere Kluft möchten die Autorenlesungen und die Leselager überbrücken, wobei nicht verschwiegen werden darf, daß es manchmal beide Parteien als "ein wenig erzwungen" erleben.(15)
Die Motivation und die Erwartungen der Leserschaft widerspiegeln offensichtlich vielfältige Abhängigkeiten. Nur noch bei den Ältesten ist die Ansicht anzutreffen, daß Lesen etwas Unnützes sei. Diese Meinung kann aber auch aus historisch-politischen Ereignissen abgeleitet werden, die die Ablehnung jeglicher Beschäftigung mit Nationalitätenfragen zur Folge hatten. Die älteren Befragten (damals zwischen 40-75 Jahren) gaben an, fast ausschließlich ungarische Zeitungen zu lesen und Probleme mit dem Verstehen literarischer Texte zu haben. Einer von ihnen meinte, die ungarndeutschen Autoren sollten all ihre Werke ungarisch verfassen bzw. ins Ungarische übersetzen, damit wirklich jedem Ungarndeutschen die Möglichkeit gegeben wird, die eigene (?) Literatur zu verstehen. Deutsch lasen im allgemeinen diejenigen, die Deutschlehrer waren oder ein besonderes Interesse für das Ungarndeutschtum hatten. Die jüngeren Generationen berichteten, daß sie nur ausnahmsweise deutschsprachige Bücher in die Hand nehmen, weil diese zu lesen trotz ihrer mehr oder weniger guten Sprachkenntnisse "viel anstrengender" sei als ungarische Lektüre. Die Frage, ob die Existenz einer ungarndeutschen Literatur überhaupt wichtig sei, beantworteten die meisten Älteren mit Ja, die Jüngeren waren von ihrer Relevanz nicht sehr überzeugt. Augenfällig ist, daß beide Gruppen eine sprachpflegerische Wirkung für wichtig erachteten. Die Jüngsten antworteten aber fast eindeutig mit Nein, sie betrachten sich nicht einmal als potentielles Publikum, Die Toleranz den Schwächen dieser Literaturproduktion gegenüber ist dementsprechend bei den älteren Lesern viel größer, sogar moderne Gedichte finden bei ihnen Interesse, sie finden sie "schön". Wogegen die mittlere und jüngere geschulte Publikumsschicht wenig Verständnis für "dilettantische" Versuche aufbringt. Als Fazit läßt sich sagen, daß die ungarndeutsche Literatur von einer verschwindenden Minderheit gelesen wird, der Verlust ehemaliger Muttersprachenkenntnisse manifestiert sich in einer Art Gleichgültigkeit.
Diese bescheidene Nachfrage beeinträchtigt das auch sonst nicht sehr vielschichtige Angebot des ungarndeutschen Büchermarktes. Die Gattungswahl erstreckt sich vor allem auf die Lyrik und die Prosa. Die erste kann (dank der jüngeren Generation) als relativ vielfältig bezeichnet werden. Die letztere zieht kleine, traditionell erzählende Formen vor. Anekdoten und Dorfgeschichten sind in der Mundartlieratur beliebt, zu erwähnen sind noch die hochsprachigen Erzählungen, denen oft Dialoge dramatische Ausdrucksstärke verleihen und die Kurzgeschichten. Obzwar viele Autoren beabsichtigen, über ungarndeutsche Schicksale auch in epischer Breite zu schreiben, hat der Roman in dieser Literatur noch keinen Platz gefunden. Ebensowenig das Drama; auf dem Spielplan der Deutschen Bühne in Szekszärd stehen keine ungarndeutschen Werke.
Trotzdem bleibt festzuhalten, daß es nicht an Publikationsmöglichkeiten fehlt. Als Periodika gelten die "Neue Zeitung", ihre seit 1985 jährlich erscheinende Literaturbeilage "Signale" und der Deutsche Kalender. Nach den Anthologien der Anfangszeit, die mit dem Verzicht auf ein eigenständiges Profil breite Publikumsschichten zu erreichen suchten, nimmt die Zahl der Einzelveröffentlichungen zu. Die deutschsprachigen Rundfunk- und Fernsehsendungen bringen auch regelmäßig Werke ungarndeutscher Autoren zu Gehör, wobei einschränkend gesagt werden muß, daß es fast nie zu Weiterverarbeitungen kommt. Immerhin: was in den letzten 25 Jahren geschrieben wurde, konnte auch veröffentlicht werden.
