Irina Alexeeva (St. Petersburg)
Jura Soyfer hat seine 5 Stücke im Laufe von etwa 2 Jahren geschrieben. Es ist bekannt, daß der Autor seine Dramen schnell geschrieben und nicht besonders ernst genommen hatte - so hatte er selbst gesagt. Es gibt aber Gründe, diese Stücke als eine wichtige Stufe in der künstlerischen Entwicklung des Schriftstellers zu betrachten: erstens, weil wir einen ganz schnellen Übergang vom Agitprop zur richtigen dramatischen Form vor uns haben, und zweitens, weil diese dramatische Form selbst sehr bald philosophische Höhe erreicht. Soyfers Theater ist von Anfang an kein individualisiertes, psychologisches Theater gewesen, das in vielen Ländern Europas im 20. Jahrhundert breite Entwicklung erfährt; seine Figuren repräsentieren meistenteils gesellschaftliche Typen. Nicht zufällig finden sie selten individualisierte Namen. "Erster Wiener", "englischer Beamter", "Dieb" - solche verallgemeinernde Namen tragen die Figuren. Soyfer-Forscher Horst Jarka findet in den Besonderheiten von Soyfers Dramen manche Züge der alten österreichischen Tradition wieder. Jarka meint, daß es ein wichtiger Wechsel war - von der typisch deutschen Form linker Agitation zur Altwiener Zauberkomödie. Wir würden nicht wagen, politische Orientierungen (linke oder rechte) als etwas national spezifisches zu betrachten. Berangers Gedichte im Frankreich des 19. Jahrhunderts kann man allerdings auch als politische Agitation bezeichnen; Majakowski im Rußland der 20er Jahre - das war auch Agitprop. Verschiedene Zaubereffekte, fantastische Elemente - so was kennt das europäische Theater von seinen Anfängen an. Aber das Niveau der künstlerischen Bearbeitung des Stoffes erhöht sich in Soyfers Dramen offensichtlich. Deshalb ist der Inhalt jedes Stückes nicht nur mit konkreten Ereignissen der damaligen Zeit, konkreten Menschen, konkreter Geographie, der Handlung verbunden, sondern all das ist auf verschiedene Begebenheiten symbolisch zu projizieren. Man könnte noch hinzufügen, daß Soyfers Stücke vielleicht auch zum Teil neoromantische Schattierung haben: davon zeugt in erster Linie der alleinstehende Held, der mit einer satirisch entfremdeten Gesellschaft konfrontiert wird - zum Unterschied vom Agitprop, wo im Vordergrund die Gegenüberstellung von verschiedenen Klassen steht.
Die genauere Benennung der Entstehungszeit Soyferscher Dramen sagt auch viel: 1936-1937. Sie wurden alle zur Zeit des Faschismus geschrieben. Damals wurden sie auch aufgeführt. Das war eine tragische Zeit: sowohl für unser Land, für Rußland, wo das ganze Volk unter der blutigen Diktatur litt als auch für Europa, wo Hitler mit dem Krieg drohte. Umso besser verstehen wir alle, daß keinesfalls davon die Rede sein konnte, mit der Kunst offen gegen die Diktatur, gegen den Faschismus, gegen den Krieg zu kämpfen. Richtiger Kampf war absolut nicht möglich. Solche schwierige Perioden in der menschlichen Geschichte können aber merkwürdigerweise fruchtbringend sein. Da es keine Möglichkeit gibt, das, was man meint, offen auszusprechen, beginnt sich die Kunst der Andeutungen zu formen und zu vervollkommnen. Da muß der Schriftsteller den Weg der symbolisch verdeckten Verallgemeinerung wählen, und es entsteht das Geheimnis des Nicht-Gesagten; da muß der Leser bzw. der Zuschauer selbst erraten, was gemeint ist. Er bekommt die Wahl, wie tief, wie breit er das vom Autor Ausgesagte verstehen will. Und das ist ein Merkmal der richtigen Kunst. Jedenfalls aber spüren wir in allen 5 Stücken die feste Hoffnung des Schriftstellers darauf, daß es einen Ausweg gibt, daß man in einer menschenwürdigen Welt leben kann und das war an und für sich wichtig genug.
