Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 7. Nr. September 1999

Interkulturalität und Asymmetrie.
Koloniale Situation und Kommunikationsprobleme bei Kafka

Simo (Yaounde)
[BIO]

 

Der Neger, der von der Weltausstellung nachhause gebracht wird und, irrsinnig geworden vom Heimweh, mitten in seinem Dorf unter dem Wehklagen des Stammes mit ernstestem Gesicht als Überlieferung und Pflicht die Späße aufführt, welche das europäische Publikum als Sitten und Gebräuche Afrikas entzückten.

Dieser Text steht in dem Oktavheft G (früher drittes Oktavheft genannt) unter dem Datum 17. Dezember 1917. Er wurde also in Zürau geschrieben, wo sich Kafka nach dem Ausbruch der Lungenkrankheit seit September desselben Jahres aufhielt. Die Eintragungen in den Oktavheften aus dieser Zeit werden als aphoristisch-meditativ charakterisiert. Sie bestehen in der Tat meistens aus Aphorismen und kurzen allegorischen Erzählungen.

Der Text setzt als explikativer Relativsatz oder Attributivsatz an, aber durch das Fehlen des Hauptsatzes wird das Attribut ins Zentrum gerückt. Der Text läßt sich also als eine Erzählung lesen. Im Gegensatz zu den Kurzerzählungen aus den letzten zwei Oktavheften, die meistens auf eine Pointe hin konstruiert sind, die den Sinn der Geschichte bestimmt oder zumindest den Modus Interpretandum festlegt, läßt sich diese Erzählung über den Weltausstellungsneger nicht notwendigerweise allegorisch deuten. Das mag erklären, warum die Deuter Kafkas nichts damit anzufangen wußten.

Der Schriftsteller und Reisende Hubert Fichte hat den Text in sein Lesebuch aufgenommen. Er hat sicherlich in diesem Text etwas entdeckt, was im Mittelpunkt seines eigenen dichterischen Werkes steht, nämlich das Motiv der kulturellen Begegnung zwischen Europa und der außereuropäischen Welt im Zeichen der Gewalt sowie die daraus entstandene Interkulturalität, d. h. das Pendeln zwischen den Kulturen. Charakteristisch für diese kurze Erzählung Kafkas ist die Tatsache, daß die Geschichte sowohl zeitlich als auch geographisch sehr genau lokalisiert wird, was ihre Übersetzung durch eine Allegorese nicht leicht macht. Sie läßt sich also als realistische Darstellung von historisch nachprüfbaren Sachverhalten und Verhältnissen lesen.

Seit 1875 gab es in Europa eine Volksbelustigung, die man Wildenschau, Völkerschau oder ethnographische Schaustellung nannte. Diese Spektakel wurden genau wie ein Zirkus in den großen Städten Europas oder bei den Weltausstellungen organisiert. Der Neger Kafkas hat offensichtlich auf einer dieser Schaustellungen teilgenommen. Das, was in diesem Text Kafkas besticht, ist weniger die Tatsache, daß er von diesen Veranstaltungen wußte, denn das war allgemein bekannt, sondern daß er wußte, daß diese Spektakel, die die Authentizität fingierten, d. h. wahre Bräuche und Sitten der fremden Völker dem neugierigen Europäischen Publikum vorzuführen vermeinten, meistens reine Inszenierungen waren. Aus ihrer Heimat geholte Menschen stellten sich angeblich dar, aber im Grunde spielten sie nur einstudierte Rollen, die genau den Vorstellungen der Europäer entsprachen. In dem Genuß der Exotik genossen die Europäer nicht die Wirklichkeit selber, sondern nur ihre eigene Vorstellung dieser Fremdheit.

Daß Kafka diesen ganzen Prozeß durchschaut, ist erstaunlich und weist auf eine Wissensquelle hin, die nicht jedem zugänglich war, deutet auch auf ein geschärftes Bewußtsein für solche Situationen hin. Kafka hatte die Möglichkeit, auch innerhalb seiner Familie Informationen über die Beziehungen zwischen den Europäern und den kolonisierten Völkern zu bekommen. Sein Onkel Joseph Löwy war durch die spanische Eisenbahngesellschaft, für die er arbeitete, in Panama, Kongo, China und Kanada gewesen. Später gründete er eine große Kolonialgesellschaft mit zahlreichen Karawanen am Kongo. (Vgl. Wagenbach, 1958, S. 21 und Wagenbach, 1994, S. 113). Er wußte also bescheid über die Verhältnisse in den Kolonien. Vielleicht ist Kafka durch ihn bezüglich dieser Problematik sensibilisiert worden.

