Kurt Bartsch (Graz)
Diese Veranstaltung(*) soll - wenn ich es richtig verstanden habe - dem Zweck dienen, die Voraussetzungen und Bedingungen zu diskutieren, unter denen eine umfassende österreichische Literaturgeschichte heute geschrieben werden kann. Ein gewagtes Vorhaben, zweifellos, denn bekanntlich hat nicht nur die Literaturgeschichtsschreibung seit ihren Anfängen das eigene Tun stets problematisiert beziehungsweise problematisieren lassen müssen und ist daher der Legitimationszwang enorm, es muß auch noch die Einschränkung auf Österreich gerechtfertigt werden. Diese Sektion soll sich zudem mit einem Problem befassen, das seit Georg Gottfried Gervinus zu den heikelsten, nichtsdestoweniger vergleichsweise selten explizit reflektierten Fragen der Literaturgeschichtsschreibung gehört: mit dem Spannungsverhältnis von Synchronie und Diachronie, von Interpretation, die den Einzeltext analysiert und dessen ästhetisches Erscheinungsbild in den Mittelpunkt rückt, einerseits und der Einordnung in (literatur)geschichtliche Zusammenhänge, die eben diesen Einzeltext einem größeren Ganzen zu "opfern" droht, andererseits. Wenn nun diese Veranstaltung Impulse setzen will, dann sollten auch in dieser Sektion über "Literaturgeschichte und Interpretation" grundsätzliche Überlegungen angestellt werden über den Ort, von dem aus wir schreiben (wollen), über das Problem der Interpretation beziehungsweise über die Erwartungen, die wir auf Einzeltextinterpretationen setzen (können), über die Frage, was solche für die Literaturgeschichtsschreibung zu leisten vermögen, vor allem auch, was sie für eine Bestimmung des "Österreichischen" zu leisten vermögen. Wenn wir eine österreichische Literaturgeschichte schreiben wollen, dann haben wir eingestandener- oder uneingestandenerweise schon eine Funktionszuschreibung und Zielvorstellung im Kopf. Und über diese sollten wir uns Klarheit verschaffen. Dazu ein paar allgemeine Bemerkungen und dann ein Blick auf die Darstellung von österreichischer Literatur nach 1945 in jüngsten Literaturgeschichten mit der Frage, wie man es in diesen mit dem Interpretieren hält.
1. Zum Thema Interpretation
Im Vorwort zur ersten Auflage der von ihm 1952 herausgegebenen Annalen der deutschen Literatur stellt Heinz Otto Burger fest:
Das A und 0 der Literaturwissenschaft heißt heute Interpretation. Um nicht am Einfall, am Zufall hängenzubleiben, braucht die Interpretation ein übergreifendes Sinngefüge, aber dieses wird in der Regel in irgendeiner Typologie, Anthropologie, Ontologie gesucht. Obwohl man sie philosophisch untermauert, hat doch keine von ihnen eine verbindliche Kraft. Die bunte Vielfalt isoliert und relativiert vielmehr die Leistung des einzelnen Forschers. Der Literaturwissenschaft droht von daher die Gefahr, sich in lauter verschiedene, mitunter äußerst geistreiche Versuche, in Essays aufzulösen. Mit der, wenngleich erschütterten, Autorität der Geschichte kann keine der Typologien, Anthropologien oder Ontologien sich messen. Nur der Bezug auf die Geschichte, die Arbeit am Geschichtsbild vermag eine gewisse Einheit der Literaturwissenschaft zu gewährleisten.(1)
Das Verlangen nach einer sinnstiftenden Autorität mag heute obsolet anmuten, wenngleich man sich nicht der Illusion hingeben sollte, das Bedürfnis nach leitenden Ideen sei verschwunden. Implizit bestimmt es noch die Literaturgeschichten mit den "offensten" Strukturen. Aber darauf kommt es im Moment nicht an, vielmehr darauf, daß ein anerkannter Literaturwissenschaftler, der sich explizit zum Geschäft der Interpretation bekennt und auch selbst 1942 eine Sammlung werkimmanenter Interpretationen unter dem Titel Gedicht und Gedanke herausgegeben hat, in der Blütezeit eben dieser literaturwissenschaftlichen Ausrichtung fehlendes historisches Bewußtsein moniert. Burgers Kritik zielt sowohl gegen Interpretation, die sich streng philologischen Maßstäben unterwirft (man könnte boshaft sagen, akribisch metrische Unregelmäßigkeiten etc. registriert), wie auch gegen jene, die Andacht hält vor dem Kunstwerk als einer Art Offenbarung von Ewiggültigem. Aus eigener Erfahrung im Universitätsbetrieb weiß ich, daß bis weit in die sechziger Jahre hinein die Bücher der - man ist versucht zu sagen: Kirchenväter - Emil Staiger, Wolfgang Kayser und die Sammelbände Benno von Wieses, des Bestvermarkters des Interpretationskults, das germanistische Treiben