Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 7. Nr. September 1999

Die Spezifizität der österreichischen Literatur aus französischer Sicht
Ein Rückblick

Gilbert Ravy (Rouen)

Gibt es eine spezifisch österreichische Literatur? Der französische Leser der 60er und 70er Jahre, hätte er sich danach gefragt, hätte vermutlich versucht, auf diese scheinbar so einfache Frage eine Antwort in den Literaturgeschichten zu finden, die ihm in den Regalen der französischen Bibliotheken zur Verfügung standen.

Was er aber da gefunden hätte, wäre bestimmt nicht dazu angetan gewesen, ihm auch nur die ersten Elemente einer Antwort zu vermitteln. In der in allen Bibliotheken stehenden Histoire de la littérature allemande(1) ist freilich ein besonderer Teil "Den Österreichern" gewidmet - dies aber innerhalb des Kapitels "Das Zeitalter Bismarcks". Ein anderes Kapitel, das den Titel "Wien" trägt, steht unter der Gesamtrubrik "Das Deutschland Wilhelms II.". Als österreichisch werden stets und regelmäßig jene Dichter bezeichnet, die für das Ausland und Frankreich insbesondere die Wiener Literatur schlechthin verkörpern (Hofmannsthal, Schnitzler stehen da an erster Stelle), während andere aus unerklärlichen Gründen im Niemandsland der deutschen Literaturwissenschaft bleiben. Dies gilt erstaunlicherweise etwa für Robert Musil, der in die Rubrik "das zeitgenössische Deutschland" aufgenommen wird. Unter solchen Vorzeichen ist es nicht weiter verwunderlich, daß die Frage einer Eigenständigkeit der österreichischen Literatur nicht einmal gestellt wird, und daß man vergebens nach den Ansätzen einer näheren Charakterisierung suchen würde.

Was für die Nachschlagewerke der französischen Germanistik galt, galt erst recht für die journalistische Kritik, die auf eine Spezifizität der österreichischen Literatur nie einging, Autoren wie Schnitzler, Roth oder Hofmannsthal kaum erwähnte und zeitgenössische Autoren wie Peter Handke nicht selten als "bundesdeutsche Schriftsteller" bezeichnete.

Ich wollte zunächst kurz an den erwähnten Zeitraum der 60er und 70er Jahre erinnern, weil die Analyse der jetzigen Situation sowie früherer Perioden erst durch den impliziten Vergleich interessant wird.

Ende der 70er Anfang der 80er Jahre vollzieht sich bekanntlich in Frankreich eine deutliche Wende in der Wahrnehmung der österreichischen Literatur, zum größten Teil bedingt durch die um sich greifende Mode vom "Vienne fin de siécle". Auf einmal geraten im Gefolge der Entdeckung aller österreichischen Kunstformen der Jahrhundertwende die Autoren jener Zeit in die Bestsellerlisten des französischen Buchhandels. Einen nicht unwesentlichen Beitrag zu dieser Entwicklung lieferte selbstverständlich die im Centre Pompidou stattfindende "Wiener Austeilung" unter dem Motto der fröhlichen Apokalypse. J. Roth, R. Musil, A. Schnitzler, F. Werfel, S. Zweig, deren Werke in den 30er Jahren übersetzt worden waren, werden neuentdeckt, als Taschenbuch veröffentlicht, während andere bis dahin weniger wenn nicht sogar völlig unbekannte Autoren wie Peter Altenberg oder Karl Kraus in allen Auslagen erscheinen und nicht selten zum Gegenstand umfangreicher Rezensionen werden.

