Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 4. Nr. Juni 1998

Kulturforschung zwischen Interkulturalität und Transdisziplinarität

Penka Angelova (Veliko Tirnovo)
[BIO]

Mein Leben ist nichts als ein verzweifelter Versuch, die Arbeitsteilung aufzuheben und alles selbst zu bedenken, damit es sich in einem Kopf zusammenfindet und darüber wieder Eines wird.(Canetti, Aufzeichnungen 1943)

Oder sind die Buchstaben und Zahlen etwa Netze, die wir auswerfen, um Sachen zu fischen, wobei alle unbeschreibbaren und unzählbaren Sachen entwischen? Oder gar: Haben die ausgeworfenen Buchstaben- und Zahlennetze aus einem unförmigen Brei dort draußen überhaupt erst beschreibbare und zählbare Sachen geformt? Diese letzte Frage legt nahe, daß sich im Grunde die Wissenschaft gar nicht so sehr von der Kunst unterscheidet. Buchstaben und Zahlen funktionieren wie Meißel bei der Bildhauerei, und die Wirklichkeit dort draußen ist der Marmorblock, aus dem die Wissenschaft ein Weltbild meißelt.( V. Flusser, Die Schrift)

1. Über die Situation in der Literatur

In der Literatur geschieht nichts mehr, es geschieht an den Randgebieten und in den Grenzzonen der Literatur. Dies sind Grenzzonen mit verschiedenen Wissenschaften - mit der Soziologie, mit der Psychologie und der Psychiatrie, mit der Psychoanalyse und der Medizin, mit der Historiographie und der Rechtswissenschaft, mit Musik, Philosophie, Architektur, Anthropologie, Theologie, Politik etc.etc. Und so ist Literatur ein Gebiet, das aus lauter Grenzübergängen und Grenzsituationen besteht, die ineinander übergreifen und sich gegenseitig verflechten und die einzig mit dem Begriff des Wissens vom Menschen oder der Wissenschaften vom Menschen zu umfassen sind.

In der Literatur spielt sich aber das Drama dieser Grenzüberschreitungen ab: man nennt es manchmal Intertextualität. Am Beispiel der Erforschungen der intertextuellen Bezüge kann das historische und geographische Bezugsfeld eines künstlerischen Werkes abgesteckt werden, seine geistigen Verbindungen können verfolgt werden. Hier überschneiden sich Intertextualität mit Interkulturalität, da die geistigen Verbindungen auch Querverbindungen durch die verschiedenen Kulturräume sind und neue Werke hervorbringen, die ihrerseits auch einem bestimmten Kulturraum(1) angehören oder ihm sprachlich anvertraut werden. Die ganze Literatur ist ein Befund über solche Querverbindungen nicht nur innerhalb der literarischen Tradition sondern an den besagten Grenzgebieten.

Zwei exemplarische Beispiele:

Befragt über ihr Land und ihre Beziehung dazu, bekennt sich Ingeborg Bachmann in einem Interview zu einem Land, "das keines ist", das jedoch mit einer geistigen Formation verbunden, in der sie selber aufgewachsen sei und zu der sie eine "größere Intimität" empfinde:

Vor allem zur Literatur, Musik und Wissenschaft dieses Jahrhunderts. Denn selbst zu deutschen Autoren, vor denen ich Respekt habe, finde ich keine Beziehung. Natürlich aber zu Musil, Kafka, zu Weininger, Freud, Wittgenstein und so vielen anderen. (2)

In zahlreichen Studien ist die Intertextualität auch mit den benachbarten Fakultäten (Weininger, Freud, Wittgenstein, Musil) in Bachmanns Werk untersucht worden. Doch diese Intertextualität ergibt selber ein Gewebe, welches nur auf einem vordergründigen Niveau literarisch zu interpretieren ist. Es mischen sich hier auch andere Künste und Wissenschaften ein, andere Disziplin- und Methodenansätze.

Bei der Untersuchung von Elias Canettis Masse und Macht hat man dieses Werk in keine einzige Sparte der Wissenschaft einordnen können und die einzig annehmbare Bestimmung einer ästhetischen Anthropologie (Dagmar Barnouw) deutet die bislang befriedigendste Verbindung zwischen Literarizität und Wissenschaftlichkeit an. Diese Verbindung ist auch im Roman Die Blendung nachzuweisen und auffallend ist, daß die meisten Mißverständnisse von Canettis Werk durch die Nichtberücksichtigung der Erzähl- bzw. Berichtperspektive, die auch in Masse und Macht präsent ist, hervorgegangen sind.

