Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 7. Nr. September 1999

Hispanisches bei Handke und die Kunst

Regula Rohland de Langbehn (Buenos Aires)
[BIO]

 

Mit dem Satz "Es wäre interessant zu wissen, was für ein Spanienbild ein reisender Schriftsteller heutzutage in seinem Koffer heimbrächte", beendete im März 1993 Rafael Argullol in einer argentinischen Zeitung(1) einen Aufsatz über Rilkes Spanienreise. Eine Reise (Winter 1912-1913), die auf die damals entstandenen Duineser Elegien kaum Einfluß gewonnen hat, die aber doch als therapeutischer Besuch gewertet wird.

1993 war der Versuch über die Jukebox (1990) noch ein neues Buch; eine Übersetzung ins Spanische gab es noch nicht. Wie wäre es mit Handke als Rilke-Nachfolger?

Das Spanienthema hat, wie die Spezialisten wissen, trotz Lessings aufklärerischer Pionierarbeit, trotz der Romantik und trotz wissenschaftlich akribischer Arbeiten von Historikern und Philologen des XIX. und XX. Jahrhunderts, im deutschen Raum nur engmaschige Klischees gezeitigt, ohne sinnliche Vorstellung von dem Land, den Leuten, dem Lebensgefühl, Klischees von einer bisweilen jämmerlichen Ähnlichkeit der Spanier mit den Deutschen bis zu Zügen von exotischer Andersartigkeit. Daß diese Bilder durchstoßen würden, dürfen wir freilich auch von dem Versuch über die Jukebox nicht erwarten. So sehr Handke die Welt betrachten fährt, so viel er auch von diesen Reisen in seinen Texten erwähnt, man darf nicht bei ihm suchen, wenn man den Anderen, den Fremden, das Fremde in den vorgestellten Ländern erwartet. Es geht ihm nicht darum, nur am Rande macht er im traditionellen Darstellungssinn wahr, was er selbst von sich, als Erzähler fordert:

"Diesmal aber sollte Soria als Soria vorkommen ... und gleichermaßen Gegenstand der Erzählung sein wie die Jukebox" (73).

Handke redet von Spanien, um dessen Wirkung auf das erzählende Ich zu zeigen, ein Ich, das dem Autor so gleicht als wäre er es überhaupt selbst. Es versucht nicht, Spanien zu verstehen, sondern sein Spanien ist das Umfeld, in dem ein reisender Schriftsteller sich kurzfristig spiegelt, das er ohne Beobachtungsintention aufnimmt, indem er sich mit sich selbst und mit dem Schreiben beschäftigt, und das er mitbeschreibt, wenn er aus dem Schreiben sein Thema macht. In einer philosophisch ausgerichteten Untersuchung zu Handkes Reflexion auf die Form des Geschriebenen kommt Uwe C. Steiner (In: DVjs 1996) zu dem Schluß, die Jukebox sei "nur ein Vorwand, um über das Schreiben schreiben zu können" (286). Keine Initiation durch Aneignung oder Vergleich, sondern eine Untersuchung über das Schreiben. Intellektuelle Heilung, wie bei Rilke? Doch, sie stellt sich ein, aber auf andere Weise. Handke hat sich mehrere Jahre lang mit Reisen beschäftigt, das weiß man aus dem Spiegel, er war vielerorts, freilich nicht in Südamerika - auch seine Personen kennen es nur von der Landkarte, wie er in Mein Jahr in der Niemandsbucht von 1994 anmerkt (381). Spanien aber hat sich als unerwartet fruchtbar für sein Schreiben erwiesen: Auch in dem umfangreichen Buch über die Niemandsbucht, mit seinem leise auf die Reisen des Odysseus anspielenden Titel, verläuft eine Reihe von Szenen, u.a. das dritte Kapitel des zweiten Teils (597-540), in Spanien, und hier und da verarbeitet der Autor mit überraschender Genauigkeit und Detailfreude die sinnliche Wirklichkeit. Gestützt auf seine schon 1968 entwickelte und im Lauf seiner Entwicklung vielfältigen Situationen angepaßte Theorie zur Formtradition in der Erzählung, die das Darstellen von Sachverhalten oder Handlungen in Frage stellt (Thuswaldner, 1976, passim) und die sich auch 1994 in den erzähltheoretischen Passagen der Niemandsbucht bestätigt; wenn er z. B. schreibt: "Daß das Erzählen, das buchlange, ... nicht ohne Katastrophe auskommen kann, habe ich ... nie begriffen" (700), geht es Handke nicht darum, eine Handlung zu schildern. Das gelegentlich auftauchende Element der Überraschung darüber, daß sein Text ein Fragment bleiben muß (Niemandsbucht, 398), ist angesichts von Handkes Geschichte nicht als Bekenntnis des Autors, sondern als Erlebnis der Erzählerfigur zu lesen. Auch in der Jukebox ist er virtuos darum bemüht, seinem Thema auszuweichen. Das Thema besteht darin, zu ergründen und zu beschreiben, welche Bedeutung das längst aus der Mode geratene Objekt hat, dessen Name im Titel auftaucht: die Jukebox. Dieses kurzlebige Modeobjekt hatte in den Bildungsjahren des Erzählers die Kraft gehabt, ihm Stimmungen zu ermöglichen, welche, wie er im Lauf des kurzen Buches herausfindet, mit denen übereinfielen, die ihn jetzt als reiferen Menschen beim Schreiben ergreifen. Er führt mit häufigen Abschweifungen vor, wie wenig als Handlung nachbleibt, wenn es darum geht zu schildern, was jemanden zum Schreiben bringt. Ein Antitourist, macht er seine Reise im Winter - wie Goethe, wie Heine -, im Dezember 1989. Fern von den Feierlichkeiten zur deutschen Wiedervereinigung, verweilt er in dem kleinen Soria, zwischen Burgos, Logroño und Zaragoza, Städten, die er besucht und von denen er notorische Nebensachen aufnotiert, die aber eine sinnliche Gegenwart vermitteln: daß in den spanischen Städten das Zentrum weit unter der Bahnstation liegt, daß die gemusterten Fliesen der Trottoirs von Ort zu Ort wechseln. Die verschlungenen Vierecke auf den Straßen von Soria, die Zinnen in Burgos, Meander in Zaragoza, Trauben und Weinlaub in Logroño, durchsichtige Embleme, symbolhafte "Durchlaß-Formen" (70) ohne allegorischen Hintersinn, sind wiederum sinnliche, auf die Stimmung wirkende Bilder, keine Sehenswürdigkeiten. Soria ist ein armes, abgelegenes Städtchen, wenig gastfreundlich im Winter. Der Dichter der spanischen 68er-Generation, der dort wohnte, Antonio Machado, wird - sinnfällig gemachte Abwesenheit - in Revueartikeln (10) und Anschlägen (133), mit seinen "tönenden Pappeln" und Nachtigallen, als Naturdarsteller zu bloßen Attraktionsfigur für Touristen, aber die Kirche Santo Domingo, deren Figurenschmuck in Steiners Lektüre (Steiner, 290) zum Symbol für die Erinnerungskraft des Geschriebenen wird, dient zugleich auch als Aufhänger für Erwägungen zur longue durée, der Dauer, im Leben und in der Kunst (128).