Von nun an gibt es für die französische Kritik eine spezifisch österreichische Literatur oder wenigstens österreichische Schriftsteller, die regelmäßig als solche bezeichnet werden, wenigstens soweit ihre Werke in die vorgeformte, zum gängigen Klischee gewordene Kategorie vom "Ende einer Kultur", vom "Untergang eines Imperiums" hineinpassen. Roth, Schnitzler oder Musil gelten ausschließlich als die Vertreter einer Literatur der Agonie, als die Zeugen eines Weltuntergangs. Die österreichische Literatur wird auf die "Diagnose einer sterbenden Welt" eingeschränkt (Le Matin, 8.6.1984). Besonders symptomatisch ist in dieser Hinsicht die Umtitelung von Schnitzlers Roman Der Weg ins Freie, der 1984 in der französischen Übersetzung als Vienne au crépuscule, "Wien in der Dämmerung" veröffentlicht wird. Die Titel der Zeitungsartikel, die der österreichischen Literatur gewidmet sind, bestätigen auf eklatante Weise diese einseitige Einschätzung:

"Une Autriche malade d'elle mêrne" (La Quinzaine littéraire, 16/30.11.82)
"La marche d'un empire à la mort" (Le Devoir 22.1.83)
"Sombres prophètes viennois" (Sud-Ouest, 12.9.82)
"Craquements viennois" (La Croix, 1.6.85)

Da ich aus Platzmangel nicht auf die Rezeption jedes einzelnen Dichters eingehen kann, möchte ich zwei besonders markante Beispiele der erwähnten Dichtergeneration anführen: Joseph Roth und Arthur Schnitzler. In den 80er Jahren waren fast alle Werke beider Autoren übersetzt bzw. neuveröffentlicht worden. 1982 widmet La Quinzaine Littéraire Joseph Roth zwei volle Seiten ihrer Literaturbeilage. Unzweideutig wird der Verfasser von Radetzkymarsch als "einer der bedeutendsten Vertreter des österreichischen Romans" dargestellt. An anderer Stelle kann man lesen, Roth sei "Österreicher wie man Dichter ist, d.h. absolut" (Le Magazine Littéraire). Im Figaro wird nicht nur auf die galizisch-jüdische Herkunft Roths hingewiesen, sondern auch auf "den alten barocken Nährboden" seines Werkes sowie auf eine "besondere Sensibilität des Österreichers Roth", "die durch das slavische, jüdische und germanische Erbe" bedingt sei, "zu dem der Einfluß der Latinität" hinzukomme. Es tauchen also an dieser Stelle die ersten Ansätze einer Bestimmung der Eigenart der österreichischen Literatur auf, wohl im Zusammenhang mit der neugewonnenen Einsicht in den historischen Kontext ihrer Entstehung im Vielvölkerstaat.

Schnitzlers Wiederentdeckung geht ebenfalls Hand in Hand mit der Vorstellung jener Untergangsstimmung, die jetzt in Frankreich alles Österreichische kennzeichnet. Solche literarische Neugeburten bringen meistens auch einen Wechsel der Perspektive mit sich: hatte man in den 20er und 30er Jahren nur die Leichtigkeit, die "Frivolität" von Schnitzlers Novellen und Theaterstücken hervorgehoben und den Dichter gern als "Boulevardier" abgestempelt, so bemühen sich jetzt die Kritiker, dieses fertige Image zu korrigieren. Der Wiener Arzt Arthur Schnitzler wird (mit stets wiederholter Anspielung auf Freud, wenn nicht auf eine wie man weiß völlig irrtümliche Vorstellung einer engen Freundschaft zwischen beiden Ärzten) als "der schärfste Analytiker der bürgerlichen Gesellschaft in der Zeit der Dämmerung" (Le Monde, 12.10.84), als der "Kliniker der Seele" (Le Magazine Littéraire) bezeichnet.

Damit sind wir an dem Punkt angelangt, an dem die Frage klar gestellt werden muß: es gibt zwar von nun an für die französische Kritik eine als solche anerkannte und bezeichnete österreichische Literatur und es werden in diesem Sinne auch Versuche gemacht, bestimmte Bezüge zwischen dem einen und dem anderen Autor herzustellen, die auf eine irgendwie geahnte Verwandtschaft und Zusammengehörigkeit hinweisen, aber wie steht es mit der Spezifizität? Wird sie überhaupt bewußt formuliert und, wenn ja, welche Kriterien dienen in Frankreich zur Wesensbestimmung der österreichischen Literatur?