Wie man aus seinen Ausführungen über die Kleinen Literaturen ableiten kann, strebte Kafka eine Literatur an, die "Ausblicke und Einblicke" ermöglichte, also eine Literatur, die Begebenheiten und Probleme in Beziehung zu anderen in anderen Bereichen und Kulturen befindlichen Begebenheiten und Problemen bringt, so daß das Erzählte sich auf alle diese Begebenheiten und Probleme gleichzeitig bezieht und generalisierend wirkt. Wie seine literarischen Texte belegen, interessiert ihn weniger "der ethnographische Reiz" (Br., 334), von dem er in einem Brief an Max Brod spricht - d.h. die Mannigfaltigkeit der kulturellen Erscheinungen als vielmehr allgemeine Probleme, die sich hinter diesen Erscheinungen verbergen. Trotz der ethnographischen Eintragungen in den Tagebüchern, trotz seiner Interessen für die verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten der verschiedenen Kulturen, die seine Lektüre belegt, finden sich in seinem erzählerischen Werk kaum detaillierte ethnographische Darstellungen. Auch in dem Roman "der Verschollene", wo sich eine solche Darstellung gattungsmäßig anbieten würde, verzichtet er weitgehend darauf. Zwar wird die nationale Zugehörigkeit der Figuren angegeben, aber diese Angaben haben keinen Einfluß auf ihre Charakterisierung. Ihre Verhaltensweise läßt sich kaum auf eine kulturelle Identität zurückführen. In diesem Roman finden sich zwar einige interkulturelle Vergleiche - Karl Roßman sieht sich in einem fremden Kontext mit neuen Gewohnheiten konfrontiert -, von einer echten ethnographischen Erfahrung kann aber nicht die Rede sein.

Auch in der Erzählung über den Weltausstellungsneger werden zwar realistische Situationen dargestellt, dahinter lassen sich aber allgemeine Themen erkennen, die das Werk Kafkas durchziehen: Entwurzelung, Depersonalisierung, Maske bzw. Rollenspiel, psychotische Vermischung von Rollen usw... Aber daß er diese Themen in einer kolonialen Situation oder in einer Situation der Begegnung zwischen Europäern und außereuropäischen Menschen darstellt, ist kein Zufall und auch nicht belanglos.

In zwei weiteren Erzählungen Kafkas wird die koloniale Situation noch einmal thematisiert; nämlich in "Ein Bericht für eine Akademie" und in "In der Strafkolonie".

"Ein Bericht für eine Akademie" bewegt sich zwischen Realität und Phantastik. Aber das Phantastische, nämlich die Tatsache, daß der Affe Rotpeter spricht, ist reiner Kunstgriff, ein Mittel, um das innere Leben eines Tieres, das sich nicht mitteilen kann, darzustellen. Es ist die versuchte Rekonstruktion eines Prozesses, der nicht empirisch erfahrbar ist, aber gedacht werden kann. Insofern ist das Phantastische hier anders als in der "Verwandlung" oder im "Landarzt", wo die Logik der normalen Welt suspendiert wird und der Leser in eine unheimliche wunderbare Realität eingeführt wird. Hier dringt der Autor in die Vorstellungswelt des Tieres ein und geht dabei von der eigenen Gefühlsstruktur und Logik aus. In der Darstellung wird somit letzten Endes eine menschliche Vorstellungswelt ausgedrückt, zumal der Autor notwendigerweise empathisch vorgeht. Auch hier wird die Geschichte zeitlich und räumlich lokalisiert. Der Affe wurde in Gold Coast gefangen, d. h. in dem Land, das heute Ghana heißt. Auch der Anlaß seines Fanges wird angegeben: Die Jagdexpedition Hagenbeck. In einem Buch über die großen Deutschen aus dem Jahr 1936 heißt es:

‘Hagenbeck’ das ist: der Zauber fremder Erteile, [...] exotische Jagdgebiete, [...] romantische Lebensräume merkwürdiger Völkerschaften, eine ganze fremde Welt – aber: nicht mehr unerreichbar fern, sondern erschlossen, nahe gebracht - im wahren Sinne des Wortes, so daß wir ihren Duft spüren, ihrer Wunder teilhaftig werden. (S.301) [...]
In diesem letzterem und höchsten Sinne ist ‘Hagenbeck’ das Symbol, der Mythos, die Idee des großen exotischen Wunders inmitten unserer realen Welt (S.303.)