bestimmten. Dann allerdings war es mit dem Ergriffensein, dem einfühlenden Verstehenwollen des Dichters schlagartig vorbei. Das Erkenntnisinteresse verschob sich in Richtung Literatursoziologie. Nicht nur, daß nun die (der weihevollen Interpretation nicht für würdig empfundende) Trivialliteratur den gewohnten Kanon der sogenannten Höhenkammliteratur sprengt, an die Stelle der Fragen nach der Intention des jeweiligen Autors beziehungsweise nach der ästhetischen Gestaltung des jeweiligen Textes, die in einem hermeneutischen, einfühlendes Verstehen suchenden Akt zu beantworten wären, treten die nach den Bedingungen des Literaturbetriebs, nach Distribution, Rezeption und Wirkung von Literatur. Keine Frage, daß Einzeltexte bei sozialgeschichtlicher Ausrichtung der Literaturwissenschaft aus dem Blickfeld zu geraten, zum bloßen Beweismaterial für soziologische Thesen zu werden drohen. In anderer Weise opponieren seit den achtziger Jahren dekonstruktivistische gegen die herkömmlichen Interpretationsverfahren. In scharfer Abgrenzung vom hermeneutischen Universalitätsanspruch des Verstehenkönnens als einer menschlichen Grundeigenschaft sowie in der Ablehnung des Glaubens, objektive Aussagen über den Sinn von Texten machen und deren Bedeutung festlegen zu können beziehungsweise zu dürfen, bestehen Dekonstruktivisten auf der Offenheit für heterogen(st)e Ausdeutungsmöglichkeiten beziehungsweise auf der Autonomie der Signifikanten. Die Gefahr der absoluten Unverbindlichkeit und Beliebigkeit dekonstruktivistischer Interpretationen ist häufig gegen diese eingewandt worden, am prominentesten wohl von George Steiner in seinem 1990 in deutscher Sprache erschienenen Buch Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? (2) sowie von Umberto Eco in Grenzen der Interpretation (in deutscher Sprache ebenfalls 1990) beziehungsweise in Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation (1994).(3) Steiner zieht in den Kampf gegen die Flut des sekundären Diskurses von Interpretationen, den er als Proliferation versteht und daher verboten wissen möchte. Die Ursache dieser perniziösen Krankheit sei - postmoderne Diagnosen geradezu bestätigend -im Fehlen eines transzendentalen Signifikats zu sehen, weshalb er ein solches in einem Akt des Glaubens setzt, damit aber auch den Bereich ästhetischer Fragestellungen verläßt. Eco, der in seinem Offenen Kunstwerk (1962, dt. 1972) der Grenzenlosigkeit von Interpretationsmöglichkeiten das Wort redet, will in den beiden genannten Büchern ebenfalls (und übrigens auch mit Krankheitsmetaphern) einen Damm gegen die Flut beliebiger Lesarten errichten. Er faßt seine Sicht des Problems so zusammen:
Die klassische Debatte kreiste darum, ob es in Texten die Absicht des Autors oder eine von dieser unabhängige Textaussage zu finden galt. Erst seitdem die zweite Alternative akzeptiert ist, stellt sich die weitere Frage, ob das Gefundene aus der Textkohärenz und einem vorgebenen Bedeutungssystern folgt oder ob die Adressaten es aufgrund ihrer eigenen Erwartungssysteme hineinlegten.(4)
Eco ist für die erste dieser Alternativen, denn es könne zwar "jeder Text viele Bedeutungen", aber nicht "jede beliebige Bedeutung haben".(5) Wider die Beliebigkeit setzt er erstens die Frage nach dem wortwörtlichen Sinn - die wohl nicht große Aufschlüsse verspricht -, zweitens die Frage nach dem Kontext - deren Beantwortung selbst schon einen interpretatorischen Akt voraussetzt - und drittens die (ehrenwerte) Forderung nach Respekt vor und ökonomischem Umgang mit dem Text. Ecos Kriterien sind wenig hilfreich.(6)
2. Interpretation und Literaturgeschichte
Wir bewegen uns, dem Gesagten zufolge, auf sehr unsicherem Gelände, wenn wir interpretieren. Noch prekärer wird es, wenn es um das schon angesprochene Spannungsverhältnis von Einzeltextinterpretation und Einordnung in historische Zusammenhänge geht. Bereits Gervinus schneidet in der Einleitung zu seiner Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen - ich zitiere nach der zweiten, umgearbeiteten Auflage von 1840 - das Problem an:
Es [das Buch] weicht besonders darin von allen literarischen Handbüchern und Geschichten ab, daß es nichts ist als Geschichte. Ich habe mit der ästhetischen Beurtheilung der Sachen nichts zu thun, ich bin kein Poet und kein belletristischer Kritiker. Der ästhetische Beurtheiler zeigt uns eines Gedichtes Entstehung aus sich selbst, sein inneres Wachsthum und Vollendung, seinen absoluthen Werth [...1 Der Ästhetiker thut am besten, das Gedicht so wenig als möglich mit anderen und fremden zu vergleichen, dem Historiker ist diese Vergleichung ein Hauptmittel zum Zweck Er zeigt uns nicht Eines Gedichtes, sondern aller poetischen Producte Entstehung aus der Zeit [ ... 1 er vergleicht sie mit dem Größten der Kunstgattung gerade d i e s e r Zeit und d i e s e r Nation, in der sie entstanden [ .. ]Ästhetischer Geschmack muß bei dem Geschichtsschreiber der schönen Literatur vorausgesetzt werden [ ... 1 deshalb aber darf der Eine keine publicistischen Deductionen und der Andere keine ästhetischen Abhandlungen einflechten, falls er auf seinem Felde bleiben will.(7)
Gervinus hegt demnach grundsätzliche Zweifel an der Integrierbarkeit ästhetischer Urteile, mithin auch ästhetischer Analysen in den narrativen Zusammenhang (s)einer Literaturgeschichte. Und doch läßt sich dieser nüchterne Literarhistoriker zu der Wunschvorstellung hinreißen: "Wären nur erst die Grundsätze für eine innere Geschichte der Künste festgestellt, welch eine herrliche Wissenschaft müßte hier nach und nach aufblühen!"(8) Als "Ideal" erscheint auch Heinz Otto Burger 1952(9) in den genannten Annalen "die Einheit von Interpretation und Historie", und Walter Weiss fordert 1983 in seinem Entwurf Das Salzburger Projekt einer österreichischen Literaturgeschichte die "Vermittlung zwischen Kunstcharakter und Geschichte, zwischen innerer und äußerer Literaturgeschichte"(10), eine Vermittlung, die er - jedenfalls ansatzweise - in neueren Versuchen erfüllt sieht.(11) Wie sich Mitte der neunziger Jahre, sensibilisiert oder auch verunsichert durch die Dekonstruktivisten, die Situation darstellt, hat Albert Berger mit der Umkehrung der berühmten Jaußschen Formel von der "Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft" zu "Literaturwissenschaft als Provokation der Literaturgeschichte" auf den Punkt gebracht:
Praktisch alle Kategorien, auf denen die Literarhistorie aufgebaut hat, sind ihr von der poststrukturalistischen Literaturwissenschaft in Frage gestellt und gewissermaßen entzogen worden: Autor, Intention, Werk, Geist, Sinn, Wahrheit, Entfaltung, Fortschritt usf., und zwar zugunsten eines funktional zerlegten Textbegriffes, der zwischen konstruktivistischen und dekonstruktivistischen Bewegungsimpulsen das, was nach der alten Weise unter Literaturgeschichte verstanden wird, in ein semiologisches Gestrüpp verwandelt.(12)
Dezentrierte Sehweise und die Verweigerung, Bedeutungen festzulegen, lassen weder herkömmliche, perspektivisch ordnende Literaturgeschichtsschreibung sinnvoll erscheinen noch - wie schon gesagt - traditionelle Textinterpretation. Berger findet es reizvoller, sich durch das "semiologische Gestrüpp" zu schlagen, als auf bereiteten Wegen zu absehbaren Zielen (vermeintlich) voranzuschreiten. Dazu empfehle sich die Abkehr vom narrativen Charakter der Literaturgeschichtsschreibung und die Hinwendung zu "offenen Strukturen, Skizzen, Kommentaren, monographischen Darstellungen, Einzeluntersuchungen und Essays, die miteinander oft nur lose verbunden sind".(13)
Tatsächlich ist es so, daß literarische Texte begrifflich nie ganz faßbar sind, immer einen Überschuß an Deutungsangeboten haben, mit dem sie sich der Einordnung unter ein Allgemeines entziehen, und es ist ihnen wohl auch etwas eingeschrieben, was durch die allgemeine Geschichte nicht erledigt ist - woher sonst bezögen antike, mitteralterliche oder Texte der deutschen Klassik heute noch ihren Reiz? Walter Benjamin hat die Forderung erhoben, nicht
die Werke des Schrifttums im Zusammenhang ihrer Zeit darzustellen, sondern in der Zeit, da sie entstanden, die Zeit, die sie erkennt - das ist die unsere - zur Darstellung zu bringen. Damit wird die Literatur ein Organ der Geschichte und sie dazu - nicht das Schrifttum zum Organon der Geschichte - zu machen ist die Aufgabe der Literaturgeschichte.(14)
Auch diese Forderung verstehe ich als eine nach Offenheit und damit nach Interpretation, die die den jeweiligen Texten immanenten konkreten Erfahrungen, Wünsche, aber auch Widersprüche nicht zudeckt, sondern wirksam werden läßt gegen Festschreibungen der Literaturgeschichte, also gewissermaßen in deren Ordnung etwas von der Subversivität literarischer Texte rettet. Womit allerdings das Problem der Verkettung noch ungelöst ist.