Man wird freilich nicht erwarten, daß diese Frage mit Begriffen wie "der habsburgische Mythos" (Magris), "die Thematisierung der Ordnung" (W. Weiss) oder "die Selbstentfremdung des Menschen" (H. Oles) behandelt wird. Man könnte aber meinen, die größere Distanz schaffe neue Gesichtspunkte, was jedoch nicht der Fall ist.

So möchte ich an dieser Stelle noch einmal auf das bereits erwähnte Beispiel Arthur Schnitzler zurückkommen. In einem doppelseitigen Artikel der Nouvelles Littéraires vom 9. Oktober 1980 befaßt sich Pierre Combescot mit dem, was in seinen Augen drei österreichische Schriftsteller (Arthur Schnitzler, Peter Handke, Thomas Bernhard) miteinander verbindet. Seinen Artikel betitelt er "Drei Schriftsteller an der schwarzen Donau. Wie kann man ein Österreicher sein?". Darin vertritt er die Ansicht, daß die Grundkomponente der österreichischen Literatur seit dem 19. Jahrhundert und bis zur heutigen Zeit die Paradoxie der sorglosen Fröhlichkeit und der ständigen Obsession des Todes, des Selbstmordes und des Wahnsinns sei. Zum ersten Mal wird hier versucht einen österreichischen Leitfaden innerhalb der deutschsprachigen Literatur zu finden:

Ist die Literatur eines Landes ein Abbild seiner Bevölkerung, dann birgt Österreich wohl geheime Abgründe in sich, das Spiegelbild der beunruhigten Seele seiner Bewohner, die seit einem Jahrhundert aus dem Wahnsinn, den Selbstmorden und allerlei Apokalypsen eine Spezifizität gemacht haben (...) Heute gibt es Österreich nicht mehr, aber ein österreichischer Schriftsteller ist immer noch unter tausend anderen zu erkennen. Er ist der Erbe einer untergegangenen Kultur aber auch dieser endemischen Fatalität.

Nennen wir dies nun anders, habsburgischen Mythos oder barockes Erbe, es wird jedenfalls ein Spezifikum behauptet. Mit dem Hinweis auf die Obsession des Todes und des Selbstmordes wird eine Brücke geschlagen zwischen der Glanzzeit der österreichischen Literatur vor und nach der Jahrhundertwende und ihren zeitgenössischen Vertretern. So wird nach Stefan Zweig die Nachkriegsgeneration in einem Zug genannt: Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Gerhard Fritsch, die alle "ihre Apokalypse bis zum Selbstmord erleben". So stehen auch heute, setzt Combescot fort, Peter Handke und vor allem Thomas Bernhard "in der großen Wiener Tradition". Auch Claude Prévost (L'Humanité, 09.01.1984) sucht nach ähnlichen Verbindungslinien zwischen den heutigen Vertretern der österreichischen Literatur und der älteren Tradition. Unter dem Titel "Der österreichische Schmelztiegel - Tod und Wiedergeburt" werden Joseph Roth und Peter Handke als Angehörige der "großen Kultur eines kleinen Landes" betrachtet und behandelt, freilich ohne daß nach tieferen Verwandtschaftsmerkmalen geforscht wird.

Es sind also noch keine sehr überzeugenden Argumente, aber immerhin wird hier eindeutig auf eine Spezifizität der österreichischen Literatur hingewiesen und der Versuch unternommen, andere Maßstäbe zu setzen als rein geographische.