Das zweite Beispiel weist nach, daß auch angeblich nicht literarische im engeren Sinne des Wortes, nicht fiktionale Texte als Texte philologisch zu betrachten und auszulegen sind, daß Exegese sich allgemein auf Texte bezieht und Texte im semiotischen Sinn sind Zeichen unterschiedlichsten Charakters aus verschiedenen kulturellen Bereichen. So ist auch Nietzsches Schaudern vor dem Abgrund der Philologie im doppelten Sinne des Wortes – als unermessbare und unergründbare Tiefe und als Gefahr der Bodenlosigkeit - zu verstehen: „Wie? Das Wunder nur ein Fehler der Interpretation? Ein Mangel an Philologie?"(3)

2. Die Situation in der Literaturwissenschaft

Die Welt ist nur über die sprachbildende Kraft des Menschen zu verstehen. Die Hirnforschung der letzten Jahrzehnte hat ausdrücklich nachgewiesen, daß das menschliche Hirn keine Bilder, sondern sprachlich-prägende Informationen verarbeitet. So tritt die Sprache als weltbildende und weltbegrenzende Kraft und ihre Untersuchung in den Mittelpunkt der Betrachtungen und der "Mangel an Philologie" scheint die Ursache für die Verzauberung der Welt zu sein. Die "Entzauberung der Welt", die von Max Weber als Vertreibung des Mythos vertstanden wurde, sollte in diesem nietzscheanischen Sinn durch den analytischen philologischen Verstand erfolgen. Die Philologie sollte jedoch in diesem Sinne nicht trennen und entfremden, sondern die getrennten Sparten vereinigen, amalgamieren.(4)

Die Figur der Amalgamierung beschwört die Utopie des Erkennens, Begriff und Mimesis, Wissenschaft und Gestaltung in einem zu sein. Es soll dabei nicht bei einer philologischen Kleingärtnerei bleiben, sondern die Wirklichkeit der geistigen Erfahrung soll in sprachlicher, struktureller, systematischer, gesellschaftskritischer und onthologischer Hinsicht behandelt werden.

Auch hier zwei exemplarische Beispiele: Albrecht Schöne und Viktor Klemperer

In einer wegweisenden Studie über die "Säkularisation als sprachbildende Kraft" untersucht Albrecht Schöne die Dichtung deutscher Pfarrersöhne in der zweiten Hälfte des 18. Jhdts., und stellt fest, daß deren Sprache "als Transformation oder Kontrafaktur des liturgischen, biblischen oder sakralen Sprachniveaus" zu verstehen sei.(5) Hier wird also eine soziale Gegebenheit untersucht, die über den eng biographischen Ansatzpunkt hinausgeht. Schmidt-Dengler beobachtet eine ähnliche Erscheinung in der österreichischen Literatur nach 1945, in der auch "ein Wechsel in der Herkunft ihrer wichtigsten Repräsentanten auszumachen", eine Literatur "österreichischer Bauernsöhne" entstanden und eine Vorliebe für die sakrale Sprache festzustellen sei:

Die Klosterschule, das vorwiegend von geistlichen Lehrern geleitete Gymnasium ist aber nicht allein die Ursache dafür, daß die transformierte liturgische und sakrale Sprache eine so zentrale Rolle in der österreichischen Literatur auch der siebziger Jahre spielt. Hier wäre eine Hypothese zu bemühen, die sich etwa so fassen läßt: Die erste Sprache, die diese Generation außer einer bloß pragmatisch determinierten erfuhr, war die Sprache der Liturgie, des Gebets. Eine Sprache, die in ihrem Vokabular vertraut war, zugleich aber einige jener Einschlüsse enthielt, die diese nahe Sprache zu einer fremden machen. Diese Sprache ist gebunden an das Ritual, an die Wiederholung. Liturgie ist auch das Moment, das den meisten Texten Bernhards und Handkes eine prägende Rolle gibt.(6)

