Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 4. Nr. Juni 1998

Zur heutigen Lage der Literaturwissenschaft in Italien

Alessandra Schininà (Catania)

Das öffentliche Interesse für die Literaturwissenschaft ist zur Zeit in Italien nicht besonders rege. Die Polemiken und Diskussionen Ende der 60er und am Anfang der 70er Jahre über die Rolle der Literatur und des Kritikers in der Gesellschaft sind nunmehr abgeklungen. Geblieben ist die italienische Eigenschaft, die Diskussion stark politisch zu färben, sodaß die Frage nach der Methodik und die ideologische Stellungnahme oft eng und deutlich miteinander verbunden sind. Man kann vier Bereiche unterscheiden, in deren Rahmen sich die italienischen Kulturwissenschaftler mit den theoretischen und praktischen Aspekten ihrer Disziplinen auseinandersetzen:

  1. Die Diskussion über die Universität und ihre Reform sowie der eher fragmentarische Versuch, die Geschichte der kulturellen Institutionen zu schreiben.
  2. Die Lage des Literaturwissenchafters in der Massen- und Mediengesellschaft.
  3. Die Literaturgeschichtsschreibung.
  4. Der Literaturunterricht und die Ausbildung der Lehrer.

Es gibt noch keine ernsthafte und umfassende Diskussion über die Beziehung zwischen Literaturwissenschaft und EDV. Das Verhältnis zwischen Massenliteratur, Medien und Kritik wurde zwar analysiert, nicht aber die Veränderungen, denen die Literaturkritik in einer immer mehr auf audiovisuelle Mittel ausgerichteten Computergesellschaft ausgesetzt ist.

Die Universität bleibt in Italien, trotz ihrer Krise, die wichtigste Institution, in der Literaturwissenschaft betrieben wird. Die Figur des "freischaffenden Wissenschaftlers" ist eher selten, es fehlen öffentliche und private Subventionen, insbesondere Sponsoren für literarische Forschungsarbeiten. Die einzige Möglichkeit, Finanzierungen zu erhalten und an Forschungsgruppen teilzunehmen, ist, die akademische Laufbahn einzuschlagen. Die öffentliche Resonanz der literarischen Aktivität im allgemeinen ist begrenzt. Es gibt einige Ausnahmen, wie die Publikumserfolge der Schriften von Umberto Eco oder Claudio Magris; die Literaturforschung findet jedoch weit entfernt von den Medien statt. Die Versuche, eine sachkundige Literatur-Beilage in den Tageszeitungen herauszubringen, die nicht hauptsächlich der Verlagspropaganda dienen sollte, sind bis heute gescheitert - mit Ausnahme einiger Artikel in den Kulturspalten. Zwischen den Zeitschriften von und für Spezialisten und der allzuoft unzulänglichen Bücher-Rezensionen der Tageszeitungen besteht eine beträchtliche Lücke.

Das alles beeinflußt die Literaturforschung, die sich demzufolge den Organisationsstrukturen der Universität zuwendet. In Italien gab es aber bisher keinen umfassenden Versuch, die akademischen Institutionen historisch und organisatorisch zu analysieren. Es fehlt eine objektive Auseinandersetzung mit diesem Thema, da die Ergebnisse aus Gesprächen und Versammlungen vielmehr Interessenkonflikte zwischen politischen Gruppierungen und Untergruppierungen oder Erneurungsvorschläge sind, die oft nur Privilegien und Karrieren betreffen. Die Universität wird immer in bezug auf das staatliche System, seine Instanzen und unmittelbaren Bedürfnisse gesehen. Das entspricht dem stark "bürokratischen" Charakter der Universitätsordnungen seit der nationalen Einigung Italiens 1860.