3. Zum "Österreichischen"
Ein sinnvolles Reden über Differenzen zwischen der "österreichischen" und der übrigen deutschsprachigen Literatur ist zweifellos im Rahmen einer sozialhistorisch orientierten Literaturgeschichtsschreibung möglich. Sie verhindert beziehungsweise korrigiert die Rückbindung der Literatur an so etwas wie ein "österreichisches Wesen" (was immer das sein soll), an einen Absolutheitsanspruch erhebenden Mythos (sei es den "habsburgischen" oder sonst einen), an national(istisch)e Typologisierungen und wirkt Ausgrenzungen entgegen.(15) Walter Weiss hat in seinem schon genannten Salzburger Projektentwurf vorgeschlagen, "Kontextbezüge" herauszuarbeiten, "die aus den Texten bzw. über die Texte erschließbar und damit überprüfbar zu machen sind".(16) Zurecht hat Klaus Zeyringer zu bedenken gegeben, daß mit der Einschränkung auf Österreich bereits ein Kontext festgelegt und nicht erst zu erschließen ist.(17) Aber vielleicht ist das nur eine Frage der genaueren Formulierung: wenn ich von "österreichisch" rede, habe ich zweifellos eine Kontextfixierung vorgenommen, aber nur die Texte, insofern ihnen Geschichtliches eingeschrieben ist, können der Ort sein, an dem sich entscheidet, ob ich sinnvoll rede oder nicht, wenn ich von "österreichisch" rede. Es ist also jedenfalls das Spannungsverhältnis von Text und (literar-/kultur)historischen Kontexten, auf das es ankommt. Auch wäre noch zu diskutieren, ob aus dekonstruktivistischer Sicht die Festlegung auf "Österreich" als ein Sinnzentrum nicht eine Todsünde ist.
Die bisherigen allgemeinen Überlegungen sollten ganz kurz die Fragen aufwerfen, denen ausgesetzt ist, wer eine Literaturgeschichte (und speziell eine österreichische) schreiben will. Vor diesem Hintergrund sei der angekündigte Blick auf die beiden jüngsten Literaturgeschichtsprojekte geworfen, die sich der deutschen Literatur nach 1945 widmen, und die Frage gestellt, wie sie es mit dem Interpretieren halten und wie "Österreichisches" dabei ins Blickfeld gerät (oder auch nicht). Gemeint sind die Bände 10 und 12 von Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur sowie der von Wilfried Barner herausgegebene Band 12 der von Helmut de Boor und Richard Newald bereits 1949 begründeten Geschichte der deutschen Literatur im Beck-Verlag.(18)
In den Bänden von Hansers Sozialgeschichte sind die von Paul Kruntorad beziehungsweise Thomas Rothschild verfaßten Beiträge über die österreichische Literatur ebenso wie die über die Schweizer gewissermaßen in Appendices abgeschoben. Bei Barner wird zwar eine solche Ausgrenzung vermieden, den österreichischen Kontexten aber nicht Rechnung getragen. Gerald Stieg beurteilt dies in einer "profil"-Rezension als "sanften Imperialismus der Unkenntnis der anderen: Die Deutschen haben eine Geschichte und eine Literatur, die anderen bloß eine Literatur."(19) Stiegs treffender Kritik ist soweit wenig hinzuzufügen, die folgen den Ausführungen können seinen Befund bestätigen.