Der emphatische Stil dieses Verfassers, der Hagenbeck als viel wichtiger als Darwin betrachtet, weist auf seinen nationalen Stolz hin. Er ist aber ein Indiz über die Bedeutung dieses Erfinders der Völkerschau in dem Bewußtsein der Deutschen auch fast 30 Jahre nach seinem Tode. Mit der Erwähnung des Namen Hagenbeck liefert Kafka seinen damaligen Lesern einen Bezugspunkt, der bestimmte Assoziationen ermöglicht. Damit wird auf einen realen Raum und auf reale Erfahrungen verwiesen. Durch seinen Namen wird Exotik, aber auch koloniale Situation evoziert, denn die Expeditionen Hagenbecks sind nur in einer solchen Situation denkbar.

Schon bei der ersten Besprechung von "Ein Bericht für eine Akademie" deutet Max Brod die Erzählung als die Thematisierung einer interkulturellen Problematik, nämlich die jüdische Assimilation. Dabei werden die Ausführungen des Affen Rotpeters in den Mittelpunkt gestellt. Diese Ausführungen sind aber der Versuch der Begründung einer Erwartungsenttäuschung. Das von der Akademie an den Affen gestellte Thema ist: "ein Bericht über das affische Vorleben". Die Erwartung der Akademie ist also sehr klar. Nicht die Darstellung des erreichten Zustandes, nicht die Analyse des Prozesse der Verwandlung wird erwartet, sondern Informationen über das, was nicht mehr ist, über etwas ursprüngliches und unverfälschtes. Hier haben wir dieses Motiv des europäischen Publikums und seines Verlangens nach der Erfahrung des Authentischen bei fremden Völkern. Wir haben gesehen, daß der Ausstellungsneger dieser Erwartung entgegen kommt, entgegen kommen mußte, er stellt aber nicht die Wirklichkeit dar, sondern das, was vom Publikum als Authentisches konsumiert wird, so daß der Europäer in dem Fremden nicht das real Fremde konsumiert, sondern einige Schichten seiner selbst.

Im Gegensatz zum Weltausstellungsneger enttäuscht der Affe Rotpeter von vornherein die Erwartung: Er zeigt die Unmöglichkeit, der Erwartung entgegenzukommen. Paradoxerweise ist die erworbene Kompetenz, vor einer Akademie sprechen zu können, der Grund für die Unfähigkeit, vor der Akademie über das erwartete Thema zu sprechen. Die Akademie ist bei der Erfahrung des affischen Lebens auf einen Vermittler angewiesen, der seine Kompetenz als Vermittler und den Preis des Verlustes der Authentizität seiner selbst gewonnen hat. Eine solche Erfahrung wird somit unmöglich. "Ein Bericht für eine Akademie" erzählt von dem Prozeß einer Depersonalisation, einer Persönlichkeitswandlung, die sich auch als Akkulturation verstehen läßt. Die Erzählung zeigt aber zugleich eine verhinderte interkulturelle Kommunikation. Die Nichteuropäer schaffen den Sprung in die Vorstellungswelt und Lebensweise der Europäer und gehen dabei zugrunde. Der umgekehrte Prozeß mißlingt und zwar, so ist anzunehmen, aufgrund einer besonderen Geistesdisposition des Europäers: Die Neigung zur Projektion der eigenen Wünsche und Träume in den Anderen oder die Unfähigkeit, den Anderen anders zu erfahren, als nachdem er sich in die Lage versetzt hat, sich mit ihm in den eigenen Idiomen zu verständigen.

Wenden wir uns jetzt der Erzählung "In der Strafkolonie" zu. Als einer der ersten Leser dieser Erzählung hat Kurt Tucholsky davor gewarnt, diese Geschichte als eine Allegorie zu betrachten. Die Notwendigkeit einer Warnung gründet auf die Natur der Erzählung. Die Wirklichkeit, die hier dargestellt wird, mußte den Lesern so fremd, so ungewöhnlich vorkommen und der nüchterne Effekte vermeidende Stil mußte einem exotischen Genuß so sehr entgegenwirken, daß die Möglichkeit nicht bestand die Erzählung nach dem gewohnten Raster eines Reiseromanes einer exotischen Erzählung oder anderer erzählerischen Gattungen, die sich in einer fremden Kulisse abspielen, zu lesen. Bei solchen Darstellungen wird gewöhnlich die Exotik des Fremden dem Eigenen vorsätzlich gegenüber gestellt, die Fremdheit des Fremden wird betont, gleichsam ausgekostet und vor dem Hintergrund dessen, was als das Eigene, Gewohnte und Bekannte impliziert ist, eingehend dargestellt. (Vgl. Bachtin, 1989.) Weil die Erzählung Kafkas gewohnte Leseerwartungen enttäuschte, hat Tucholsky befürchtet, daß der Leser die ganze Geschichte in eine ihm geläufigere Sprache übersetzt und dabei schließlich den realen Text Kafkas aus den Augen verliert. Und genau das ist passiert.