Die Selbstständigkeit und die Unabhängigkeit von äußeren Einflüssen sowie die Möglichkeit, auf die gesamte Gesellschaft einzuwirken, war und ist beschränkt, trotz der neuen Autonomiebestimmungen der einzelnen Universitäten. Ein vor kurzem erschienener Band - R. Moscati (Hrsg.): Chi governa l'università? Il mondo accademico tra conservazione e mutamento (Wer regiert die Universität? Die akademische Welt zwischen Erhaltung und Transformation). Liguori 1997 - enthält ein statistisches Panorama der Universitätsdozenten, Informationen über ihren Sozialstatus, ihre Laufbahn und gesellschaftlichen Beziehungen. Man merkt, daß ihre Anzahl in den letzten 20 Jahren enorm gestiegen, ihre soziale Abstammung aber im Grunde gleichgeblieben ist. Die Universitätskarriere kostet, die Anfänge sind ungewiß und wenig remuneriert; Familientradition, Bekanntschaften, einflußreiche Rückendeckung haben noch immer großes Gewicht. (Nur 5% der Dozenten entstammen einer Arbeiterfamilie, 70% arbeiten am Ort, an dem sie studiert haben). Das alles bedeutet eine gewisse Unbeweglichkeit und einen Widerstand gegen jede Neuerung, die althergebrachte Privilegien unterminieren könnte, und das bleibt nicht ohne Folgen für die Forschung. Neue Methoden und Konzepte setzen sich nur langsam und mit sehr unterschiedlichem Erfolg gegen herkömmliche Muster durch.

Die Expansion der Zahl der Studierenden und der Dozenten innerhalb der Philosophischen Fakultäten hat jedoch zwei bedeutende Konsequenzen gehabt. Der große Zuwachs literarisch ausgebildeter Akademiker führte einerseits zu einer Beschäftigungskrise, andererseits zu einer Vielgestaltigkeit und Erneuerung der kritischen Produktion. So sind heute viel mehr Veröffentlichungen als früher notwendig, um an der Universität Karriere zu machen. Das Resultat ist ein großes Ansteigen der literaturkritischen Texte, die, wenn auch von unterschiedlichem wissenschaftlichen Wert, zu einer beträchtlichen Erweiterung der Kritik- und Forschungsmethoden beitragen. Publikationen sind das beste Mittel geworden, um sich eine Reputation zu verschaffen, eine Prestigestellung zu erreichen und Subventionen zu erhalten. So nehmen die literaturforschenden Aktivitäten mehr Platz als die traditionellen Lehrpflichten ein. Die Dozenten empfinden immer mehr ihre bürokratischen Pflichten und Seminare als eine Last, eine Hürde, die sie von ihrer eigentlichen "Arbeit", d. h. der Forschung und Publikation, fernhält. Die wissenschaftlichen Veröffentlichungen dienen vorwiegend dazu, die eigene Karriere aufzubauen, die eigene Identität als Gelehrter zu definieren und entstehen nicht nur aus reiner Vokation. Der Zusammenhang zwischen literarischer Forschungsarbeit und professioneller Bewertung führt oft zu einer überspezialisierten, in sich geschlossenen Kritik, die ihren Ausdruck in Universitätseditionen, wissenschaftlichen Zeitungen, Spezialisierungsprogrammen findet.

Die Universität steht vor dem Dilemma zwischen traditioneller Übermittlung des kulturellen Erbgutes und kritischer, forschungsorientierter Experimentation. Soll sie sich damit begnügen, die herkömmliche Kultur zu bewahren und zu übermitteln oder soll sie vielmehr neue Forschungs- und Erkenntnismodelle entwickeln? Praktisch sehen sich die italienischen Literaturwissenschaftler vor die Aufgabe gestellt, Kritik und Pädagogik zu vereinen. Die Diskussion konzentriert sich so auf ihre Rolle in der Gesellschaft. Angesichts der heutigen Tendenz, sich von der Figur des Intellektuellen als ideologischem Vermittler zu verabschieden, um an seine Stelle den spezialisierten Techniker, den "Philologen der Mikroerudition", oder den "oberflächlichen, kulturellen Entertainer" zu setzen, versuchen die Literaturwissenschaftler die soziale Bedeutung ihrer Tätigkeit hervorzuheben. Remo Ceserani bemerkt, daß der Literaturkritiker - vor allem in Italien - das Erbe des Humanisten, seines Vorfahren aus der Renaissance, mit sich führt. Von diesem hat er die Idee erhalten, einer tradition- und prestigereichen Kaste anzugehören, die stolz ihre reale oder scheinbare Unabhängigkeit bewahren will (man spricht von einer "repubblica delle lettere"). Dazu kommt aber auch die Auffassung des Literaten, Nachkomme eines gebildeten "Hofnarren" zu sein, der während Zeremonien und festlichen Anlässen mit seinem Wissen das Publikum unterhalten soll.