Kruntorad erzählt, durchaus ansprechend (wenn auch nicht immer frei von Pathos), über die politischen, ökonomischen und sozialen Bedingungen sowie das kollektive Bewußtsein im Österreich nach 1945, auf einzelne Texte läßt er sich mit wenigen Ausnahmen (Ilse Aichingers Größere Hoffnung oder Heimito von Doderer) ebensowenig ein wie auf die Bedeutung des österreichischen Kontextes für diese Texte, außer andeutend (zum Beispiel wiederum bei Doderer). Rothschild neigt ebenfalls zum Erzählen und auch zu apodiktischen Urteilen, deren Berechtigung eher suggeriert als bewiesen wird. So zeigt er eine gewisse Vorliebe für Skandale (Innerhofer-Verfilmung, Wolfgang Kraus, österreichischer Handelsdelegierter) und rechnet mit Peter Handke ab, ohne sich auf eine Werkanalyse einzulassen. Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann werden in einem nichtssagenden Haupt- und einem noch spärlicheren Nebensatz abgetan. Gleiches gilt für Erich Hackl, Norbert Gstrein und Alois Hotschnig. Ich sehe allerdings wenig Sinn darin, mit Klagen über bloße Aufzählungen (mit naturgemäß großen Lücken) fortzufahren, möchte vielmehr darauf hinweisen, daß gerade in den Ausführungen von Rothschild momenthaft aufblitzt, welcher Gewinn aus einläßlicher Interpretation zu ziehen wäre. Wie er vergleichsweise knapp das Werk und die Verfahrensweisen der Außenseiter Reinhard Priessnitz, Gunter Falk, Hermann Schürrer und Joe Berger charakterisiert und in österreichische und internationale Kontexte stellt, könnte als beispielhaft für eine offene und sich auch dem weniger Bekannten öffnende Literaturgeschichte gelten, die einzelne Erscheinungen in ihrer Besonderheit erfaßt und nicht in einem allgemeinen Ordnungssystem erstickt. Aber Rothschüd scheint ein "Opfer" der Gesamtkonzeption zu sein.
Ich möchte noch zwei Beispiele anführen für die (Nicht)Wahrnehrnung von Texten in den beiden Kompendien. Literaturgeschichte, eine Auslöschung: so könnte man titeln, wenn man Ausführungen sucht über die Auseinandersetzung österreichischer Autoren von Hans Lebert bis Norbert Gstrein mit dem Thema "Heimat" als - wie es Walter Weiss genannt hat - "Nährboden des Negativen in der österreichischen Vergangenheit und in der österreichischen Gegenwart"(20), wobei die Negativität im Fortwirken von Faschismus, in touristischer Vermarktung des Landes etc. gesehen werden kann. Bei Kruntorad wird Lebert immerhin mit einem Satz erwähnt:
frontal geht die verdrängte Mitschuld an den Kriegsverbrechen erst Hans Lebert in seinem Roman Die Wolfshaut (1960) an, ihn kann man als Vorläufer jener realistischen Literatur ansehen, wie sie erst die siebziger Jahre hervorbringen werden." (H X, 645)
Alles klar? Abgesehen von der Unbestimmtheit dieser Zuschreibung einer Vorläuferrolle, wäre es erhellender, das Heimatbild Leberts dem in Österreich gängigen (etwa von Karl Heinrich Waggerl und dem Heimatfilm der fünfziger Jahre geprägten) zu kontrastieren und den Text vor der Folie des Heimatromangenres zu lesen. So wenig wie auf Lebert läßt sich Kruntorad auf Gerhard Fritsch ein. Dieser wird als Lyriker eingeführt - übrigens ohne daß auch nur irgendein charakterisierendes Wort zu seiner Lyrik fiele -, weiters als Redakteur von "Wort in der Zeit" - bezeichnenderweise jedoch nicht als Herausgeber von "Literatur und Kritik", der "Protokolle" oder der Anthologie Aufforderung zum Mißtrauen - und schließlich als Verfasser des Romans Moos auf den Steinen (1956). In diesem geht es, so viel (und nicht mehr) erfahren wir, "um ein verfallendes, dennoch der Erhaltung für wert erachtetes Schloß, ein Symbol offenkundig für die Werte der großösterreichischen Tradition" (H X 639). Nicht daß dies falsch wäre, aber wäre es nicht aufschlußreicher nachzufragen, wie dieser Text zum Kakanienkult im Österreich der fünfziger Jahre - man denke an den Sissi-Kitsch etc. - steht? Nicht einmal einer Erwähnung wert ist Kruntorad der zweite Roman Fritschs, nämlich Fasching (1967), obwohl sich gerade mit Blick auf diesen - wie auf die spätere Herausgebertätigkeit des Autors - ein bedeutsamer Bruch nicht nur im Personalwerk dieses Autors, sondern - deutlicher noch als bei Lebert - ein für die österreichische Literatur insgesamt charakteristischer erkennen läßt. Dem Werk von Fritsch ist österreichische Geschichte und Literaturgeschichte der fünfziger und sechziger Jahre, der Wandel von (allerdings bei ihm kitschresistenter) Rückwärtsorientierung zur kritischen Gegenwartsausrichtung, von traditioneller Erzählhaltung zu modernen Erzählweisen, die Auseinandersetzung in der österreichischen Literatur der Zeit mit Tradition und Avantgarde/Moderne geradezu beispielhaft eingeschrieben.