Diese soziologische und sprachsoziologische Herangehensweise drängt sich auf durch die Besonderheiten des Stils oder der Thematik im Wandel der Zeit, die über die einzelnen biographisch-subjektiven Besonderheiten hinausgehen. Andererseits ist in den letzten Jahrzehnten viel die Rede vom "mit dem Körper schreiben", "Schreiben als Tätigkeit, die rein körperlich verstanden wird, es wird mit dem Körper auf Körper geschrieben".(7)

Diese Beispiele zeugen von einer Herangehensweise, die über die Untersuchung des Individualstils und über die textimmanenten Verfahren hinausgehen und eine Hermeneutik anstreben, die multiple Ansätze aus der Historie, der Soziologie, der Psychologie, bzw. Psychoanalyse vergegenwärtigen.

Die aufgeführten Beispiele lassen ersehen, daß einerseits Intertextualität der literarischen Texte sich einzig durch Interdisziplinarität genügend ermitteln läßt, daß andererseits die multiple Herangehensweise eine notwendige Voraussetzung für das Verständnis von literarischen Werken im einzelnen und von künstlerischen Artefakten und kulturellen Erscheinungen im allgemeinen ist. Intertextualität läßt sich durch Interdisziplinarität entziffern.

Das zweite Beispiel zeugt von einem entgegengesetzten Weg der interdisziplinären Wirkungen: Während bei Schöne und Schmidt-Dengler die anderen Wissenschaften in der Philologie hilfereichend mitspielen, haben die philologischen Untersuchungen von Viktor Klemperer(8) die entscheidende Anregung für die Erforschung der massenkonsolidierenden Verdummungs- und Wirkungsstrategien des Dritten Reiches gegeben. Diese philologische Herangehensweise wurde dann auf anderen Textniveaus auf die Systemforschung angelegt und führte zu entscheidenden Erkenntnissen über die totalitären Systeme. "Die Wunder", die die totalitären Verdummungsstrategien erreicht hatten, wurden durch den analytischen philologischen Verstand "entzaubert", ihres Zaubers entblößt. Hier läßt sich die philologische Herangehensweise als ein Mittel zur Erforschung von politischen Systemen, allgemein-kulturellen Erscheinungen und historischen Begebenheiten ermitteln. Somit geht sie über ihre enge Fachgrenzen hinaus und erweist sich als ein, die verschiedenen kulturellen Erscheinungen amalgamierendes Paradigma.

Einzig in der Historiographie hat man über ihre enge Beziehung mit der Literatur reflektiert und nicht zufällig gingen die Historiker-Debatten um Geschichtsschreibung und Geschichtsphilosophie in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts um Kosellek und das interdisziplinäre Projekt in Bielefeld um die Narrativität der Geschichte und den Zusammenhang von Geschichte, Geschichten und Erzählen und man hat die philologische Herangehensweise bei Ermittlung von historiographisch-narrativen Strategien bemüht. Schon Ranke hatte im 19. Jhdt festgestellt:

Die Historie unterscheidet sich dadurch von anderen Wissenschaften, daß sie zugleich Kunst ist. Wissenschaft ist sie: indem sie sammelt, forscht, durchdringt; Kunst, indem sie das Gefundene, Erkannte wiedergestaltet, darstellt. Andere Wissenschaften begnügen sich, das Gefundene schlechthin als solches aufzuzeichnen: Bei der Historie gehört das Vermögen der Wiederhervorbringung dazu.

Als Wissenschaft ist sie der Philosophie, als Kunst der Poesie verwandt.(9)

Rankes Konfiguration des Historismus zeugt von einem anregungswürdigen Reflexionsvermögen, welches jedoch über die eigenen Fachgrenzen nicht hinausgehen kann und im Spannungsfeld von Nation und Geschichte verbleibt. Jedoch ist es umso bemerkenswerter, daß diese Reflexion über die Grenzen und Möglichkeiten des eigenen Faches schon im 19. Jhdt. beginnt. Die Bedeutung von Narrativität, narrativen Erzählstrategien und Erzählerstandpunkt für die anderen Geisteswissenschaften scheint noch nicht genügend untersucht worden zu sein und das Beispiel von Mißverständnissen in der Auslegung von Theorien und ständig neuen Exegeseversuchen zeugen davon, daß die narrativen Strategien nicht berücksichtigt werden, daß viele angeblichen Wunder bloß ein "Mangel an Philologie" sind.