1982, also zwei Jahre später veröffentlicht die Zeitung Sud-Ouest eine Österreich-Beilage mit dem Schwerpunkt Jahrhundertwende/moderne Literatur. Schon in den ersten Zeilen wird auf die Problematik eingegangen, die uns hier interessiert:

Es gibt aber eine spezifische österreichische Literatur. Den ungarischen, tschechischen, slowakischen, serbischen, jüdischen, polnischen und anderen kulturellen Einflüssen offen, bietet die österreichische Literatur vielleicht und vor allem eine größere Universalität.

Der Kosmopolitismus und das Erbe des Vielvölkerstaats gelten hier als Hauptkriterium bei einer Definition der österreichischen Literatur, was freilich weder neu noch sehr fruchtbar ist. Aber es zeugt von einer unübersehbaren Entwicklung in der Einstellung der Franzosen zur Frage "Österreich in der deutschsprachigen Literatur". An anderen Stellen trifft man auf ähnliche Versuche, spezifische Züge herauszuarbeiten. So etwa bei J.L. de Rambures, der schon 1975 in Le Monde unter dem etwas provokativen Titel "Die österreichische Invasion" von einer "österreichischen literarischen Revolution sprach, und dabei "den Sieg des Formalen und der Sprachproblematik" meinte, "die schon eine Spezialität des alten Habsburger Reiches war, über das Engagement, das die Literatur der Nachkriegszeit in Deutschland beherrscht". Zum Nachweis dieser ununterbrochenen Linie werden Hofmannsthal und der in diesem Kontext unumgängliche Brief des Lord Chandos herbeizitiert. Ähnliche Gedanken finden wir 1981 in Le Quotidien de Paris (Nicole Casanova):

Vor allem aber leidet er (i.e. Arthur Schnitzler) an der österreichischen Krankheit schlechthin. die auch Hofmannsthal quält, Wittgenstein erleuchtete und Schönberg zum Schaffen anspornte: dem Zweifel an der Wirklichkeit, der Notwendigkeit eine Sprache zu erfinden, damit das Ich und die Welt miteinander in Kommunikation kommen können. (15.02.1981)

Dem Leser unserer Zeit mochte diese sich in Frankreich immer deutlicher durchsetzende Einsicht in den eigenständigen Charakter der österreichischen Literatur als etwas völlig Neues, als das Resultat eines langsamen Prozesses erscheinen, bei dem die Franzosen erst im Laufe der letzten Jahre und unter dem Einfluß unterschiedlicher Faktoren sich die Frage stellten, ob man weiterhin von der deutschen Literatur sprechen dürfe.

Wenn man aber auf noch frühere Perioden der französischen Literturkritik zurückgreift (Ende des 19. Jahrhunderts, Zeit vor dem ersten Weltkrieg und dreißiger Jahre), so stößt man auf mehrere Texte, die einen überraschen mögen. Dieser Rückblick ist nicht nur literarhistorisch interessant, denn er verweist zugleich auf Bestimmungskriterien, die im Grunde genommen eben mit der Literatur kaum etwas zu tun haben.

Ende des 19. Jahrhunderts taucht nämlich zum erstenmal in französischen literaturwissenschaftlichen Werken die unzweideutig und sogar virulent geäußerte Behauptung eines radikalen Unterschieds zwischen der österreichischen und der deutschen Literatur auf, wobei die politische Komponente offenbar eine größere Rolle spielt als die rein literarischen Urteile. Der Krieg zwischen Frankreich und Preußen, die französische Niederlage von 1871, die Gründung des deutschen Reiches in Versailles, die Annektion von Elsaß-Lothringen, dies alles steckt noch schmerzhaft im Herzen der Franzosen und offenbar auch im Geiste der Literaturkritiker. So bewirkt es, daß auf einmal die Eigenständigkeit der österreichischen Literatur gegenüber der "deutschen", will sagen der preußischen, leidenschaftlich hervorgehoben wird. Ein ungewöhnlich umfangreiches Werk von über 400 Seiten widmet 1880 Alfred Marchand den "Poétes lyriques de l'Autriche". Sein Vorwort ist ein einziges Plädoyer für die "von der preußischen Kritik ignorierten bzw. herabgesetzten oder in kleine Winkel versetzten österreichischen Dichter". Das an dieser Stelle benützte Vokabular ist nicht weniger aufschlußreich als die vorgebrachten Argumente:

Es kommt auch vor, daß, wenn die Kritik Norddeutschlands die österreichischen Autoren weder totschweigen noch allzu offen mißhandeln kann, sie den sehr mutigen Entschluß faßt, sie zu annektieren. Diese Methode, die Preußen mit so viel Geschick in der Politik anwendet, gebraucht es mit gleicher Virtuosität auf dem Gebiet der Literatur und der Künste (...). Es wäre interessant, überall wo die Praktiker der Annektion auf die Vermischung hin gearbeitet haben, auf allen Gebieten Österreich zu geben, was Österreichs ist und Preußen wegzunehmen, was nicht Preußens ist!(2)

Solche Thesen müssen aber mit Argumenten bekräftigt werden. Wodurch, fragt Alfred Marchand, unterscheiden sich die beiden Literaturen?

Zu der einen gehört die Strenge der Dialektik, die Macht aber auch die Nacktheit der Wissenschaft, die fehlerfreie Methode, das kalte und unerbittliche Kalkül, die grausame und blutige Ironie... Zu der anderen die Kunst und die Poesie, die lebhafte Fantasie, die lächelnde und fröhliche Bonhomie ( ... ), das wahre und aufrichtige Gefühl, die Wärme des Herzens und vor allem die Anmut, die Anmut, die nie an der Spree blühte.(3)

Dies bedarf keines besonderen Kommentars. In die gleiche Kerbe schlägt Victor Tissot, der 1878 in seinem Buch Vienne et la vie viennoise seine antipreußischen (bzw. -deutschen) Gefühle auf dem Umwege über eine Lobeshymne auf Österreich zum Ausdruck bringt, In der hier zitierten Stelle spricht er freilich nicht von der Literatur sondern von ... den Frauen, aber die benützten Argumente schöpft er sozusagen aus derselben Quelle:

Betrachtet man die österreichische Monarchie etwas näher, so scheint das deutsche Element darin ziemlich isoliert zu sein ; mich freut es übrigens hinzusetzen zu können, daß es dort auch unbeliebt ist.
Schauen Sie sich die Menschentypen an, die Sie dort treffen: von hundert Vorbeigehenden gibt es etwa zwanzig, die den deutschen Typ aufweisen. Bei den Frauen fällt der Unterschied noch mehr auf. Im Blick der Wienerin sieht man die slawische Lebhaftigkeit; sie ist wohlgebaut, geschmeidig, munter; der Fuß ist hübsch und graziös: es ist weder der breite Gänsefuß der Bayerin, noch das Elefantenbein der Preußin. ( ... ) Sie hat Temperament und unterscheidet darin von der trägen, passiven Deutschen, die sich das Leben als einen ewigen Mondschein in einem immer grünen Gemüsegarten vorstellt.
(4)

Auf das Gebiet der Literatur übertragen heißen solche mit Ressentiment beladene Vergleichskriterien "Grazie, Leichtigkeit, Anmut" gegenüber weltfremder Grübelei und dumpfer prosaischer Sachlichkeit preußischer Prägung. Das Politische hat das literarisch-ästhetische Urteilsvermögen endgültig angesteckt und die Festlegung von objektiv fundierten Kriterien in noch weitere Ferne gerückt.