(21) Beispielhaft ist ebenso der Umgang des Literaturbetriebs mit diesem Werk. Und daher böte es sich auch beispielhaft zu literarhistorischer Darstellung an. Unterzöge man sich der Mühe, Fritschs Texte genau zu analysieren, rückte das Andere der österreichischen Literatur ins Gesichtsfeld, und zwar ohne banale oder tendenziöse Abgrenzung von anderen Literaturen, insbesondere der westlichen deutschen (wenn man sich etwa die Vergleichbarkeit der Orte bewußt macht, von denen aus in der Blechtrommel, der Deutschstunde und in Fasching erzählt wird und welche Folgen das für das Erzählen hier und dort hat).
Zum "Heimat"-Thema noch so viel: Rothschild greift es so wenig wie Kruntorad auf, nur kurz und andeutend werden etwa Gert F. Jonkes Geometrischer Heimatroman als Versuch, "die Welt durch Formalisierung in den Griff zu bekommen" (H XII, 690) oder Franz Innerhofers Schöne Tage als Antiidylle und Gstrein ohne Titelnennung erwähnt. In Barners Literaturgeschichte wird man die Namen von Lebert, Fritsch oder Gstrein vergeblich suchen, Jonkes Geometrischer Heimatroman bleibt ebenfalls ungenannt, Innerhofer wird unter anderen (Roth, Frischmuth, Rosei, Hoffer) in einem ausgerechnet "Austriakische Variationen" (B, 633) überschriebenen Abschnitt aufgezählt. Wie gesagt: Literaturgeschichte, eine Auslöschung.
Erwartungsgemäß durchaus prominent und ausführlich berücksichtigen hingegen beide Literaturgeschichten das Werk Ingeborg Bachmanns. Deren Lyrik wird in Hansers Sozialgeschichte (im entsprechenden Abschnitt der bundesdeutschen Literatur, nicht im Österreich-Appendix) an den Texten vorbei, eher Vorurteile mit jargongesättigter Präpotenz kolportierend als ernsthaft analysierend, und in der Barner-Literaturgeschichte unter dem abschreckenden Titel "Kritische Wortbegier" (B, 242) vergleichsweise einläßlich dargestellt, zum Teil sehr überzeugend textgerecht, zum Teil allerdings auch ohne argumentative Abstützung (etwa die Nähe zu Wilhelm Lehmann) behauptend. Die Erzählbände Das dreißigste Jahr und Simultan finden kaum Beachtung, der sogenannte Todesarten-Zyklus, insbesondere Malina, wird hier nur marginal und im Zusammenhang der neueren Frauenliteratur angesprochen. Die Bedeutung dieser späten Erzählprosa von Bachmann unterstreichen allerdings die Herausgeber des Bandes 12 von Hansers Sozialgeschichte, Klaus Briegleb und Sigrid Weigel, und zwar unter zwei Aspekten. Indem Briegleb erstens der Funktion des Auschwitztraums in Malina nachfragt und "Ortungen der Vernichtungsgeschichte im Subjekt" (H XII, 77) - übrigens ganz im Sinne der Frankfurter Poetik-Vorlesungen der Autorin - herausarbeitet, erkennt er Bachmann eine Schlüssel- oder Vorreiterposition innerhalb der von ihm sogenannten "NS-reflexiven Literatur" (H XII, 74) zu: "In der Bachmannschen Präzision ist sie [die "subjektgeschichtliche Arbeit am NS-Trauma"] von nun an in die deutsche Literatur eingeschrieben" (H XII, 76), namentlich bei Uwe Johnson und Peter Weiss. Zweitens wird Bachmann von Weigel eingeordnet in jene Literatur von Frauen, die weniger am "Entwurf" für eine neue "autonome weibliche Identität" arbeitet, als "Kränkungen und Schädigungen weiblicher Existenz" darstellt (H XII, 1248). Wiederum wird der Schreibweise insbesondere des Traumkapitels von Malina nachgegangen und erkannt, daß sie "einen Zugang zu den subtileren, unsichtbaren Formen der Macht" (H XII, 249f.) schafft und Einsichten in "die Todesarten des Weiblichen in einer Geschichte des Fortschritts" (H XII, 249) erlaubt.
