Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 7. Nr. Juni 2002

Norbert Gstrein oder von Einem, der auszog, die Kälte zu lernen

Cornelia Michelis (Vieux-Condé)

"Made in Austria!"...

Sollten Sie Lust darauf haben, in Erinnerungen an schneebedeckte Berghänge oder an winterliche Schussfahrten durch Bilderbuchlandschaften zu schwelgen, dann vertrauen Sie besser nicht auf Norbert Gstrein, dessen literarisches Werk Postkartenklischees zu vermeiden sucht.

Dies ist dem 1961 im Tiroler Ötztal geborenen Autor bisher gelungen: Gstrein irritiert uns, unter anderem durch seine schamlose Kritik an der nur scheinbaren Gemütlichkeit, der falschen Töne, die in der Harmonie österreichischer Bergdörfer mitschwingen können, in diesem "locus amoenus", wo der Schnee manchmal düstere Kulissen verbirgt, finstere Abgründe zudeckt. In einem bis zum Äußersten gespannten Stil drohen die Wörter zu explodieren, den Leser entweder unter der Lawine eines nicht enden wollenden Wortflusses zu begraben oder ihn in der tödlichen Stille des Unausgesprochenen erfrieren zu lassen.

Seit seinem mehr als vielversprechendem Erzähldebüt mit Einer (1988) hat der Autor den trügerischen Schein malerischer Dörfer entlarvt, die täuschende Fassade des (Un)heim(at)lichen, die mit der Macht der Gewohnheit Touristen und Einheimische vor einer grandiosen Bergkulisse seit Jahrzehnten zum Familienfoto versammelt.

Wie bei Thomas Bernhard rahmt diese nur scheinbar anheimelnde Natur Romanfiguren ein, in deren Leben sich Verzweiflung und Verstörung heimtückisch eingeschlichen haben, in deren Körpern und Köpfen die Kälte weilt, so wie sie der Fürst Saurau in Bernhards Verstörung als einen Teil seiner selbst beschreibt, einen übermächtigen Dämon, der sich in seinem Inneren mit frostigen Krallen eingenistet hat.

Einer ist die Geschichte einer verpfuschten Kindheit, eines verkrüppelten Erwachsenlebens, einer gescheiterten Existenz, in der Gstrein Elemente des Kriminalromans anklingen lässt.

Jakob ist eben einer (von uns, unter vielen, wie wir?), der zwischen den schneeigen Abhängen einer vom Tourismus überrollten, verunstalteten Natur und den erschreckenden, erniedrigenden Erlebnissen eines Schülerlebens in der Großstadt hin- und hergeworfen wird: beide Schauplätze des Dramas sind gleichermaßen kalt, die Protagonisten sehen mit gelassenr Gleichgültigkeit auf das menschliche Leiden herab.

Wie bereits vor ihm Thomas Bernhard erweist sich Norbert Gstrein als Idyllenzerstörer, seine Berichte kreisen um Figuren, die hoffnungslos ums Überleben kämpfen, aber bis zum bitteren Ende Außenseiter bleiben. Ohne Bernhard nachzuahmen, müssen die Analogien dem geschulten Leser ins Auge fallen: wie bei Bernhard wirken in Einer Winterlandschaft, verstörte Menschen, Abstumpfung und Grausamkeit der Dorfbewohner, die vom Rest der Welt abgeschnitten sind, erschreckend und ernüchternd zugleich.

Dazu trägt Gstreins Sprache bei, in ihrer Kargheit auf das Wesentliche reduziert, eine gespannte Prosa, in der die Gewalt plötzlich die so "harmlos" anmutende Satzstruktur an vielen Stellen sprengt:

Es ist schon richtig und alles gerade so geschehen, wie es gut war. Sie hatten das Kind geschlagen, und Mutter erzählte immer noch voll Stolz, wie sie mit ihm fertiggeworden sei [...] Das Kind hatte Lungenentzündung und war grün und blau geschlagen worden, bevor man es in die Klinik brachte, an jenem Abend, Schnee sei gefallen [...] Geschadet hätte es keinem, und solange niemand umkam, war das Gegenteil nicht bewiesen.(1)

Diese Szene, in der eine Mutter ihr Kind misshandelt - und dies unter dem Vorwand, ihm eine gute Erziehung angedeihen zu lassen - gibt den Ton dieser Erzählung an, in welcher der Schnee zäh und langsam fällt, als ob er eine Welt des Schreckens hinter der Fassade der Humanität verstecken wollte.