In dem Zeitraum, der dem ersten Weltkrieg unmittelbar vorangeht, klingt dann dieser Ruf nach Anerkennung der österreichischen literarischen Spezifizität allmählich ab, bis er in den Bündnissen des Krieges völlig verklingt. Nach 1918 und nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie, also in den 20er Jahren, in denen die Anschlußfrage so sehr auf der Tagesordnung der europäischen Politik steht, erwacht der Sinn der Franzosen für das Österreichische innerhalb der deutschen Literatur wieder. Die geforderte politische Unabhängigkeit Österreichs geht mit der wiederholten Behauptung seiner kulturellen und literarischen Eigenständigkeit und Originalität einher. Von nun an gilt es, auf allen Gebieten gegen die sogenannten "rattachistes" (die Befürworter des Anschlusses) zu kämpfen. Das beste Beispiel finden wir in dem 1921 von Marcel Dunan herausgegebenen Buch L'Autriche. Das 5. Kapitel, das sich mit der Literatur befaßt, fängt unmittelbar mit folgender Frage an, wobei die Metaphern schon wieder den unterschwelligen politischen Diskurs signalisieren:

Gibt es eine österreichische Literatur? Unbestreitbar. Ist sie aber eine nationale Literatur oder nur eine Provinz im Reich der deutschen Literatur? Die Berliner Professoren und Leipziger Verleger haben alles daran gesetzt, die zweite Interpretation durchzusetzen. Es sei hier einem Franzosen erlaubt, die erstere zu behaupten.(5)

Sollte der Anschluß vollzogen werden, setzt Dunan fort, so sind es nicht nur Österreichs Industrien und Banken, die bald verschwinden werden, sondern auch die ganze Originalität einer Kultur, die Vornehmheit eines Geistes und einer Kunst. Marcel Dunan begnügt sich nicht damit, die Eigenständigkeit der österreichischen Literatur zu behaupten. Auch er versucht, einige wesentliche Grundzüge herauszufinden, die in seinen Augen deren Originalität ausmachen. Er erwähnt unter anderem den überwiegenden Einfluß des Theaters und der Musik, die Wirkung der österreichischen Landschaft auf die literarische Produktion, vor allem aber das Zusammenwirken der drei großen europäischen Kultursphären, der romanischen, der gerrnanischen und der slawischen - alles Elemente, die ein eigenes, unabhängiges literarisches Leben im Vielvölkerstaat zur Entfaltung gebracht hätten. Damit stehen wir schon wieder bei dem Kosmopolitismus und dem barocken Erbe. Mitunter scheint Josef Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften (1912 erschienen) ebenfalls auf die französischen Österreich-Spezialisten eingewirkt zu haben. Das "Bodenständige" wird als nicht näher bestimmtes Kriterium neben anderen ebenso vagen Begriffen wie die "Mentalität" oder der "Charakter" erwähnt. So etwa Léon Riotor, der 1927 in seinem Buch La nouvelle Autriche schrieb:

Gewöhnlich wird die österreichische Literatur als ein Kapitel der deutschen Literatur dargestellt. Der Grund: die Sprache. Nun spielt die Sprache auf dem Gebiet der Literatur genauso wie zum Nachweis der Staatsangehörigkeit eine untergeordnete Rolle. Nach der Herkunft zählt hauptsächlich die Mentalität, der Charakter. Zwar gibt es auch hier Germanen, die aber im Geiste und im Ausdruck nicht identisch sind.(6)

Es können hier nicht alle mehr oder weniger triftigen Argumente angeführt werden, die damals von dem einen oder dem anderen vorgebracht wurden, um das Österreichische vom Norddeutschen in der deutschsprachigen Literatur zu unterscheiden. Manche Klischees sind freilich darin zu finden: Grazie, Sensibilität, Neigung zum Ästhetizismus, Mangel an Tiefe aber Sinn für das Schöne. Die Österreicher seien eben "keine Denker", dafür aber "wahre Künstler". 1909 schrieb André Tibal (der Autor des berühmt gewordenen Essays L'Autrichien) in der Revue de Paris, daß man in Wien, wo "der Hauch des Sommers den Geist löse", "kaum denke", und daß "die Philosophen und die Historiker woanders, nicht aber in Wien zur Welt kämen ".