Der Sinn der Suche stellt sich wie durch Zufall her: Die im Vorbeifahren gesehenen Steinhütten in den Weinbergen des spanischen La Rioja erwecken in dem Erzähler die Erinnerung an die bescheidenen Hütten in den österreichischen Weingärten des Großvaters. In den Hütten, wie die Jukebox als" Ding" (77) bezeichnet, versteckt, hatte der Knabe ein besonderes Gefühl der Geborgenheit erlebt, im Unbehausten der durchlässigen Schuppen ein Gefühl wie jetzt in Soria, wo er sich als "behaust ... von seiner Arbeit" wiederfindet. Ein mit diesem Behaustsein identifiziertes neues Gefühl der Entgrenzung pflegte sich einzustellen, wenn er als Student den durch Münzeinwurf und Knopfdruck gewählten, mechanisch wiederholten Melodien aus der Jukebox zuhörte. Zuerst durch die Beatles. "Sein Ding" (87) war deshalb für ihn die Jukebox während der Jugendjahre. Später hatte er sie überall auf der Welt wieder gefunden, ganz besonders an solchen Stellen, wo es nicht zu erwarten war. Neue Erlebnisse hatten auf diese Weise die Erinnerungen immer wieder mit den abgespielten Melodien verschmolzen, obwohl der eigentliche "Sinn" stets mit der Rückkehr in seine "Stammgegend" verbunden blieb (91). Es bildet sich ein "Ort der Ruhe" (138) durch die Musik der Jukebox, die das "Gewärtigwerden" der Dinge ermöglicht (103), oder schließlich, auch ohne sie, durch die "Abgeschiedenheit" der Arbeit (120) ... ein Begriff der Mystik, der die gesamte Serie der Entgrenzung und des Gewärtigwerdens in ein durchaus nicht sprach- oder formenkritisches Licht taucht. Teresa von Ávila ist die einzige Stimme, die der Erzähler in Spanien aufnimmt (99), zentrale Begriffe ihrer Schriften, recogidos, dejados, alma, werden assimiliert und bilden eine Serie mit "Entgrenzung" (88), "dem zum geliebten Ort springenden" Herzen (78), dem "nichtig werden" der Formen (72), auf einer neuen Ebene gegenüber der von Steiner im Zusammenhang mit der geschwungenen Linie und dem Begriff der "Anmut" (90) analysierten ästhetischen Tradition.

Diese Ebene übersteigt den von Egyptien anhand von Die Wiederholung eingebrachten Epiphaniebegriff, aber nicht in Richtung der "Allmachtsphantasien", die, laut Egyptien (1989,54), Handkes "Verblendung" darstellen. Es handelt sich im Gegensatz dazu um die Entgrenzung des schöpferischen Individuums, das sich selbst zum zentralen Gegenstand geworden ist. Die Weit spiegelt sich und bricht sich, es wird ihr keine Eigengesetzlichkeit vom Erzähler zugestanden. Gesetzmäßigkeit ist, wie bei Andersch in Efraim, Kunstform im weitesten Sinn, die Weit ist Chaos, außer wo ein Geist sie aufnimmt und ordnet.