 

Literaturhistorischer Exkurs aus der braun-roten Zeit:

Dies ist natürlich keine umwerfend moderne Entdeckung - sowohl die braune als auch die rote(10) Zeit hatten sie entdeckt und setzten die Philologie in ihren Dienst. Die neuesten Untersuchungen über die Rolle der Germanistik und der Germanisten im Dritten Reich zeugen von der führenden Rolle der Germanistik und der Germanisten, die ihnen zugesprochen wurde, wie dies der Fall Schneider/Schwerte(11) beweist. Die Ideen von der "Germanisierung" von Kultur und Wissenschaft, vom "Totale(n) Kriegseinsatz der Wissenschaft"(12) sind sowohl Resultat als auch Auslöser einer fachübergreifenden Funktion der Germanistik im Dienste einer Amalgamierung von Nationalismus und Philologie.

Auch die Literaturgeschichtsschreibung am exemplarischen Beispiel von Josef Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften als "negative Repräsentativität des ideologischen Regionalismus" und "stammesgeschichtliche Konzeption" von Norbert Mecklenburg(13) aufgedeckt, zeugen von jener zweckorientierten Narrativität in der die Verwandlung der Literaturgeschichtsschreibung in einen "historischen Roman" wie Walter Muschg sie treffend formuliert hat und die "Verwandlung eines riesigen Zettelkastens in ein Heldenepos - mit den deutschen Stämmen, nicht Dichtern als Helden - beruht vorwiegend auf Ideologie und Rhetorik."(14)

Auch der weniger bekannte Fall von dem "Einsatz junger Germanisten im militärischen Geheimdienst der USA"(15) zeugt von der Vorreiterrolle, die der Germanistik/bzw. den Germanisten im politischen Machtkampf auch im Ausland zugesprochen wurde.

Hier möchte ich ausdrücklich betonen, es geht bei einer Untersuchung der Rolle von philologischen Methoden und im einzelnen der Rolle der Germanistik bei der Erforschung von Kulturphänomenen um eine Klärung nicht der Grenzen und Möglichkeiten der Philologie, sondern um ihre Zweckbestimmung, um ihren Mißbrauch und die falsch eingesetzte Rhetorik. Das Konzept einer historischen "Kulturraumforschung", wie es bereits Aubin/Frings/Müller(16) entwickelt hatten, die struktur-funktionale Betrachtungsweise für Erforschung von regionalen Literaturen von Renate von Heydebrand zeugen von der dringenden "Notwendigkeit, ästhetische und 'ethisch-soziale' Wertkonzepte zu kombinieren", "Konzepte der Kontinuität durch lange Zeiträume ('Kulturerbe', 'longue duree'), der Kollektivität von Verhaltensmustern, Denkstrukturen und Wertorientierungen (mentalité)" in Zusammenhang mit anderen Geisteswissenschaften herzustellen.(17)

Die Negativität der Erfahrung vom Einsatz der Germanistik und der Germanisten im Dritten Reich spricht nicht von falschen Strategien, sondern von falschen Zielsetzungen und Zweckbestimmungen der Philologie, von der Verschmelzung zwischen Nationalismus, bzw. Antisemitismus und kriegspolitischen Ideologien mit den Aufgaben der Philologie. Nicht zufällig hat Josef Nadler zeitlebens in zahlreichen Bekundungen seine Literaturbetrachtung als soziologisch betrachtet, und ich würde sagen, mit der kleinen Differenzierung, die ich hinzufügen möchte, wäre ihm das als eine national-soziologische Herangehensweise abzukaufen. Nicht die soziologische Komponente fehlt, sondern die nationalistisch-antisemitische ist viel zu viel.

Ich möchte diesbezüglich auf ein weiteres Paradoxon hinweisen: Emil Staiger und der totale Ideologieverdacht.

Emil Staigers Mitglieds- und Mittäterschaft in der "nationalen Front" und in der nationalistischen Germanistik, sein Heischen um "Zustimmung für den Terror der neuen Machthaber" ist erst in den letzten Jahren öffentlich behandelt worden.(18) Die "immanente Interpretation" dagegen war ein Versuch, von der Ideologie und dem Nationalismus auf eine theoretische Art wegzugehen, nicht indem man das alte Denkschema umstülpt und es mit neuen Aktanten besetzt, sondern durch eine neue emanzipatorisch-immanente Auffassung von der Literatur.