Der italienische Literat wollte schon immer zugleich Politiker und Rhetor sein. So wurden Politik, Literatur und literarische Kritik eng miteinander verbunden. Italien ist das Land von Machiavelli, Guicciardini, Gioberti, Manzoni, De Sanctis, Gramsci, Pasolini, Vittorini, Pavese, Sciascia. In ihnen wird aus der Politik ein literarischer Essay, aus der Literatur ein soziales Engagement. Die italienischen Intellektuellen haben immer eine fast leidenschaftliche Beziehung zur Macht gehabt und eine eigene Form von Machtausübung entwickelt. Sie haben eine Reihe von Institutionen und Formen geschaffen, von denen aus sie die Literaturproduktion bestimmen konnten: Universitäten, religiöse Orden, Akademien, Literatenkreise, Zeitschriften. Nicht zufällig trägt der erste Band der Letteratura italiana von Asor-Rosa den Untertitel Der Literat und die Institutionen.

Ceserani unterscheidet so zwischen dem Kritiker als Journalist, dem Kritiker als Professor, dem Kritiker als Kulturorganisator. Es gibt den nach Ansehen strebenden Kritiker, der Optimismus, Konformismus, Zustimmung über die herrschende Kultur vermittelt; den ethisch-pädagogisch motivierten Kritiker, der eine alternative Kultur herstellen will, und den streng philologisch-orientierten Kritiker, der aus dem Studium der Literatur eher eine Technologie als eine Wissenschaft macht. Der integrierte Literaturwissenschaftler ist der älteste und meistverbreitete in der italienischen Kultur. Er sieht in der Literatur ein Schönheitsmodell, ein Mittel zur Befriedigung und Verschönerung des Lebens, versucht die akademische Karriere und den freien Beruf unter einen Hut zu bringen, läuft jedoch Gefahr, in einen leeren Ästhetizismus zu geraten.

Die pädagogisch orientierten Wissenschaftler betrachten die Literatur als ein Instrument, um Ideen und Werte zu verbreiten. Sie kritisieren die herrschende Ideologie, sind aber verstört von der Tatsache, selbst Teil dieses Systems zu sein. Vom Desinteresse der Umwelt enttäuscht, betrachten solche Kritiker die Schule und die Universität als Zufluchtsort, als heilige Stätte, wo man die humanitären Werte erhalten und der Jugend übermitteln kann. Dies kann sie jedoch an den Rand, an die Peripherie verdrängen.

Die Kritiker als reine Sprachspezialisten konzentrieren sich auf die Struktur der Texte, die sie rein technisch und möglichst neutral zu entziffern versuchen. In dieser Situation, wie Romano Luperini bemerkt, kann die Literaturwissenschaft einerseits zu einem kläglichen Philologismus, einer einfach technisch-rhetorischen Leistung ohne Bezug auf Geschichte und Gegenwart werden, anderseits zu einer willkürlichen Interpretation, in der die Analyse der Bedeutungen ohne jegliche philologische und semantische Bezüge erfolgt.

Außer soziologischen Studien, die den status quo aufzeichnen, fehlt in Italien eine umfassende, neue Perspektiven eröffnende Debatte über die Aufgaben des Literaturwissenschaftlers in der gegenwärtigen Gesellschaft. Die diesbezüglichen Ansätze in den Schriften Gramscis wurden z.B. in der Nachkriegszeit weiterentwickelt und in der damaligen Situation des politischen und zivilen Wiederaufbaus Italiens integriert. Heute fehlt ein ähnliches Engagement. Es wird höchstens über die Legitimität, eine Literaturgeschichte zu schreiben und über ihre möglichen Formen debattiert.

Am Anfang der Auseinandersetzung mit der Literaturgeschichtsschreibung in Italien steht Benedetto Croce. Dieser polemisierte gegen die historisch begründete Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, die im Werk De Sanctis gipfelte, und schlug vor, die Literaturgeschichte in eine Reihe von untereinander unabhängigen Essays und Monographien aufzulösen. Seine idealistische Auffassung, die den poetischen Wert eines Textes außerhalb des Inhalts und Kontexts in der "lyrischen Intuition" des einzelnen Künstlers sucht, beeinflußte jahrelang die italienische Literaturwissenschaft. Sogar bei marxistisch orientierten Kritikern wie Natalino Sapegno, dem Autor einer der bekanntesten italienischen Literaturgeschichte, findet man Einflüsse von Croce. Auch der russische Formalismus und der Prager Strukturalismus waren im Grunde gegen die Literaturgeschichtsschreibung. Sie kamen jedoch erst um 1963 nach Italien, d. h. mit Verspätung und vermischt mit anderen Einflüssen, wie denen von Barthes oder Jauss. So hatte die strukturalistisch-semiologische Bewegung in Italien einen weniger abstrakten, eher kommunikativen und realistischen Charakter als in Frankreich.