Die Erzählstruktur der sieben Tage in Einer lässt uns an die der Schöpfungsgeschichte denken: der Schnee, der die ewige Wiederkehr des Gleichen am ersten Tag eröffnet, scheint derselbe, der am letzten Tag den Kreis schließt. Jakobs Leben ist gleichzeitig eines unter vielen, aber auch ein Schicksal, dass vom Rhythmus einer winterlichen Natur geprägt wird, welche die Menschen in einen Teufelskreis von Eintönigkeit und Abstumpfung hinabzieht.

Auf der letzten Seite der Erzählung verlässt der Leser das Buch mit dem Eindruck, dass eine neue Woche beginnen wird, in der eine andere gescheiterte Existenz auf der Bühne dieses Wintertheaters seine tragische Rolle spielen wird.

Jakob ist zum Opfer einer Verzweiflung geworden, die ihren Ursprung ebenso in dem von seiner Erziehung verursachten, nicht mehr zu behebenden Schäden findet wie im respektlosen und zerstörerischen Verhalten der Touristen, die in seinem Heimatdorf dem Wintersport frönen.

Von nur mittelmässiger Intelligenz, verbringt Jakob seine Kindheit zwischen einer autoritären, gelegentlich gewalttätigen Mutter und einem tumben, charakterlosen Vater; seine Jugend wird endgültig zerbrochen, wenn er mit der Gewalt in der Stadt konfrontiert wird, in der seine Mitschüler ihre ekelerregende Brutalität bis zur Vergewaltigung treiben:

Was wußte Mutter schon? Sie kannte das Ende, aber nicht, was sich dahinter verbarg [...] Er folgte ihren [der Mitschüler] Anordnungen und versuchte durch vorauseilenden Gehorsam das Schlimmste noch zu vermeiden, als es längst geschehen war, wehrte sich nur einmal, ein einziges Mal in all der Zeit, als sie ihn im Pissoir mit heruntergelassener Hose festhielten, hieb den Klobesen auf die zudringlichen Hände, in die lachenden Gesichter, und dafür bezog er die ärgste Prügel, bis er auf dem glitschigen Boden im Uringeruch liegenblieb, und die Bastonade über tausend Tage dauerte, eins zwei drei, laut mitzählen und nach jedem Schlag das Bekenntnis: ich bin ein kleines Schwein [...] Wie hätte er davon sprechen sollen? Hatte sie ihn, Mutter, hast du mir je die richtigen Worte gelehrt, oder der Vater?(2)

Der Junge leidet von nun an unter schweren Sprachstörungen: die Sprachkrise, bis heute ein Lieblingsthema der österreichichen Autoren, wird hier zu einer Art Autismus, den die Touristen in Jakobs Dorf durch ihre spöttische Haltung zum Extrem treiben, sie degradieren Jakob zur Sehenswürdigkeit, zum ewigen "Dorftrottel". Von Gott, der Welt und der einzigen unerwiderten Liebe einer Frau verlassen, verkommt Jakob immer mehr bis zu jenem Tag, an dem die Gendarmen ihn wegen Mordes festnehmen:

Er fing an, sein Äußeres zu vernachlässigen. er wusch sich nicht [...] mit einem Geruch, nicht zu Aushalten und nur zu beschreiben, weil man wußte, es ist Bier und Wein und Zigarettenrauch [...] und noch stolz zu sein schien, lachend auf einen dunklen Fleck wies und die letzten Übrigbleibsel von Erbrochenem darin [...] Mit den Jahren seien ihm die Zähne einzeln aus dem Mund gefault, und er aß nur noch Suppen.(3)

Von Anfang bis zum Ende der Erzählung lädt Gstrein den Leser ein, dieses Puzzle zu rekonstruieren, ein Puzzle, dessen Teile man nach und nach entdeckt, wie ein Spurensucher, der sich mühsam einen Weg durch den Schnee, der den Rahmen der Handlung bildet, schlägt.