Als der Nationalphilologie die Nation abhanden gekommen war, abstrahierte Staiger mit aller Konsequenz von den nationalen Kategorien. Daß er seine Methode nicht historisch begründete, sondern in der Existenzialontologie zu verankern trachtete, machte sie blind für ihre eigenen Voraussetzungen.(19)

Eine ähnliche Situation einer Ideologieflucht und später eines totalen Ideologieverdachts ergab sich kurz vor und nach der Wende in der DDR-Literaturwissenschaft bei den Versuchen eines interdisziplinären, sprach- und literaturwissenschaftlichen Deutungsansatzes(20), der dem Wissenschaftler Möglichkeiten für textinterne Interpretation mit sprachwissenschaftlichen Mitteln und durch Ideologieflucht oder Ideologieumgehung anbot. Unter den Bedingungen des noch funktionierenden "Systems" konnte dieser Versuch jedoch auch als Ideologieverweigerung angesehen werden und das war er teilweise auch. Einen anderen Ansatz in der Literaturwissenschaft bot die Arbeitsgruppe an der Rostocker Universität, die Modelle von struktur-funktionaler Analyse anstrebte.(21) Nur das s.g. Friedens-Projekt von Ursula Heukenkamp versuchte den Anforderungen der Zeit nicht durch Ideologieflucht oder -Umgehung, sondern durch Erforschung von Denkstrukturen und Denkweisen, durch Umdenken und durch Friedensdenken entgegenzukommen. Daß gerade dieses Neue Denken nach der Wende scheiterte und viele Wissenschaftler sich durch Austausch der Gegenstände anpaßten und ihre alten Denkstrukturen nur aufputzten oder der totale Ideologieverdacht ausgebrochen war, ist ein Resultat dieser Zeit, an welchem wir alle teilhaben, da wir alle auch an den Schäden dieser Zeit zu tragen haben. So ist es z.B. in Bulgarien immer noch nicht möglich, von Sozialgeschichte zu reden, ohne als Marxist verdächtigt zu werden, während die national(istisch)e Geschichtsforschung sich sogar unter dem Deckmantel der "inneren Opposition" zu kommunistischen Zeiten verhüllt, da sie nationalistisch gegen die sowjetische Hegemonie gewesen sei. Die negativen Extreme reichen sich manchmal die Hand gegen das Humane.

Es geht also in dieser Schlüsseldisziplin, in der Philologie, vor allem um Moral, um Ethik, um Verantwortung. Verantwortung vor wem?

Über die "Freiheit der Wissenschaft" und das "Prinzip Verantwortung"

Brauchbare Ansätze für die "Freiheit der Wissenschaft" und das "Prinzip Verantwortung" können wir an mehreren Stellen finden. Wir können die Gesellschaft, ihre Umgliederung und ihre Geschichte als eine Geschichte des Geistes und der Kultur betrachten. Gerade die Vielfalt der Kulturen zeigt uns, dass wir es mit einer Vielzahl von Geschichten und von Geistesgeschichten zu tun haben, deren Tatsachen und Wertetafeln es uns ansteht, zu analysieren, um nach jener Ganzheit zu fragen, die die Menschheit und ihre humanen Überlebenschancen ausmachen. Erst wenn wir die Menschheit und die Welt als ein Ganzes betrachten, das aus der Vielfalt und Diversität seiner Bestandteile, der einzelnen Kulturen und Gesellschaften besteht, als Ganzes, welches in sich in Zusammenhängen gegliedert ist, und von diesen Gliedern vertreten wird in der Wechselwirkung verschiedener Subjekte im allgemeinen Kontext eines objektiven Ganzen und eines objektiven Geistes, können wir die multiple Perspektive sowohl auf das Ganze, als auch auf seine Bestandteile behalten und uns der Objektivität unserer Betrachtung um einen Schritt nähern. Auf diese Weise werden die Subjekt-Objekt-Beziehungen und ihre Widersprüche auf eine neue Art gesehen und gewertet und es wird eine Möglichkeit gegeben, den nachromantischen Historismus des 19. Jahrhunderts und die historistisch-nationalistische Mythenbildung zu überwinden.