Wenn wir Soyfers Stücke der Reihe nach zu analysieren versuchen, so bemerken wir sofort eine schnelle positive Entwicklung. Im ersten Stück -"Weltuntergang" (1936) - finden wir direkte Anknüpfungen an die damaligen Verhältnisse, als zum ersten Mal klar wurde, daß der Krieg nahe ist. Weltuntergang und Krieg sind hier Synonyme, und darin manifestiert sich das Hauptmerkmal der künstlerischen Methode des Autors: hinter verallgemeinernden, fast abstrakten Symbolen der Rahmenhandlung sind viel konkretere Dinge zu verstehen. Der Hauptteil des Stückes zeigt die Menschheit vor der Katastrophe, und da führt uns Soyfer allmählich zum wichtigen Gedanken, der auch heute äußerst aktuell bleibt: wenn der Mensch nicht denken will, ist ihm nicht zu helfen. Dann wird er von den Mächtigen betrogen und in den Krieg geführt. Aktuell ist auch das Thema der Verantwortung der Mächtigen, deren Dummheit und Gewissenlosigkeit für viele Menschen gefährlich ist. Wir finden im "Weltuntergang" auch die Darstellung der Rolle der Intellektuellen in der modernen Gesellschaft (z.B. den Physiker Guck); Soyfer äußert seinen Gedanken ganz deutlich: Mißbrauch der Wissenschaft ist unmoralisch und beschleunigt nur das tragische Ende.
Die Sprache der Figuren ist ganz einfach, ohne persönliche Stilisierung. Eine besondere Rolle spielen die eingeschobenen Liedern, die dem Stück gewisse Kabarettschattierungen geben, eindeutige politische Linien einhalten und Soyfers Dramen mit den Traditionen des politischen "epischen Theaters" von Bertolt Brecht verbinden. Einen besonderen Platz nimmt aber der letzte Song, der "Lied von der Erde" heißt und uns hilft, Soyfers Position besser zu verstehen, ein. Der Autor liebt die Menschheit. Er sieht entsetzliche Katastrophen voraus (die kurz darauf in Wirklichkeit ausbricht und ihn zerschmettert). Er versucht die Ursachen der menschlichen Not zu ergründen und einen Ausweg zu finden. Das letzte gelingt ihm aber nicht. Trotzdem ist in den letzten Zeilen des Stückes kühne, wenn auch ziemlich dunkle Hoffnung zu spüren, daß die Menschheit wenigstens eine Chance hat, weiter zu existieren.
Das nächste Stück, "Der Lechner Edi schaut ins Paradies", ist auch 1936 geschrieben. Es enthält auch eine Mischung von realistischen und fantastischen Elementen, wo berühmte Figuren aus der Geschichte der Weltkultur erscheinen (Kolumbus, Galilei, Gutenberg usw.), wo Wiener Dialekt in die Rede der Helden einen leichten Anflug von Humor bringt und stilisierte symbolische Songs dem Themenwechsel entsprechen sowie gewisse politische Linien verfolgen, die den Anschauungen des Autors entspricht - all das erinnert uns an beste Traditionen des Kabarettheaters. Unter vielen politisch aktuellen Gedanken, die wir im Text des Stückes finden, welche im Laufe der Beschreibung von bunten Abenteuern der Hauptfiguren (des Wiener Arbeitslosen Edi und seiner Freundin Fritzi) auftauchen, sind für den russischen Leser folgende interessant: Soyfer ist der Meinung, daß die Erklärung der Ideologen des Austrofaschismus, daß der Klassenkampf zu jenen Zeiten schon überwunden sei und daß der Streik folglich völlig unnötig werde, falsch sei! Überraschend erkennbare Aufrufe für das Sowjetrußland der 30er Jahre! Angriffe gegen den Faschismus enthält auch "Astoria" (1937). Wir finden in diesem Stück dieselben, uns schon bekannten künstlerischen Besonderheiten: Fantastisches (ausgedachter Schwindelstaat Astoria), politische Songs, bescheiden geäußerte Hoffnung auf eine bessere Welt. Die Sprache aber hat sich ein bißchen verändert. Wir bemerken diesmal fast keine Wienerische Färbung. Ein ziemlich glattes gesprochenes Deutsch mit einigen stilisierten Einschubwörtern aus anderen Sprachen vereinigt hier Menschen, deren Sprache eine andere ist (Russisch, Italienisch usw.).