Nur Schritt für Schritt dringt der Leser zur Identität und dem Schicksal der Figuren vor; die Geschichte ähnelt in der Tat einem Kriminalroman, in dem der Schnee, Winter wie Sommer, ohne Unterlass und sogar bis in die Köpfe der Menschen hinein fällt:

Schon im Sommer hatte sich in dicken Flocken der erste Schnee naß auf die Wiesen gesetzt [...] der unaufhörlich fallende Schnee [...] keinen Gedanken zuließ als den Schnee, der in den Köpfen unaufhörlich weiterfiel.(4)

Dieser Schnee weckt ambivalente Gefühle: er wird zuerst vom Pater gesegnet und von den Dorfbewohnern mit Enthusiasmus empfangen, denn er verbessert sichtlich ihre bescheidenen Lebensbedingungen:

auf dem Altar, wo der Pater um Schnee bat oder was man sonst noch brauchte.(5)

Wenn auch seine Weiße und Reinheit dem frommen Wunsch des Paters entsprechen, der den wirtschaftlichen Aufschwung seiner Gemeinde keineswegs vernachlässigen möchte, so wird derselbe Schnee das Leichentuch derer werden, die den lockenden Versuchungen eines besseren Lebens nicht widerstehen können, ein Leben, das die Dorfbewohner in die Rolle eines Clowns für Touristen abdrängt:

Ihre Großväter hatten der Großväter der Gäste gedient [...] animierten um ihr Leben und animierten sich zu Tode [...] ausgezehrt vom vergangenen Sommer [...] oder längst im nächsten Winter, wenn das Leben weiterginge und sie hervorholte und wieder zurückstieße in dieselbe Einsamkeit oder eine tiefere? Jeder mußte selbst damit fertig werden oder wenigstens verbergen, daß er nicht damit fertig wurde.(6)

Im gleichen Maße wie die Kälte des Winters die Dorfbewohner aus ihrer Lethargie weckt, stößt sie diese in eine so unerträgliche Einsamkeit zurück, dass manche ihrem Leben ein Ende setzen, so wie Karlinger, der sich erhängt, nachdem er vergeblich versucht hat, Hilfe bei der Telefonseelsorge zu finden: niemand hatte den am Abgrund Stehenden zurückgehalten.

Gstrein scheint hier das radikale Urteil verinnerlicht zu haben, das Thomas Bernhard durch die Worte des Landarztes in Verstörung ausgesprochen hatte:

Die Leute auf dem Land, die zuerst in ihrer Brutalität und dann in die völlige Hilflosigkeit über ihre Brutalität ausarten, die immer in alles ausarten müssen, diese Leute seien heute erschreckend in der Mehrzahl [...] Die Brutalität in der Stadt sei nichts gegen die Brutalität auf dem Land und die Gewalttätigkeit in der Stadt nichts gegen die Gewalttätigkeit auf dem Land.(7)

Die Kälte, die das Land beherrscht, übertrifft bei weitem die Kälte in der Stadt; Jakob muss dies auf besonders tragische Weise am eigenen Leib erfahren: gleich zu Anfang der Erzählung fehlt es nicht an Zeichen, die auf einen fatalen Ausgang der Geschichte hinweisen:

und am Hotel Kleon, wo Leute am Balkon sitzen, ohne darauf zu achten, hat [das Auto] den dahinter liegenden Stall erreicht, an dessen Eingang in einer kleinen Lache Schweineblut versickert.(8)

Die winterliche Landschaft zeigt uns ihren Januskopf: auf den ersten Blick trägt der Schnee dazu bei, einen angenehmen Rahmen zu schaffen, vor dem sich fröhliche Touristen tummeln, aber hinter den Kulissen kündigen die Spuren von Schweineblut die morbide Kehrseite der Medaille an, der Stall wird zum brutalen Kontrapunkt, bittere Ironie in dieser Welt des weißen Spaßes. Dieses Blut, das langsam in den Schnee eindringt, erscheint wie ein todbringendes Symbol, trägt es doch den späteren Mord bereits in sich.