Bei einer solchen in sich ganzheitlich gegliederten Betrachtung der Welt ist es angebracht, die amalgamierende Rolle der Philologie für die Deutung der Welt in Betracht zu ziehen. Wir haben gesehen, daß die Methodengeschichte der Germanistik bzw. der Philologie eng mit der Institutionengeschichte zusammenhängt und oft von ihr vereinnahmt worden ist. Bei einer solchen "Vorreiterrolle der Germanistik", die auch die Marbacher Tagung vom Juli 1996 über "Fächergrenzen. Deutsche Philologie und Kulturwissenschaften um 1900"(22) der deutschen Philologie unumwunden anerkannt hat, ist noch mehr nach der Moral und dem Ethos des Philologen und seiner Verantwortung vor der Gesellschaft und der Menschheit zu fragen. Wenn die Philologie am ganzheitlichen Exegese-Programm der Welt beteiligt ist, sollte sie sich auch vor dem Ganzen und nicht vor seinen Teilen verantworten und sich von ihrer nationalen Bindung lösen. Denn die Frage nach der Verantwortung des Wissenschaftlers - es wurden meistens Physiker und Gentechnologen gemeint - ist seit Jahrzehnten im Mittelpunkt der Wissenschaftsforschung und der schöngeistigen Literatur gewesen, die Verantwortung des Philologen vor der Welt und vor der Menschheit wurde jahrzehntelang unterschätzt, weil ihr volles und richtiges Ausmaß abschreckend gewesen ist, weil es dabei nicht nur um Aufarbeitung von Vergangenheit geht, sondern auch um darüber hinausgreifende Denkstrukturen und Systemumschleichungen oder Systemunterstützungen, vor denen man gerne die Augen schließen will. Bei diesen Ausführungen geht es mir nicht ums Moralisieren mit dem erhobenen Zeigefinger, sondern um "ethische Gewichtung", um die Erforschung des "Prinzips Verantwortung", wie das Hans Jonas nennt, denn "Die Verantwortung ist letzte Instanz".(23) Wenn man die großen Denker des 20. Jahrhunderts betrachtet, die über die fachübergreifenden Ansätze der Literaturwissenschaft hinausgegangen sind - Benjamin, Adorno, Broch, Musil, Canetti - so ist ein "synthetisches Interpretieren", wie es von Endre Kiss(24) gefordert wird, wohl am Platze, in dem jedoch die Vorreiterrolle der narrativen Herangehensweise und der Philologie anerkannt wird. Dies am Beispiel von Canettis "Masse und Macht" und seinen Aufzeichnungen zu belegen wird mein Versuch sein. Ich würde mich aber hüten, alle diese Erwartungen an ein Fach zu richten, auch wenn es neu sei, z.B. das zur Zeit magische Kraft ausstrahlende Wort von Kulturwissenschaften.

Gerade die hier geforderte engste Verflechtung einer Geistes- und Kulturgeschichte mit der politischen und sozialen Geschichte(25) stellt auch die Auslandsgermanistik, als welche wir uns verstehen, vor besondere Aufgaben. Einerseits ist literarische Rezeption gleichzeitig auch landeskundliche und kulturhistorische Erfahrung - setzt solche voraus und baut diese aus. Über literarische Werke, die nicht unbedingt historische Thematik haben, kann man manchmal mehr über die Geschichte eines Landes erfahren als aus den historischen Lehrbüchern. Andererseits hat die Auslandsgermanistik die Chance, durch die Außenperspektive am Beispiel von Differenzen und Überlappungen auch jene Besonderheiten herauszudifferenzieren, die vielleicht auch jenen geistes- und kulturhistorischen Hintergrund ausmachen, der der inländischen Literatur besonders eigen ist. D.h. durch interkulturelle und interdisziplinäre Forschung die Besonderheiten auszuarbeiten:

· Universalien und ihr historischer Hintergrund, ihre historische Variabilität - im Schnittpunkt von Zeit- und Raumperspektiven, d.h. von historischer und interkultureller Kulturraum-Forschung (Gemeint sind dabei Untersuchungen innerhalb eines Kulturraums, z.B. Mitteleuropa, Westeuropa, oder Europa insgesamt, oder zw. verschiedenen Kulturräumen - zwischen Mittel-und Westeuropa, zwischen Südost- und Mittel, bzw. Westeuropa; zwischen Europa und Asien, bzw. dem Fernen Osten oder Amerika.).