Die 68er Bewegung war gegen jede kanonisierte Form von Literatur. Intellektuelle und Kritiker wie Fortini, Asor-Rosa, Timpanaro kritisierten die traditionelle Figur des Literaten, und seine "Wiedergeburt" wird im politischen Engagement gesehen, in einer Demystifikation, die alles, selbst die Literaturwissenschaft betrifft. Nach dieser Phase war die Tendenz der Kritik, in Anlehnung an Mukarovsky oder Benjamin Elemente aus dem Formalismus, dem Strukturalismus und der Linguistik zu verwenden, um in einer Literaturgeschichte alle Aspekte eines Werks zu behandeln. So berücksichtigt Giuseppe Petronio in seiner Storia dell'attività letteraria in Italia, eine der am meisten verbreiteten italienischen Literaturgeschichten der letzten 15 Jahre, all die ideologischen, formalen, technischen, soziologischen Elemente, die die Produktion, die Diffusion, die Rezeption eines literarischen Werks bestimmen.

In den 70er Jahren charakterisierten Verspätungen und Verallgemeinerungen die theoretische Auseinandersetzung mit der Literaturwissenschaft. Die geschichtlich orientierte Ideologie war in eine Krise geraten und eine streng gezeichnete Literaturgeschichte war nicht mehr möglich, da sie eine nicht mehr vorhandene teleologische Perspektive voraussetzte. Erst in den 80er Jahren entstand wieder eine Debatte über Literaturgeschichtsschreibung. Man fragte sich: soll man über Literatur noch nach traditionellen Mustern schreiben, d.h. in chronologisch hintereinandergereihten Abschnitten über Werke und Autoren, oder vielmehr die wechselseitigen Beziehungen zwischen Literatur und Geschichte, Literatur und anderen Kulturwissenschaften, Literatur und Kommunikation berücksichtigen? Man griff auf die offene essayistische Form Gramscis, die eine flexiblere und weniger dogmatische Auseindersetzung mit literarischen Texten ermöglicht, zurück. Gerade die Aufwertung der Flexibilität scheint heute in der italienischen Literaturwissenschaft allgemein vorherrschend. Giancarlo Mazzacurati spricht von Eklektizismus und betrachtet den Kritiker als einen "Biante", eine Art wanderndes Zwitterwesen. Romano Luperini und Cesare Segre sprechen dagegen von einer "elastischen Strategie", die weder die Herabsetzung der Kritik auf eine Phänomenologie der Lektüre, noch auf einen abstrakten Strukturalismus akzeptiert. Die neuen Methoden werden nicht als revolutionär und exklusiv gefeiert, sondern nur als zusätzliche Mittel, um das Verstehen und die Aufarbeitung literarischer Texte zu vertiefen. Man möchte die Zentralität des Textes bewahren, ohne das ideologische, geschichtliche Element zu ignorieren. Nach den großen Illusionen und Desillusionen über die Literatur steht die Kritik jetzt im Zeichen eines kritischen Relativismus und einer stimulierenden "Elastizität" in der Anwendung von Methoden.

Die moderne Wissenschaft versucht vor allem die Literaturgeschichte aus alternativen Gesichtspunkten zu entwickeln, indem sie Autoren, Werke, Bewegungen berücksichtigt, die die traditionelle Geschichtsschreibung oft vernachlässigt hat. Dieser Versuch entspricht einer Auffassung von Geschichte und Literatur im Zeichen der Diskontinuität und der Widersprüche, die sich nicht unter einen Nenner oder in enge Kategorien bringen lassen. Einige Kritiker wie Giulio Ferroni haben vor einer Literaturgeschichte gewarnt, die vor allem durch die von der Informatik eröffneten Perspektiven in Zukunft eine Mikroerudition vorbereitet, und zu einer platten und sich wiederholenden Philologie ohne kritische Distanz führen kann. Die Literaturgeschichte soll zu keiner Daten-Bank werden, sondern Teil einer vielschichtigen und multiperspektivischen Geschichtsschreibung. In diesem Sinne sieht Luperini in der Geschichte der literarischen Gattungen und der Interpretationen zwei Bezugspunkte.