Auf dem Land erweisen sich Gewalt und Brutalität als hinterhältige Mächte, die sich heimlich in unser Leben schleichen, um es um so tiefer zu untergraben. Durch sein Schweigen hat Jakob jahrelang alles in sich hineingesogen; die Kälte scheint diese stille Gewalt zu konservieren, der Schnee überdeckt sie, um sie später wie eine Zeitbombe explodieren zu lassen. In seinem Heimatdorf atmen Landschaft und Menschen eine tödliche Kälte aus, der die Schwächsten zum Opfer fallen - Jakob wird bis zuletzt ein Opfer seiner Umwelt bleiben: selbst in seiner Familie ist er ein Ausgestoßener, Zuflucht suchend am ewig kalten Herd der Küche, dieser Küche, in der seine Mutter herrscht, und wo doch häusliche und mütterliche Wärme nirgends zu finden sind. Für die Schulkameraden war Jakob das Lieblingsopfer, das sie den schlimmsten Folterungen unterzogen. Was die Touristen und ihre künstliche Fröhlichkeit anbetrifft, so suchen sie während ihres Ferienaufenthaltes zwar den Kontakt zu den Einheimischen, strafen sie aber grundsätzlich mit Verachtung. Und die Beziehungen zum anderen Geschlecht bleiben für Jakob ebenso frustrierend, da sie wie Schatten ohne Körper durch sein Leben huschen.

Nur selten reizt Gstreins ironische Bilderwelt zum Lachen, aber immer trifft sie ihr Ziel mit minutiöser Schärfe, wenn er zum Beispiel einen Schneemann mit einer brennenden Kerze an der Stelle des Gliedes vor die Kirche stellt: der Spott über den Katholizismus erreicht hier seinen Höhepunkt, in dem er die Sexualität als einen Trieb darstellt, der religiöser Tyrannei und eisiger Kälte unterworfen ist.

Tatsächlich ist es auch seine Beziehung zur Kirche, zur Religion, die mit zur tiefen Verstörung Jakobs beigetragen hat; die Glaubenskrise geht mit der Sprachkrise, auf die wir bereits angespielt haben, einher: Jakobs eingefrorener Glaube (denken wir an Kellers gefrorenen Christen) zweifelt an diesem Gott, den er nur in einer feindlichen und gleichgültigen Umgebung antrifft:

Gott, las man in Blockbuchstaben als Erklärung darunter und manchmal andere Worte, verständliche, wie Heimsuchung oder Vertreibung [...] An den Werktagen ließ die Mutter uns (Jakobs Geschwister)schlafen und schickte ihn [Jakob] früh am Morgen allein in die Kirche, auch im Winter, wenn es noch dunkel war und zuweilen Schnee gefallen und keine Spur auf der ungeräumten Straße [...] habe er es in der Mitternachtsmette nicht mehr ausgehalten [...] immer wieder wäre es ihm hochgekommen, hätte ihn gewürgt, daß er schließlich erschöpft liegenblieb im Schnee, vor dem Eingang, wo man ihn halberfroren fand.(9)

Drei entscheidende Faktoren, die Jakobs Religionsfeindlichkeit untermauern, sind hier vereinigt: Dunkelheit, Kälte und Einsamkeit, Elemente, die im perfekten Antagonismus zu einem moralischen Trost stehen, der von Helle, Wärme und Gemeinschaftssinn durchflutet wird. Jakob hätte vor Kälte auf den Stufen der Kirche sterben können, ein Detail, das die Horrorvision eines der Liebe und Solidarität beraubten Universums bis zum Äußersten treibt. Aber das Schreckliche wird tropfenweise destilliert, um die Unwahrscheinlichkeit des Geschehens zu vermeiden: durch die Anwendung einer einfachen Sprache und einen kargen Stil verstärkt der Autor noch den grausamen Charakter der hier begangenen Verbrechen - in einer Welt, wo die Sprache all ihre Nützlichkeit verloren hat, wo die Menschen am Nullstadium der Kommunikation und des Verstehens angelangt sind.

Der Leser findet sich in einem Umfeld wieder, das von perfekter Banalität gekennzeichnet ist, phantastische oder groteske Elemente wird man vergeblich suchen, auf jede Spur von Intellektualismus wird absichtlich verzichtet, denn es geht Gstrein um das Schicksal eines einfachen Menschen, im Räderwerk der Gewalt und der Gleichgültigkeit gefangen, Opfer einer Kälte, die ihn langsam auslöscht.