· Mißverständnisforschung als Kulturraumforschung. Dabei sind kulturelle Besonderheiten und Differenzen nicht unbedingt als stammesbiologische oder völkische Besonderheiten zu verstehen, sondern als historisch bedingte kulturelle Prägungen. Man sollte dabei an erster Stelle den kultur-sozialen Hintergrund für die Entstehung dieser Besonderheiten hinterfragen.

Ich würde für eine transdisziplinäre Herangehensweise plädieren, für eine Suche an den grenzüberschreitenden Gebieten der Philologie, an denen das Anderssein für den Philologen am deutlichsten zu spüren ist, und an denen die Transzendenzen der anderen Weisen der Welt transparent werden.

© Penka Angelova (Veliko Tirnovo)

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Anmerkungen:

(1) Der Begriff Kulturraum ist auch fließend und unbestimmt und kann sich sowohl auf regionale wie auch auf größere Kulturräume beziehen: z.B. die ineinandergeschachtelten Begriffe von westeuropäischem bzw. mitteleuropäischem, europäischem, euroasiatischem Kulturraum oder die nach Sprachen orientierten deutschsprachiger, angloamerikanischer, oder die nach Kontinenten orientierten Begriffsbildungen. In der Gegenwart fällt der Begriff des Kulturraumes immer seltener mit nationalen bzw. staatlichen Grenzen überein. Diese Neubestimmung und Neukonstituierung des Begriffes hängt auch mit jenen überregionalen und übernationalen Querverbindungen, die die Rezeption bestimmter Denker und Künstler in bestimmten Regionen fördern.

(2) Ingeborg Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews. Hrsg. von Christiane Koschel und Inge von Weidenbaum. München Zürich 1983, S. 79f.

(3) Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse.

(4) Vgl. Goethes Brief an Schiller: "Dieses wäre also, nach meiner Erfahrung, derjenige Punkt, wo der menschliche Geist sich den Gegenständen in ihrer Allgemeinheit am meisten nähern, sie zu sich heranbringen, sich mit ihnen (wie wir sonst in der gemeinen Empirie tun) auf eine rationelle Weise gleichsam amalgamieren kann". Diesen Hinweis verdanke ich dem Aufsatz von Vl. Sabourin: Zaubersprachen: Unlesbarkeit der Moderne. Weimar, Juli 1997.

(5) Albrecht Schöne: Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrersöhne. Göttingen: Vandenhoek&Ruprecht 1958 (Palaestra,226).

(6) Wendelin Schmidt-Dengler: "Im Zeichen des Kreuzes. Josef Winkler: Muttersprache", In: Bruchlinien, Residenz Verlag, 1996, S. 436f. Diese Hypothese hat sich nicht nur bei den österreichischen Bauernsöhnen, sondern auch bei dichtenden Bauerntöchtern, auch bei der Dichterin Margret Kreidl bewahrheitet, die aus einem kleinen Ort bei Salzburg kommt und deren Sprache auch eine liturgische Zelebration erotischer Spracherfahrung darstellt, Ritualisierung von Trivialstrukturen und liturgische Wiederholung von sprachlichen Konstrukten. In einem Gespräch über ihre sprachliche Sensibilität hat sie auf die Frage "Bist in die Kirch' gangen", bejahend erzählt, wie oft und gern sie mit der Oma zum kirchlichen Dienst gegangen sei.

(7) Schmidt-Dengler, ebda.

(8) Viktor Klemperer: LTI. Die Sprache des Dritten Reiches.

(9) Leopold von Ranke, Idee der Nationalhistorie, in: Vorlesungseinleitungen, hg. von Volker Dotterweich und Walther Peter Fuchs, München 1974.

(10) Über Stalins Beschäftigung mit der Sprache vgl. Klaus Steinke, Erlangen 1995.