Für die weitere Existenz der ungarndeutschen Literatur ist nicht nur die Rückmeldung des Publikums sondern auch eine vermittelnde Literaturkritik von Belang. Die Interessenvertretung der Autoren übernahm zunächst (1954) der "Kulturverband der Deutschen Werktätigen in Ungarn", eine staatlich gelenkte Organisation, die lange Zeit ebenso wie die Nationalitätenliteratur als Vorzeigeobjekt für eine "mustergültige Minderheitenpolitik" galt. Ihr darf man aber so wichtige Initiativen wie das Preisausschreiben 1973 doch nicht abstreiten. Die literarische Sektion des Verbandes, ihre Werkstattgespräche und ihr Organ, der in unregelmäßiger Folge (zwischen 1977-85 5 Hefte) erscheinende "literarische Rundbrief" konnten die fehlende Literaturöffentlichkeit nicht ersetzen, es drohte vielmehr eine hermetische Zirkelbildung. Die ungarische Literaturkritik interessiert sich nach wie vor eher für das Schaffen ungarischer Minderheiten jenseits der Grenzen. In den deutschprachigen Ländern war eine grundsätzliche Zurückhaltung zu beobachten, ihre Literaturwissenschaft thematisierte, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Problematik deutscher Minderheitenliteraturen mit großen Vorbehalten. Manche erklären diese als historisch begründete Zurückhaltung, die auf den "Sündenfall der Germanistik" im Dritten Reich zurückzuführen sei; andere nennen sie Ignoranz, Folge von Unkenntnis und Bequemlichkeit.(16) Seit dem politischen Umbruch in Osteuropa und der damit verbundenen kulturellen Neuorientierung bringt man der Frage mehr wissenschaftliches Interesse entgegen. Die Öffnung ist gegenseitig, auch der 1990 gegründete "Verband Ungarndeutscher Autoren und Künstler" setzt sich betont interkulturelle Ziele: er ist bestrebt, das deutschsprachige Schriftum im Karpatenbecken zu dokumentieren und der Öffentlichkeit bekanntzumachen, die literarische Zusammenarbeit mit den deutschen Minderheiten und mit den deutschsprachigen Ländern zu pflegen.(17) Paradoxerweise muß parallel auch die literarische Auseinandersetzung mit der ungarndeutschen Vergangenheit und Gegenwart gefördert werden; Valeria Koch beklagt das Nachlassen literarischer Aktivitäten.(18)
Die Autoren selbst haben eine ambivalente Einstellung zur Kritik. Als Beispiel sei hier Engelbert Rittinger erwähnt, der die Einwände eines bundesdeutschen Kritikers mit folgenden Worten ablehnt: "Denn wir schreiben ja nicht für jene Leute. Wir kennen ihre Probleme nicht, und sie kennen unsere nicht genügend."(19) Kritik aus eigenen Reihen hält er für notwendig und lehrreich, fügt aber hinzu, "daß Kritik oft falsch verstanden wird. Man fühlt sich beleidigt, statt nachzudenken."(20) Die ältere Generation wehrt sich gegen jede qualitative Forderung, mit der Losung, daß das Schreiben bei ihnen eine Hobbybeschäftigung sei. Diese Anspruchslosigkeit wurde traurigerweise oft auch von der Minderheitenpolitik unterstützt. Unter solchen Umständen gibt meistens die Kritik nach, bringt Einwände sehr behutsam zur Sprache. Man versucht eher, diese Literatur soziologisch zu erfassen und sie aus diesem Hintergrund zu verstehen und verständlich zu machen.
© Eszter Propszt (Szeged)
Anmerkungen: Literatur
(1) zitiert nach. Johann Schuth: "10 Jahre Literarische Sektion: 7 Bücher in 17000 Exemplaren". In: Ungarndeutsche Literatur der siebziger und achtziger Jahre: Eine Dokumentation. Ed. János Szabó und Johann Schuth. Südostdeutsches Kulturwerk. München, 1991. S.63-65.
(2) Vgl. Jürgen Engler: Ungarndeutsche Literatur oder deutschsprachige Literatur Ungarns?" In: Ungarndeutsche Literatur der siebziger und achtziger Jahre. S.124-134.
(3) Oskar Metzler: Gespräche mit ungarndeutschen Schriftstellern. Lehrbuchverlag. Budapest, 1985. S.28.
(4) zittert nach: Andreas Seifert: "Über das Bedingungsgefüge der neuesten ungarndeutschen Literatur". In: Ungarndeutsche Literatur der siebziger und achtziger Jahre. S.188-203.