Immer wieder wird auch eine Komponente erwähnt, auf die ich noch zum Schluß hinweisen möchte: die Empfänglichkeit der österreichischen Literatur für die französischen Einflüsse, die deutlich spürbare Verwandtschaft zwischen beiden Kulturen, die "Latinität", die eben dem preußischen Geisie fehle und eine Affinität zwischen beiden Literaturen schaffe. 1909 schrieb Maurice Muret in seiner Littérature allemande d'aujourd'hui, in der er den Romanen Arthur Schnitzlers ein ganzes Kapitel widmet. Schnitzlers Erzählungen würden "viel eher in die französische und romanische als in die deutsche Tradition gehören". "Zwischen den deutschen Novellisten aus Deutschland, vor allem aus Norddeutschland, wie etwa W. Raabe", setzt M. Muret fort, "und den französischen Novellisten wie Maupassant bildet der Österreicher Arthur Schnitzler ein Bindeglied, das freilich dem 'deutschen Typ aus Deutschland' ferner steht als dem französischen Typ".(7) Auch Marcel Dunan behauptete in dem schon zitierten Buch L‘Autriche, daß "die Unterschiede zwischen den beiden Literaturen, derjenigen an der Donau und derjenigen an der Spree, zum größten Teil auf den Einfluß unserer Sprache auf die österreichischen Dichter" zurückzuführen sei.

Nach dem 1.Weltkrieg setzt sich diese Suche nach mehr oder weniger geheimen Affinitäten fort. Bei vielen Literarhistorikern dient sie sogar als bestimmender Faktor zur Bestimmung der eigenen Wege, die die österreichische Literatur innerhalb der deutschsprachigen Literatur geht. Auch Geneviève Bianquis stützt sich mehrmals in ihrem 1936 veröffentlichten und schnell berühmt gewordenen Buch La poésie autrichienne de Hofmannsthal à Rilke auf solche Argumente, wenn sie versucht, die österreichische Lyrik jener Zeit von der deutschen Literatur abzugrenzen, und Stellung nimmt gegen Stefan Georges radikale Verleugnung jeder "österreichischen" Literatur.(8)

An diesem kurzen Rückblick in die französische Literaturkritik früherer Epochen sieht man, wie Literaturgeschichte und politische Geschichte eng miteinander verflochten sind, auch da, wo man es kaum erwarten würde. Am Ende eines Aufsatzes über "Österreichisches in der österreichischen Literatur seit 1945" schreibt Walter Weiss:

Sowohl die Leugnung wie die apologetische Behauptung einer eigenen österreichischen Literatur hat politisch-emotionale Traditionen und immer noch politisch-emotionale Aktualität.

Dies gilt nicht nur für die Debatte innerhalb der deutschsprachigen Literaturgeschichte. Es gilt nicht weniger für Frankreichs Einstellung zu dieser Frage, und wohl auch nicht weniger für die heutige Zeit als für die Vergangenheit, die uns hier interessierte.

Zum Autor


Der hier veröffentlichte Beitrag erschien erstmals in Jura Soyfer, Internationale Zeitschrift für Kulturwissenschaften. 7.Jg., Nr.2/1998. S. 5-8.

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Anmerkungen:

(1) Histoire de la littérature allemande. Sous la direction de Fernand Mossé. Nouvelle édition, Paris, 1970.

(2) Préface de: Alfred Marchand: Les poètes lyriques de l'Autriche. Paris 1881.

(3) ibid.

(4) Victor Tissot: Vienne et la vie viennoise, Paris Dentu24 1882, p. 141.

(5) Marcel Dunan: L’Autriche, Paris 1921, p. 87.

(6) Léon Riotor: L’Autriche, Paris 1927, p. 189.

(7) Maurice Muret: La littérature allemande d'aujourd’hui, Paris 1909, p. 133-135.

(8) "Österreichische Literatur gibt es so wenig als eine preussische oder bayerische. Ein Dichter aus dem Österreichischen hat entweder eine Bedeutung als deutscher Dichter oder keine", St. George: Blätter für die Kunst. Zitiert bei G. Bianquis.


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