(11) "Schneider/Schwerte" Autorenkollektiv für Nestbeschmutzung: Schweigepflicht. Eine Reportage. Der Fall Schneider und andere Versuche, nationalsozialistische Kontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte aufzudecken, Münster: Unrast Verlag 1996.
- "Der Fall Schneider/Schwerte", in: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 27, 1996, 1. Halbjahr
- "Schneider/Schwerte" Ein Germanist und seine Wissenschaft; Einführung, Vorträge zum Symposium vom 15. Februar 1996, Dokumente, Erlangen 1996 (Erlanger Universitätsreden 53, 1996, 3. Folge).
- "Schneider/Schwerte" Vertuschte Vergangenheit. Der Fall Schwerte und die NS-Vergangenheit der deutschen Hochschulen, hg. von Helmut König, Wolfgang Kuhlmann und Klaus Schwabe, München: C.H.Beck 1997 (Beck'sche Reihe 1204).
- Walter Müller-Seidel: Wissenschaft im 20. Jahrhundert Vorläufiger Bericht über den Fall des Germanisten Hans Schwerte, in: Mitteilungen des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar, hg. von Arbeitsstelle für die Erforschung der Geschichte der Germanistik, Doppelheft 11/12, 1997.

(12) Hans Schneider: "Nachdem die Naturwissenschaften, die technischen und medizinischen Wissenschaften fast durchweg im Dienst unserer Kriegführung stehen, sind nunmehr endlich auch die Geisteswissenschaften auf allen ihren Arbeitsgebieten dahin zu führen, sich forschend, lehrend und in Materialsammlungen restlos den unmittelbaren Aufgaben unserer politischen Kriegführung mit ihren außenpolitischen, innenpolitischen, propagandistischen und führungsmäßigen Aufgaben und Problemen zur Verfügung zu stellen." Zit. nach: Walter Müller-Seidel, a.a.O. S. 7.

(13) Norbert Mecklenburg: Stammesbiologie oder Kulturraumforschung? Kontroverse Ansätze zur Analyse regionaler Dimensionen der deutschen Literatur. In: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985, Bd. 10. S.3-16, hier: S. 5.

(14) Mecklenburg, a.a.O. S. 5.

(15) Guy Stern, in: Modernisierung oder Überfremdung? Zur Wirkung deutscher Exilanten in der Germanistik der Aufnahmeländer, hg. von Walter Schmitz, Stuttgart und Weimar: Metzler 1994.

(16) Hermann Aubin/Theodor Frings/Josef Müller: Kulturströmungen und Kulturprovinzen in den Rheinlanden. Geschichte, Sprache, Volkskunde. Bonn 1926, S.VII.

(17) Mecklenburg, a.a.O. S.9 u. S.13.

(18) Julian Schütt: Germanistik und Politik. Schweizer Literaturwissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus. Zürich. Chronos 1996. Diese Geschichte ist jetzt sogar in eine "Spiegel"-Geschichte verarbeitet worden, H.19, 1997; rezensiert von Hans-Harald Müller in der Frankfurter Rundschau vom 5.4.1997.

(19) Marbacher Mitteilungen, a.a.O. S.21.

(20) Die Arbeitsgruppe unter der Leitung von Hans Georg Werner und Gotthard Lerchner an der Martin Luther-Universität in Halle etwa zwischen 1980-1988.

(21) Staszak u.a.

(22) Marbacher Mitteilungen, a.a.O. S. 26.

(23) Walter-Müller Seidel a.a.O. S.15.

(24) Der Begriff des synthetischen Interpretierens' gründet nach Kiss "nicht auf hermeneutischen, sondern auf sozialontologischen Bestimmungen der Kunst", die "IM PRINZIP von keiner einzelnen Forschungsperspektive aus erschöpfend, ausschließlich und restlos erschlossen werden kann", Endre Kiss: Synthetisches Interpretieren im Kontext der Erforschung der österreichischen Literatur. In: Geschichte der österreichischen Literatur Teil 2, Hrsg. v. Donald Daviau und Herbert Arlt, Röhrig 1996, S. 372-376.

(25) Vgl. dazu Norbert Mecklenburg: Stammesbiologie oder Kulturraumforschung. In: Vier deutsche Literaturen? Literatur seit 1945 - nur die alten Modelle? Medium Film - das Ende der Literatur? Hrsg. K. Pestalozzi, A.v.Bormann, Th. Koebner. Tübingen: Niemeyer 1986 (=Kontroversen, alte und neue Bd.10) S.12: „Eine Geistesgeschichte österreichischer Literatur kann nur, wie vor allem Roger Bauer plausibel demonstriert hat, in engster Verflechtung mit der politischen, Sozial- und Kulturgeschichte zu empirisch gesicherten Ergebnissen kommen".


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