(5) Vgl. Metzler a. a. 0. S.17.
(6) Vgl. János Szabó: "Die ungarndeutsche Gegenwartsliteratur". In: Ungarndeutsche Literatur der siebziger und achtziger Jahre. S.211-226.
(7) Metzler a. a. 0. S.92.
(8) Vgl. Metzler a. a. 0. S.107., S.197.
(9) zitiert nach: Andreas Seifert a. a. 0.
(10) Metzler a. a. 0. S.108.
(11) Metzler a. a. 0. S.118.
(12) Vgl. "Wer sind wir eigentlich? Gespräch mit Engelbert Rittinger". Neue Zeitung 33 (1991). 2. oder Nikolaus Márnai-Mann: "Assimilation und Identitätsbewußtsein". Neue Zeitung 49 (1991). S.12.
(13) Vgl. Susanne Breier: "Die ungarndeutsche Literatur und ihr Publikum". Signale 5 (1988). S.5-7.
(14) Metzler a. a. 0. S.133.
(15) Metzler a. a. 0. S.28.
(16) Vgl. Otto Norbert Eke: "Die deutschsprachige Literatur Osteuropas und ihre Rezeption in der Bundesrepublik: Problem und Chancen einer 'kleinen Literatur'". Neue Zeitung 29 (1990). S.8-9.
(17) Vgl. Johann Schuth: "Zur Standortbestimmung der ungarndeutschen Literatur". Signale 7 (1990). S.1-3.
(18) Valeria Koch: "Ebbe und Flut". Signale 12 (1995). S.1.
(19) Metzler a. a. 0. S.44.
(20) Metzler a. a. 0. S.48.
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Quellen der Zitate:
Schuth, Johann, ed. Das Zweiglein: Anthologie junger ungarndeutscher Dichter. Lehrbuchverlag.
Budapest, 1989.
Szende, Béla, ed. Jahresringe: Ungarndeutsche Anthologie. Lehrbuchverlag.
Budapest, 1984.
Sekundärliteratur
Biechele Werner: "Nationalitätenliteraturen und ihm Rezeption in der Literaturwissenschaft der DDR: Gedanken zu einem aktuellen Thema.'' Neue Zeitung 30 (1990) S.8-9.; 31 (1990) S.7.
Brantsch Ingmar: "Chancen und Grenzen der Regionalliteratur am Beispiel der ungarndeutschen Literatur nach dem 2. Weltkrieg." Neue Zeitung 34 (1992) S.4-5.; 35 (1992) S.6-7.; 36 (1992) S. 6-7.
Breier Susanne: "Die ungarndeutsche Literatur und ihr Publikum." Signale 5 (1988) S.5-7.
Eke Norbert Otto: "Die deutschsprachige Literatur Osteuropas und ihre Rezeption in der Bundesrepublik: Probleme und Chancen einer 'kleinen Literatur'. Neue Zeitung 28 (1990) S.6-7.; 29 (1990) S.8-9.
Gottzmann Carola L.: ed. Unerkannt und (un)bekannt.- Deutsche Literatur in Mittel- und Osteuropa. Francke. Tübingen, 1991.
Hofer-Gut Beatrice: "Eine Minoritätenliteratur im Wandel: Die ungarndeutsche Dichtung zwischen Tradition und Moderne." Neue Zürcher Zeitung 66 (1994) S.70.
Koch Valeria: "Ebbe und Flut", Signale 12 (1995) S.1.
Márnai-Mann Nikolaus: "Assimilation und Identitätsbewußtsein." Neue Zeitung 49 (1991) S.12.
Metzler Oskar: Gespräche mit ungarndeutschen Schriftstellern. Lehrbuchverlag. Budapest, 1985.
Ritter Alexander: ed. Deutschsprachige Literatur im Ausland. Vandenhoeck und Ruprecht. Göttingen, 1985.
Schuth Johann: "Zur Standortbestimmung der ungarndeutschen Literatur." Signale 7 (1990) S.1-3.
Szabó János und Johann Schuth: eds. Ungarndeutsche Literatur der siebziger und achtziger Jahre: Eine Dokumentation. München: Südostdeutsches Kulturwerk, 1991.
"Wer sind wir eigentlich? Gespräch mit Engelbert Rittinger." Neue Zeitung 33 (1991) S.2.
Webmeisterin: Angelika Czipin
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