Rufen wir uns die Konstellation in dieser Erzählung ins Gedächtnis: Ein Forschungsreisender, offensichtlich ein renommierter Wissenschaftler, befindet sich in einer Kolonie, wo er kürzlich eingetroffen ist. Er wird von dem Kommandanten der Kolonie eingeladen, einer Exekution beizuwohnen. Der mit der Exekution beauftragte Offizier erklärt ihm das Funktionieren des Exekutionsapparates, und der Forschungsreisende mißbilligt sowohl die Rechtssprechung als auch den Exekutionsmodus, die in der Kolonie herrschen. Daraufhin läßt sich der Offizier selbst durch die Maschine töten, die dann zusammenbricht. Die Strafkolonie ist offensichtlich eine französische Kolonie, da sich der Offizier und der Forschungsreisende auf Französisch unterhalten. Bis auf den Apparat, der allerdings ein Zentralmotiv in der Erzählung ist, ist eine solche Konstellation nichts ungewöhnliches in einer kolonialen Situation. Auch der Verlauf der Geschichte läßt sich zwar nicht als eine realistische Schilderung eines realen kolonialen Alltages verstehen, wohl aber als dessen groteske Übersteigerung. Wie in den meisten Erzählungen Kafkas wird hier kein Vorgang beschrieben, der sich historisch und räumlich genau situieren läßt, sondern ein Vorgang, der auf verschiedene Situationen und Vorkommnisse an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten hinweist. Hier wird also keine bestimmte Praxis einer bestimmten Kolonialmacht in einem bestimmten Land beschrieben, wohl aber die koloniale Situation in ihren allgemeinen, sich überschneidenden Zügen.

Zwei Kommandanten erscheinen in dieser Erzählung. Von beiden erfährt der Leser nur durch den Offizier. Ob beide wirklich so sind, wie der Offizier behauptet, kann der Leser nicht wissen. Er vermag also nicht selber ein Urteil über sie zu fällen. Über den Reisenden und den Offizier, und nur über sie, weiß man mehr. Durch die direkte und durch die erlebte Rede erfährt der Leser über ihre Denkweise, über ihre Haltung gegenüber bestimmten Problemen und Situationen. Der Forschungsreisende und der Offizier sind die tatsächlichen Protagonisten in dieser Geschichte. Die Kommandanten sind nur die Protagonisten in der Erzählung des Offiziers, und die Züge, die er ihnen verleiht, sind vielleicht nur der Ausdruck seiner eigenen Spannungen, die er auf andere projiziert.

Der Forschungsreisende und der Offizier vertreten zwei entgegengesetzte Wertvorstellungen: eine humanistisch aufgeklärte auf der einen Seite und eine repressive, auf die Sicherung der Herrschaft gerichtete auf der anderen Seite. Aus der Perspektive der ersten gesehen, ist die zweite inhuman. Die erste wird ausdrücklich vom Offizier als eine europäische Haltung betrachtet, damit wird nichts anderes als die Vorstellung der Rechtssprechung Europa gemeint. Die zweite Art der Rechtssprechung, die in der Kolonie praktiziert wird, ist auch eine europäische, und zwar nicht weil der Offizier, der sie vertritt, europäischer Abstammung ist, sondern weil sie auch Vollstreckung ihrer Urteile eine komplizierte Maschine braucht. Die Technik, die gerade im Verhältnis zwischen Europa und der übrigen Welt das Markenzeichen, die Grundlage und die Legitimation der Vormachtstellung Europas gilt, wird hier in Verbindung mit der Repression und der europäischen Machterhaltung in fremde Ländern gebracht.