Man könnte mit diesen Ausführungen durchaus zufrieden sein, hätte Bachmann nicht gerade in ihren späten Texten wie auch in Interviews über ihr Verhältnis zu Österreich und ihren Standort in der österreichischen Geistesgeschichte reflektiert. In einem der Interviews zu Malina nun führt sie dazu folgendes aus:
Es gibt kein Land Österreich, das hat es nie gegeben. Und was wir heute so nennen, trägt seinen Namen, weil es in irgendwelchen Verträgen so beschlossen wurde. Aber der wirkliche Name war immer Haus Österreich. Ich komme aus dieser Welt, obwohl ich geboren wurde, als Österreich schon nicht mehr existierte. Doch unterirdische Querverbindungen gelten für mich immer noch, und die geistige Formation hat mir dieses Land, das keines ist, gegeben.
Und auf den Einwand des Interviewers, ob das nicht "nur ein vages Gefühl" sei, antwortet die Autorin entschieden:
Nein. Denn eine außerordentliche Intimität mit dieser langen und großen Geschichte, mit ihrer Literatur, die für mich immer eine größere Rolle gespielt hat als beispielsweise die deutsche, ist eben vorhanden. Vor allem zur Literatur, Musik und Wissenschaft dieses Jahrhunderts. Denn selbst zu deutschen Autoren, vor denen ich Respekt habe, finde ich keine Beziehung. Natürlich aber zu Musil, Kafka, zu Weininger, Freud, Wittgenstein und so vielen anderen.(22)
Dazu ist in zahlreichen Einzelstudien zur Intertextualität in Bachmanns Werken viel gesagt worden und dazu könnte auch noch einiges angemerkt werden, zum Beispiel auch zu dem überraschend genannten Otto Weininger, gegen dessen radikale Geschlechterpolarisierung und deren Folgen in der österreichischen (Geistes-)Geschichte Bachmann in Texten wie Undine geht oder Malina anschreibt. Wie gesagt, man könnte zufrieden sein mit den Ausführungen über diese Werke bei Briegleb und Weigel. Und doch fehlt eine Dimension, die sich genauer Textanalyse eröffnet: der Kontext der österreichischen Literatur- und Kulturgeschichte. Daher auch erscheint Bachmann nicht im Österreich-Appendix - es spricht für sich.
Zum Schluß:
Am zufriedenstellendsten sind die Literaturgeschichten dort, wo sie sich am eingehendsten auf Textinterpretation einlassen, beispielsweise Rothschild über Außenseiter, Briegleb und Weigel über Bachmann, übrigens über weite Strecken die Barner-Literaturgeschichte (zum Beispiel sehr überzeugend über Plivier und Hesse, dagegen blaß, weil interpretatorisch vage bleibend über Ernst Jünger). Literaturgeschichte ist kein Literaturlexikon. Anstatt einem ohnehin nie einlösbaren Vollständigkeitsanspruch nachzujagen, sollte eingehender Textanalyse Raum gegeben werden, statt sklavisch einer starren Ordnung gerecht werden zu wollen, sollte das "Offene" von Texten (man denke an Hölderlin) zu erkennen sein, statt einem linearen literaturgeschichtlichen Erzählen auf einen vorgegebenen Fluchtpunkt hin, sollte man - der Ermutigung Albert Bergers folgend - Lust am Zickzack im "Gestrüpp" erzeugen. Aber diese Forderungen sind leicht erhoben, ein Rezept, sie zu erfüllen, gibt es nicht, eine pragmatische Lösung wird zu suchen sein.
Der hier publizierte Beitrag erschien erstmals in: Donald G. Daviau/Herbert Arlt (Hgg.): Geschichte der österreichischen Literatur. Teil II. St. Ingbert: Röhrig, 1996 (= Österreichische und internationale Literaturprozesse, Bd.3, Teil II). S. 361-371.