In Spanien gibt es eine Kulturtradition, an der Handke nicht wortlos vorübergeht. Aber die spanische Tradition ist in ihrer regionalen Ausformung für ihn das Ephemere: Machado, den er auf Anschlägen liest (133), Goya, den er nicht anschaut (51). Ins Nachdenken gerät er vor gemeineuropäischen Traditionsgütem: vor der romanischen Kirche, vor den Charakteren des Theophrast, seiner mitgebrachten Lektüre, dessen Langzeitdimension noch erheblich tiefer geht, auch vor der Sprache, die er, neben gelegentlicher Zeitungslektüre, sich wie exotische Bruchstücke aus dem Taschenlexikon zuführt, bis schließlich, am Ende des Buches, Schnee und Weihnacht auf Spanisch gedacht werden, "‘nieve’, ... ‘navidad’" (131), in dem Moment wo der Flamencogesang ein differentes, eigenes spanisches Verhältnis zum Christfest kennzeichnet, sodaß die "Erfahrung von Identität" und "Alterität" sich auf dieser sinnlichen Ebene herstellt. Ordnende Kultur in umfassendem Sinn (auch Beckett wird, wie Steiner hervorhebt, zweimal genannt) und sinnliches Tageserlebnis in dem winterlich unwirtlichen fremden Land verschmelzen auf jener Ebene, auf der sie das Individuum entgrenzen und damit seine Schöpferkraft freilegen. Das mystische Erleben ist die spanische Dimension, die durch Santa Teresa hergestellt wird, geht über die Epiphanie hinaus und befruchtet den Autor. Das Buch ist Zeugnis davon. Die Reise nach Spanien legt klar, daß für den Erzähler das Schreiben einen Akt der Selbstfindung voraussetzt; diese Erkenntnis summiert sich zu dem von Steiner untersuchten Problem der Form und zeigt eine neue Stufe in der Entwicklung Handkes an, die sich folgerichtig aus seiner romantischen Kunstreligion (Egyptien, 55) entwickelt.

Insofern die Reise ein Sich-selbst-Finden ist, insofern sie aus der Lebensgeschichte die Momente evoziert, aus denen das schöpferische Individuum seine Kreativität entwickelt hat, ist sie Heilung: In mystischer Vereinigung kommt die intellektuelle Schicht mit der affektiven zusammen. Wenn auch in das Buch autobiographische Züge eingebaut sind, darf es doch nicht als Erinnerungsbuch gelesen werden, sondern es muß in die Reihe der Zeugnisse gestellt werden, in denen sich Handke mit dem Schreiben auseinandersetzt, in seiner Gegnerschaft zum "Totalitätsanspruch" und zum "Bemächtigunsgestus" des traditionellen Epikers (70). In Goethes Fußstapfen, weil auch Goethe sagt, poetischer Gehalt "ist Gehalt des eigenen Lebens" und "muß etwas Erlebtes sein" (Goethe, 361). Fern von Goethes Auffassung über die Epik, weil nicht die dargestellte Welt das Thema ist, sondern das an ihr leidende Individuum.

Zur Autorin


Der hier publizierte Beitrag "Hispanisches bei Handke und die Kunst" erschien erstmals in: Jura Soyfer. Internationale Zeitschrift für Kulturwissenschaften. 7.Jg., Nr.3/1998. S. 8-10.

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Anmerkungen:

(1) Supiernento Cultural von La Nación, März 1993.

Bibliographie:

Jürgen Egyptien, "Die Heilkraft der Sprache. Peter Handkes Die Wiederholung im Kontext seiner Erzähltheorie". In: Text und Kritik. Peter Handke. H. 24. 5. Neufassung. Ed. Heinz Ludwig Arnold, 1998, 42-58.

Johann Wolfgang Goethe, "Noch ein Wort für junge Dichter", in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 12, ed. W. Schrimpf.

Peter Handke, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, Frankfurt: suhrkamp tb 56,1972.

Peter Handke, Versuch über die Jukebox, Frankfurt: Suhrkamp, 1990.

Peter Handke, Mein Verschwinden in der Niemandsbucht, Frankfurt: Suhrkamp, 1990.

Peter Pütz, "Peter Handke". In: Ed. Heinz Ludwig Arnold, Kritisches Lexikon zur Gegenwartsliteratur Loseblatt-Sammlung. München: Text + Kritik. Stand 1.4.1995.

Uwe C. Steiner, "Das Glück der Schrift. Das graphisch-graphematische Gedächtnis in Peter Handkes Texten: Goethe, Keller, Kleist (Langsame Heimkehr, Versuch über die Jukebox, Versuch über den geglückten Tag). In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 70 (1996), 256-289.

Werner Thuswaldner, Sprach- und Gattungsexperiment bei Peter Handke, Salzburg, A. Winter, 1976.


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