Es sei daran erinnert, daß sich Kafka vom Roman des französischen Schriftstellers Oktave Mirbeau hat inspirieren lassen. Aus diesem Roman (Le jardin des supplices) hat er das Motiv der Opposition zwischen Moral und Rechtssprechung in Europa und Moral und Rechtssprechung in den Kolonien übernommen. In dem Roman Mirbeaus wird Europa von einer Figur als der Ort einer strengen moralische Ordnung, die die Entfaltung des Menschen hindert, charakterisiert, während die Kolonie der Ort der Freiheit ist, wo sich der Mensch - hier ist natürlich der europäische Kolonist, nicht der Einheimische gemeint - regelrecht austoben kann, ohne irgendwelche gerichtliche Verfolgung zu befürchten. Er kann zu Beispiel Einheimische töten, wenn ihm danach ist, ohne irgendwelche Repressionen zu fürchten. Bei Mirbeau ist die Kolonie also der Ort der Freiheit für den Europäer und wird dadurch ein Ort der Gefahr für den Kolonisierten.

Ob das bei Kafka beschriebene gerichtliche Verfahren und die Art der Exekution für alle in der Kolonie oder nur für die Einheimischen gilt, wir nicht in der Erzählung gesagt. Letzteres ist aber anzunehmen. Daß sich der Offizier durch die Maschine umbringen läßt, zeigt vielleicht nur die Tatsache daß die Duldung einer repressive Praxis gegenüber Fremden früher oder später zur Duldung derselben Praxis über sich selbst führt. Sadistische Tendenzen führen zu masochistischen.

Dem Offizier und dem Reisenden stehen anderen Figuren gegenüber, die offensichtlich vom Erzähler als zur selben Gruppe zugehörig betrachtet werden. Es sind der Soldat, der Verurteilte und die Hafenarbeiter. Der Soldat und der Verurteilte wohnen der ganzen Unterhaltung und Auseinandersetzung zwischen dem Offizier und dem Reisenden als stumme Figuren bei. Der Erzähler verweist immer wieder auf ihre Anwesenheit, sie greifen aber nicht direkt in den Verlauf der Geschichte ein, auch wenn sie sie ungewollt beeinflussen. Daß der Verurteilte kein Französisch versteht, wird mehrmals im Text wiederholt. Diese Redundanz ist bei einer so ökonomisch organisierten Erzählung sicherlich kein Zufall. Es wird auch mit Nachdruck beschrieben, wie dieser Verurteilte versucht, die Maschine, die ihn hinrichten soll, was er aber nicht einmal weiß, zu verstehen. Seine Neugierde bleibt aber unbefriedigt, zumal seine Nichtbeherrschung der Sprache ein Handikap darstellt, und auch weil der Offizier mit Billigung des Reisenden ihn daran hindert, den Apparat genau zu beobachten. Hier haben wir eine der Stellen, wo dieses Problem sehr genau geschildert wird:

Der Reisende wunderte sich nicht darüber, denn der Offizier sprach französisch, und französisch verstand gewiß weder der Soldat noch der Verurteilte. Um so auffallender war es allerdings, daß der Verurteilte sich dennoch bemühte, den Erklärungen des Offiziers zu folgen. Mit einer Art schläfrigen Beharrlichkeit richtete er die Blicke immer dorthin, wohin der Offizier gerade zeigte, und als dieser jetzt vom Reisenden mit einer Frage unterbrochen wurde, sah auch er, eben so wie der Offizier den Reisenden an. (E., 183-184.)

Dem Versuch des Verurteilten zumindest durch Verstehen an seinem Schicksal Anteil zu haben, steht die Haltung des Offiziers gegenüber. Dieser versteht zwar die Sprache des Verurteilten, da er ihm am Ende in dieser Sprache mitteilt, er sei frei, aber er ist nicht an einer Kommunikation interessiert. Nur der Reisende interessiert ihn, weil dieser eine Autorität darstellt, und Anteil an der Macht hat. Der Verurteilte wird nicht einmal darüber informiert, daß er angeklagt wurde, daß er verurteilt wurde und welches eine Strafe ist. Auf die Fragen des Reisenden antwortet der Offizier: "Es wäre nutzlos, es ihm zu verkünden. Er erfährt es ja auf seinem Leib." (E., 187.) Die Situation ist also klar: Wir haben einerseits den Offizier, der als Richter zur Sphäre der Macht - also der kolonialen Herrschaft - gehört und andererseits den Verurteilten, der offensichtlich ein Einheimischer ist und die Rechtsordnung der Kolonisation buchstäblich auf seiner Haut erfährt. Die Beziehung ist vertikal und besteht allein aus Befehlen, Urteilen, was auf der anderen Seite Gehorsamkeit bedeutet. Es findet kein Austausch trotz angestrengter Neugierde des Einheimischen statt. Es findet nur eine Machtausübung und eine Erduldung dieser Macht statt.