Als Höhepunkt im dramatischen Schaffen von Jura Soyfer kann man sein vorletztes Stück betrachten: "Vineta (Die versunkene Stadt)" (1937). Horst Jarka hat dieses Gleichnis von der versunkenen Stadt mit Recht einen Alptraum genannt, der die Zuschauer erwecken soll. Reale Ursprünge, Soyfers düstere Erlebnisse in der toten Stadt Hamburg 1932 sind genug untersucht. Für den russischen Leser aber, dem der Begriff "Vineta" von Kindheit an aus dem beliebten Kinderbuch von Selma Lagerlöf "Wunderbare Reise des kleinen Nils mit den Wildgänsen" bekannt ist, bedeutet "Vineta" sofort eine viel umfangreichere Verallgemeinerung. Aber auch beim österreichischen Leser führt die Verwendung der norddeutschen Vineta-Sage zur abkühlenden Distanz. Diese Distanz ist noch dadurch unterstrichen, daß der Autor auf den Gebrauch des Wiener Dialektes verzichtet. Die Rede des Haupthelden Jonny, die diesmal stark individuaäsiert ist, enthält manche dialektale Züge. Sie entsprechen aber der Heimatgegend der uralten Vineta-Sage - das sind norddeutsche Merkmale. Der Text dieses Stücks erinnert uns gar nicht an buntes Kabarett-Mosaik. Er ist nach einem anderen, viel strengeren Prinzip gebaut, wird durch didaktische Songs nicht verdünnt; sprachliche Besonderheiten begleiten kunstvoll die Logik der Handlung. Jonny, der im Zentrum der Handlung steht und in der toten Gesellschaft lebloser Schatten lebendig zu bleiben versucht, verliert doch allmählich Lebhaftigkeit und Kraft seiner Sprache: dort wird seine Rede fast gepflegt, sie ist nicht mehr mit Schimpfwörtern und mündlichen Ungeschliffenheiten geschmückt. Es gelingt Jonny aber, Logik dabei zu behalten, obwohl gerade die logische Seite der Rede in Vineta verletzt wird, und das hilft ihm vielleicht, sich von dieser toten Welt abzuheben. Dort unten, wo Kategorien der Zeit und der Vernunft aufgehoben sind, kennt man auch keine Vergangenheit, keine Geschichte, keine Zukunft, keine Hoffnung. Die Figur von Jonny, der denkt, logisch spricht, der etwas tut, unterstreicht die Widrigkeit des toten Vineta-Lebens. Aber er ist allein. Der andere Mensch, der denken kann, der Stadtschreiber, will die Gespensterhaftigkeit der Vineta-Existenz nicht verletzen und unterstützt folglich den Tod selbst. In der Figur des Stadtschreibers verurteilt der Autor solch eine Art von Intellektuellen (die überall zu treffen sind), die die Wahrheit kennen, aber es für gefährlich halten, sie laut auszusprechen. Jonny aber macht es! Er sagt laut: "Vineta ist tot!", und die tote Stadt verschwindet, das Leben siegt! Man muß sofort sagen, daß wir das nicht nur anhand des Inhaltes bemerken, sondern auch aufgrund sprachlicher Besonderheiten. Jonnys Sprache ist wieder lebendig und ausdrucksvoll; er kehrt ins richtige Leben zurück, obwohl es ... eine Kneipe ist!
Wodurch unterscheidet sich dieses Stück von den anderen? Was läßt uns von Soyfers höchster dramatischer Leistung sprechen? Jura Soyfer kommt zu einem prinzipiell neuen Gedanken: nicht kollektiver Kampf für eine Utopie ("Weltuntergang", "Astoria"), sondern das Vorhandensein der selbstbewußten Persönlichkeit ist für den Menschen wichtig. Der Mensch muß selbst und frei entscheiden, was er will, und er hat genug Kraft dafür! Das Werk haftet deshalb nicht an konkreten politischen Ereignissen; er spricht etwas Allgemeinmenschliches aus.
Deshalb sind für den russischen Leser vielleicht in erster Linie nicht Parallelen zwischen dem faschistischen Regime und dem kommunistischen Stalin-Regime wichtig (historisch belehrenden Wert behalten sie jedenfalls), sondern die persönliche Entwicklung von Jura Soyfer als Mensch und Schriftsteller, da er sich von dem politischen Kampf für eine utopische Zukunft zum Kampf für sich selbst als Persönlichkeit steigert. Für Rußland, das während längerer Zeit ein Land war, wo die Persönlichkeit unterdrückt und erniedrigt wurde, ist "Vineta" im Moment äußerst aktuell.
Als eine der ersten Jura Soyfer-Übersetzerinnen ins Russische möchte ich bescheidene Hoffnung ausdrücken, daß Jura Soyfer in nächster Zeit auch auf russische Bühnen kommt.
Der hier publizierte Beitrag erschien erstmals in: Jura Soyfer. Zeitschrift der Jura Soyfer Gesellschaft. 2.Jg., Nr. 4/93. S.9-11.
Webmeisterin: Angelika Czipin
last change 26.11.1999