Abschied vom Dogmatismus, Bereitschaft zur Flexibilität und Berufung auf die Tradition könnten der italienischen Literaturkritik eine produktive Zukunft eröffnen. Durch die sogenannte Krise der Ideologien ist jedoch die Zuversicht hinsichtlich der sozialen Funktion der Literaturkritik verloren gegangen. Die Literaturwissenschaft läuft Gefahr, nur eine Sache für Eingeweihte zu werden. Die derzeitige Situation ist konfus und unsicher, da es schwierig ist, neue Muster im Bereich der Kulturwissenschaften zu entwickeln. Besonders die "humanistischen Wissenschaften" befinden sich heute in einer Zwangslage, wenn nicht sogar in einer Rückzugsphase gegenüber den von den Massenmedien verbreiteten Kulturmodellen. Die Literatur selbst genießt immer weniger Ansehen unter den vielen und lauten Angeboten der Konsumgesellschaft, und die Literaturkritik trägt die Folgen. Die Entwicklung der Medientechnologie und der Informatik hat ihrerseits die Wahrnehmungsarten in bezug auf die Wirklichkeit verändert und damit auch die Beziehung zwischen dem Schreiber und dem Leser beeinflußt. Die Literaturwissenschaftler sehen sich vor falsche Alternativen gestellt - zwischen eine ausweglose Verteidigung der Vergangenheit und ein unüberlegtes Nachgeben angesichts der Marktinteressen, die immer mehr nach technisch-spezialisierten Kompetenzen fragen. So verläuft die Diskussion nicht so sehr nach literarischen wie nach politischen Kriterien.

Manche Intellektuelle suchen nach Modellen gegen die produktive Funktionalisierung und die frühzeitige Spezialisierung. Die Aufmerksamkeit konzentriert sich zunächst auf die Ausbildung der Lehrer und auf den Literaturunterricht. Man unterstreicht die Wichtigkeit, kreative Interpretation und kritische Fähigkeiten in den jungen Menschen zu entwickeln. Beide sollen die Fülle der uns umgebenden Texte, Informationen und Botschaften zu entschlüsseln und zu beurteilen helfen. Die Auseinandersetzung mit Literatur als Kommunikationsform ist also unentbehrlich in einer von den Kommunikationsmitteln beherrschten Welt. Gegenüber der Tendenz, in den italienischen Schulen mehr Lehrstunden dem praktischen Unterricht einzuräumen, wird eine Tendenz befürwortet, die den Unterricht der Zeitgeschichte und den der Gegenwartsliteratur fördert.

Ein weiteres Problem ist die Tatsache, daß es in Italien sehr wenige Lehrstühle für Literaturtheorie und Semiotik gibt, und auch die vergleichende Literaturwissenschaft ist nicht genug vertreten. Das bedeutet, daß die kritische Forschungsarbeit meistens innerhalb der einzelnen Literaturwissenschaften vor sich geht, unter der Aufsicht von eher traditionellen Dozenten. In diesem Rahmen nimmt die italienische Germanistik eine Sonderstellung ein. Hier offenbart sich das Bestreben, sektorale Perspektiven zu brechen. So werden die literaturwissenschaftlichen Betrachtungen in ein weitverbreitetes Netz von Blickwinkeln, Beziehungen, Vergleichen eingeflochten. Die Grenzen zwischen den Kulturwissenschaften verschieben sich dergestalt. Literaturkritik, Philosophie, Linguistik, Kunst-, Musik- und Theaterwissenschaft werden eingesetzt, um das Gesamtbild eines Autors, eines Werks oder einer Epoche zu ergründen. Schon Ladislao Mittner hat in den 70er Jahren eine Deutsche Literaturgeschichte geschrieben, die diese Multiperspektivität zum Grundprinzip hatte, und heute, in den 90er Jahren, hat der literaturkritische Essay in erzählerischer Form wirksame Modelle gerade in der Germanistik gefunden.

© Alessandra Schininà (Catania)

home.gif (2030 Byte)buinst.gif (1751 Byte)        Inhalt: Nr. 4


Webmeisterin: Angelika Czipin
last change 11.11.1999