Symptomatischerweise wiederholen sich dieselben Beziehungen auch nach dem Tod des Offiziers und diesmal wird der Reisende, der als Vertreter eines humanistischen Denkens aufgetreten ist und bis dahin versucht hatte, nach dem Wunsch und Interesse des Verurteilten, oder genauer nach dem, was er als Wunsch aus dem sprachlosen Benehmen und aus den Gesichtszügen des Verurteilten zu lesen vermeinte, zu handeln: "Der Reisende sah, daß Befehle hier nichts halfen, er wollte hinüber und die zwei vertreiben" (E., 210). "Der Reisende mußte zu Ihnen hinüber gehen und sie mit Gewalt zu dem Kopf des Offiziers drängen." (E., 211.)

Die gewohnte Struktur hat sich also über den Tod des Offizier s hinaus bewahrt. Der Reisende gibt weiterhin Befehle, vertreibt, drängt die anderen mit Gewalt und die anderen müssen gehorchen.

Der Widerspruch, der zwischen dem Offizier und dem Reisenden bestand, erweist sich somit als sekundär verglichen mit dem, was sie gemeinsam haben, nämlich die Zugehörigkeit zur Sphäre der Macht. Daher ist es problematisch zu behaupten, wie es sehr oft in den Untersuchungen heißt, daß mit dem Tod des Offiziers eine neue Ära anbricht. Auch wenn er den Hafenarbeitern, die der Erzähler als "armes gedemütigtes Volk" charakterisiert, Münzen gibt, bestätigt der Reisende nur, daß die Asymmetrie nicht nur politischer, sondern auch wirtschaftlicher Natur ist. Die Flucht aus der Kolonie ist vielleicht der Versuch, dieser kolonialen Dialektik zu entkommen, aber auch hier zeigt sich der ganze Widerspruch. Der Soldat und der Verurteilte haben auch gute Gründe, die Kolonie zu verlassen, die zwar ihre Heimat ist, aber durch die fremdbestimmte Verwandlung in eine Kolonie für sie keinen Ort der Entfaltung mehr darstellt. Aber die Reaktion des Reisenden zeigt deutlich, daß er nur sein Heil sucht und bis zuletzt nicht gewillt ist, in die Machtgefüge einzugreifen oder denjenigen, die am stärksten darunter leiden, zu helfen:

"Sie hätten noch ins Boot springen können, aber der Reisende hob ein schweres geknotetes Tau vom Boden, drohte Ihnen damit und hielt sie dadurch von dem Sprunge ab." (E., 123.) Mit "In der Strafkolonie" verarbeitet Kafka die Begegnung Europas mit den anderen in ihrer Kolonialgestalt und zeigt dabei die Ambivalenz der europäischen Haltung: humanistisch, moralisch denkend, aber auch der Grausamkeit fähig und daher nicht fähig, die Welt, die es prometheisch gewaltsam zu erschließen imstande war, auch human und gerecht zu organisieren. Auch hier sind die Einheimischen stumme Menschen, deren Gedanken er ahnt, aber die nicht über sich sprechen. Die Kommunikation findet nur in einer Richtung statt. Wie beim Affen Rotpeter, wie bei dem Austellungsneger bleiben die Einheimischen, was ihre Identität betrifft, stumm.

Zum Autor


Der hier publizierte Beitrag erschien erstmals in: Jura Soyfer. Internationale Zeitschrift für Kulturwissenschaften. 5.Jg., Nr.2/1996. S. 3-6.

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Bibliographie:

Klaus Wagenbach: Franz Kafka. Eine Biographie seiner Jugend 1883-1912. Bern 1958.

Klaus Wagenbach: Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben. Berlin 1994.

Willy Andreas und Wilhelm von Scholz (Hrsg): Die Großen Deutschen. Neue Deutsche Biographie. Berlin 1936. Bd. 4.

M. M. Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Frankfurt/M. 1989.

Abkürzungen:

Br.: Franz Kafka: Briefe 1902-1924. Frankfurt/M. 1966.

E.: Franz Kafka: Sämtliche Erzählungen. Hrsg. von Paul Raabe. Frankfurt/M. 1970.


Webmeisterin: Angelika Czipin
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