(*) Geschichte der österreichischen Literatur - Austrian Literary History von 19.-23.4.1995 an der University of California at Riverside. Die Beiträge, darunter auch der vorliegende erschienen in: Donald G. Davian/ Herbert Arlt (Hgg.): Geschichte der österreichischen Literatur. 2 Bd., St. Ingbert, 1996. [Anm. d. Red.]
Anmerkungen:
(1) Heinz Otto Burger: Vorwort des Herausgebers. In: Annalen der deutschen Literatur. Hrsg. von H.O.B. Stuttgart 1952, unpag.
(2) Vgl. George Steiner: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? München 1990. (= Edition Akzente.)
(3) Vgl. Umberto Eco: Die Grenzen der Interpretation. (München:) Hanser (1990) und Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation. München 1994. Edition Akzente.)
(4) Eco, Zwischen Autor und Text (= Anm. 3), S. 71.
(5) Ebda, S. 152.
(6) Vgl. Christoph Bode: Den Text? Die Haut retten! Bemerkungen zur "Flut" der Interpretationen und zur institutionalisierten Literaturwissenschaft. Graz, Wien 1992. (= Essay. 12.)
(7) G[eorg] G[ottfried] Gervinus: Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen. 2., umgearb. Aufl. Leipzig 1840, S. 12f.
(8) Ebda, S.13.
(9) Burger, Vorwort (= Anm.1), unpag.
(10) Walter Weiss: Das Salzburger Projekt einer österreichischen Literaturgeschichte. Konzepte und Probleme. In: Sprachkunst 14 (1983), S. 56-66, hier. S. 57f.
(11) Vgl. ebda, S. 58.
(12) Albert Berger: Patriotisches Gefühl oder praktisches Konstrukt? Über den Mangel an österreichischen Literaturgeschichten. In: Literaturgeschichte: Österreich. Prolegomena und Fallstudien. Hrsg. von Wendelin Schmidt-Dengler, Johann Sonnleitner und Klaus Zeyringer. Berlin 1995. (= Philologische Studien und Quellen. 132.) S. 29-41, hier: S. 31.
(13) Ebda, S. 36.
(14) Walter Benjamin. Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft. In: W.B.: Angelus Novus. Frankfurt a.M. 1966, S. 450-456, hier: S. 456.
(15) Vgl. die Auflistung bei Weiss, Salzburger Projekt (= Anm. 10), S39ff. Der jüngste, an Fragwürdigkeit kaum zu überbietende Versuch, "das Wesen des Österreichischen in der Literatur" festzumachen, stammt von Joseph P. Strelka: Zwischen Wirklichkeit und Traum. Tübingen, Basel 1994. (= Orpheus. 9.)
(16) Weiss, Salzburger Projekt (= Anm. 10), S. 65.
(17) Klaus Zeyringen Literaturgeschichte als Organisation. Zum Konzept einer Literaturgeschichte Österreichs. In. Literaturgeschichte: Österreich (= Anm. 12), S. 42-53, hier. S. 46.
(18) Vgl. Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hrsg. von Rolf Grimminger. Bd 10.- Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967. Hrsg. von Ludwig Fischer. München 1986. (= dtv. 4352.) Bd 12: Gegenwartsliteratur seit 1968. Hrsg. von Klaus Briegleb und Sigrid Weigel. München 1992. (= dtv. 4354.) - Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. Hrsg. von Wilfried Barner. München 1994. Aus diesen Literaturgeschichten wird im folgenden im Text mit den Siglen H X, H XII bzw, B und einfacher Seitenangabe zitiert.
(19) Gerald Stieg [Rez.]: Sanfter Imperialismus ? In: profil vom 3.10.1994, S.14f., hier. S. 15.
(20) Walter Weiss: Zwischenbilanz. Österreichische Beiträge zur Gegenwartsliteratur. In: Zwischenbilanz. Eine Anthologie österreichischer Gegenwartsliteratur. Hrsg. von W.W. und Sigrid Schmid. Salzburg 1976, S. 23.
(21) Vgl. Albert Berger. Die austriakische Restauration. Gerhard Fritschs Verhältnis zu Österreich. In: Österreichische Literatur seit den 20er Jahren. Beiträge zu ihrer historisch-politischen Lokalisierung. Hrsg. von Friedbert Aspetsberger. Wien 1979, S. 68-80
(22) Ingeborg Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews. Hrsg. von Christine Koschel und Inge von Weidenbaum. München, Zürich 1983, S. 79f.
Webmeisterin: Angelika Czipin
last change 26.11.1999