Es gelingt Gstrein aufzuzeigen, dass die "schlimmste" Kälte vielleicht die der Banalität und der Banalisierung ist, der Gleichgültigkeit, auf die wir tagtäglich stoßen und die, in einem ganz anderen Bereich, die der Polarregionen übertrifft, in der (Super)Männer nach Abenteuern lechzen oder die der Intellektullen, die von der großen Kälte träumen, zu einer Zeit, in der nichts mehr ihre Vortellungskraft anheizt. Diese besonders schädliche und gefährliche Kälte streift draußen umher, schleicht sich überall ein, niemand kann ihr entrinnen: mit Einer hat Norbert Gstrein die Alarmglocke geläutet, die uns vor einem ungreifbaren, schier immateriellen Übel warnt, das sich mit der Macht der Gewohnheit im Leben eines jeden auflöst, ohne dass wir seiner Herr werden.

Einige Jahre später hat der Autor diese Idee in Das Register (1992) wieder aufgenommen, einem Roman diesmal, in dem die beiden Protagonisten Vinzenz und Moritz, Abziehbilder des Jakob und seiner Umgebung, in ihr Heimatdorf zurückkehren, um der Hochzeit ihrer Schwester beizuwohnen: die friedliche Harmonie, die der Schnee ihrer Kindheit verbreitete, ist nur noch eine ferne Erinnerung. Dem Erzählschema von Einer nachgebaut, hat sich ihr Dorf zum (Un-)Ort der Lüge und der lang verborgenen Schuld gewandelt, so, als ob der Schnee der Jahre das Böse und die an den anderen verübten Untaten hätte verstecken können.

Wieder einmal hausen in den Bergen und auf schneebedeckten Hängen Dummheit und Verbrechen; durch Frost und Schnee bleibt alles Übel eingegrenzt, ja verstärkt, abgekapselt von jeglichem positiven und fürsorgenden Einfluss.

Doch selbst wenn beängstigende Alpenlandschaften und trügerische Skiparadiese nicht den Rahmen seiner Erzählungen bilden, bläst eisige Kälte durch die Seiten seiner Bücher, immer wieder von einer zugleich verhaltenen und aufs Äußerste gespannten Prosa durchzogen, in der sich stille Gewalt hinter ausdrucksvoller Einfachheit verbirgt.

Wenn Gstrein auch mit seinem Erfolgsroman Die englischen Jahre (1999) die heimische Dorfwelt Österreichs verlassen hat, bleibt die Kälte ein "Markenzeichen" seiner Gestalten: In diesem Buch zeigt sich auf außergewöhnliche Weise das Talent des Autors, Erzählperspektiven zu wechseln: wir folgen den Spuren Hirschfelders, eines jüdischen Schriftstellers, der zuerst im Exil lebt und wenig später, im Jahre 1940, in englische Gefangenschaft gerät. Auf Anregung ihres Freundes, einem kritiklosen Bewunderer Hirschfelders, versucht eine junge Psychiaterin, die Bruchstücke dessen faszinierenden Lebens wie ein Puzzle zusammenzubauen. Von Seite zu Seite wird der Leser gewahr, dass er eines wahrhaften, wenn auch unglaublichen Schwindels aufgesessen ist: der Roman endet mit der brutalen Zerstörung des Mythos Hirschfelder. Wie in Einer ähnelt die Intrige einer Kriminalgeschichte: Identität und Maske, Lüge und Wahrheit, Geschichte und Fiktion, der Leser verliert sich gern in diesem Irrgarten der Spiegel und Geheimnisse, souverän angelegt dank einer Sprache, die sich ohne Anstrengung zwischen poetischen Porträts und schneidenden Dialogen hin- und herbewegt.

Die Erzählerin samt ihrem Lebenspartner aus den Englischen Jahren lässt Gstrein in seinem letzten und sicher reifsten Roman wieder auferstehen: Selbstporträt mit einer Toten (2000). Kälte herrscht zwischen diesen beiden Gestalten, nur noch übertroffen von dem deprimierenden, nicht enden wollenden Regen, der fünf Tage lang die Handlungsdauer begleitet. Unaufhörlich zwingt der Regen dem Geschehen seinen monotonen Rhythmus auf: er fällt auf die Seiten des Romans wie der ununterbrochene Monolog des (fiktiven) mittelmäßigen und erfolglosen Schriftstellers, der seine Lebensgefährtin mit dieser agressiven Logorrhöe schier erstickt, während sie verzweifelt den Versuch unternimmt, sich den Selbstmord einer ihrer Patientinnen von der Seele zu reden:

Das war meine Chance, dachte ich, endgültig zu sagen, wie sehr mir das Unglück zu schaffen machte, ihm von meiner schlaflosen Nacht zu erzählen und ihn zu bitten, mich in den Arm zu nehmen, mich festzuhalten, mich nicht mehr loszulassen, aber er schrie in den Lärm eines ausfahrenden Zuges, Tanner, Karg und Wilhelm, an ihnen wäre es gelegen, die Wernicke zu stoppen, Tanner hätte Ochsners Mann sein sollen, Karg Ladurners und nicht Wilhelm meiner, aber nichtsdestotrotz sind sie Abend für Abend ihr nach, der Gnädigen, Abend für Abend ins Casino...(10)

Das Scheitern jeglicher Kommunikation, das Schicksal dieses Paares, scheint die Sintflut fortzuschwemmen; die unglaubliche Fülle von überfließenden und überflüssigen Worten, die der Protagonist nahezu manisch aneinanderreiht, verwäscht ihren Sinn, entleert sie jeglicher Bedeutung, so wie draußen der Regen die Stadt in eine verschwommene Dunkelheit taucht.

Die Sprache zerbröckelt, verselbständigt sich in diesem Wortschwall, der Leben und Tod übertönt:

seine Stimme hatte auf einmal etwas Poröses, wie wenn einzelne Silben fehlten, wie wenn Buchstaben abbröckelten, und seine weit ausholenden Gesten wirkten auf mich übertrieben, sein abruptes Blinzeln und das stumme Auf und Zu seines Mundes, wenn er Luft holte, das leere Schnappen, bei dem ich mir immer vorstellte, wie sich die Stille ausbreitete, wenn er endlich aufhören würde, ein sturzbachartiges Hervorschießen, gefolgt von einem langsamen Verästeln, eine Bewegung wie von einem Schwall Wasser auf einem riesigen Asphalt.(11)

Kein Ausweg, nirgends - in der Großstadt sterben Kommunikation und menschliche Wärme, an diesem Ort, wo der Beton alle Hoffnung im Keim erstickt, wo die Kälte keine verschneite Winterlandschaft braucht, um sich (tod)sicher auszubreiten.

Dieser Roman berührt, erregt, verstört den Leser: auf jeden Fall können wir dieser prägnanten Analyse der Einsamkeit nicht gleichgültig gegenüberstehen. Immer wieder schleicht sich das Unbehagen auf den (Um)wegen der Sprache in das Leben ein, durchdringt es wie Winterkälte oder Regennässe, um tiefe Spuren in der Seele der Protagonisten zu hinterlassen.

Von Einer bis Selbstportrait mit einer Toten ist der Stil des Autors (aus)gereift; Norbert Gstrein ist mit Bravour von der Beschreibung eines unheimlichen Autismus, der Flucht in die Stille zu der Heraufbeschwörung eines erstickenden Redeflusses gelangt, der nicht minder von einem tiefliegenden Unwohlsein zeugt. Sicher ist, dass Gstrein bis auf weiteres zu einem der vielversprechensten Talente seiner Generation und der österreichischen Kulturszene gehört.

© Cornelia Michelis (Vieux-Condé)

home.gif (2030 Byte)buinst.gif (1751 Byte)        Inhalt: Nr. 7


Anmerkungen:

(1) Gstrein, Norbert: Einer, 1988, Suhrkamp, Frankfurt a.M., S.110 ff.

(2) Ibd., S. 23 ff.

(3) Ibd., S. 87 ff.

(4) Ibd., S. 17, 31 ff.

(5) Ibd., S. 79

(6) Ibd., S. 57 ff.

(7) Bernhard, Thomas: Verstörung, 1967, Suhrkamp, Frankfurt a.M., S. 15.

(8) Gstrein, Norbert: Einer, 1988, Suhrkamp, Frankfurt a.M., S. 11.

(9) Ibd., S. 108 ff.

(10) Gstrein, Norbert: Selbstportrait mit einer Toten, 2000, Suhrkamp, Frankfurt a.M., S.15.

(11) Ibd., S. 47.


Webmeisterin: Angelika Czipin
last change 06.06.2002