Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 9. Nr. | März 2001 |
Ökonomische Verschränkungsprozesse und Migrationsbewegungen, ökologische Degressionen und entsprechend international angelegte Handlungsabsprachen bestimmen eine von beschleunigter Kommunikation geprägte weltweite Interaktion. So das Realmodell, welches, je nach Perspektive, als hegemoniale Unterwerfungsgeste im größtmöglichen Stil oder als friedengesegnetes Heilsversprechen einer riesigen, befreiten Konsumentengemeinschaft ausgelegt und ebenso argumentativ wie bildreich inszeniert wird. Die Frage nach einer globalen Ästhetik, ihrem Nutzen, ihren Grenzen und Möglichkeiten verschiebt die spannungsreiche Inszenierung zwischen Unterwerfungs- und Befreiungsgeste auf das Feld der Kultur.
Mein Beitrag wird diesen vielfältig in Erscheinung tretenden Rekurs auf eine weltumspannenden Perspektive zunächst mit einem weiteren Bild unterlegen, dem "Aleph" von Luis Jorge Borges, um dann mit Borges' Figur des "Zahir" die fixe Idee einzuführen. Sie ist im Begriff der Idiosynkrasie als höchst individuelle Empfindlichkeit gefasst und birgt, trotz ihrer gefährlichen Neigung ins Autistische, ein kritisches Potenzial gegen die Ausdehnungsbewegung einer globalisierenden Perspektive.
Luis Jorge Borges Erzählung Das Aleph führt das menschliche Phantasma einer weltumspannenden Perspektive als Faszinosum und Schreckensvision zusammen.(1) Dieses Aleph ist "einer jener Punkte im Raum, die alle Punkte in sich enthalten", es ist der Ort, "an dem, ohne sich zu vermischen, alle Orte der Welt sind, aus allen Winkeln gesehen".(2) Im Blick durch das Aleph gewinnt die Welt eine magische Präsenz:
Jedes Ding (etwa die Scheibe eines Spiegels) war eine Unendlichkeit von Dingen, weil ich sie aus allen Ecken des Universums deutlich sah. Ich sah das belebte Meer, ich sah Morgen- und Abendröte, ich sah die Menschenmassen in Amerika, ich sah ein silbriges Spinnennetz im Zentrum einer schwarzen Pyramide, sah ein aufgebrochenes Labyrinth (das war London), sah unzählige ganz nahe Augen, die sich in mir wie in einem Spiegel ergründeten [...]., ich sah Weintrauben, Schnee, Tabak, Metalladern, Wasserdampf, ich sah aufgewölbte Wüsten am Äquator und jedes einzelne Sandkorn darin, sah in Inverness eine unvergeßliche Frau, sah das unbändige Haar, den hochgemuten Körper, sah ein Krebsgeschwür in der Brust, sah einen Kreis trockener Erde auf einem Pfad, wo vordem ein Baum gestanden hatte [...].(3)
Der Ich-Erzähler (namens Borges) begegnet dieser Perspektive ausgerechnet unter der Kellertreppe im Hause eines ihm bekannten Bibliotheksangestellten. Dieser Mann ist mit einer gleichnamig betitelten "Die Erde" umfassenden Dichtung beschäftigt und sein schriftstellerisches Riesenunternehmen geht auf das im Haus befindliche Aleph zurück, das in Rückenlage, unter Beachtung eines ganz bestimmten Winkels und in absoluter Dunkelheit an der neunzehnten Stiege seiner Kellertreppe zu finden ist.
Das Aleph fängt die phantastische globale Perspektive ein, die gelungen vereinigt, was wir an weltweiter Kultur zu verzeichnen haben. Im Aleph ist sie zum Äußersten getrieben, weil der weltumspannende Weitblick ebenso präzise und umfassend ist wie der Fokus auf das winzigste Detail, der selbst einem Sandkorn gerecht wird. Die Genauigkeit, mit der die Oberfläche einer aufgewölbten Wüste zu betrachten ist, steht der Tiefenschärfe in nichts nach, denn im Aleph ist durch die Haut hindurch zum Krebsgeschwür und unter die Erdoberfläche bis zu den Metalladern zu sehen. Damit nicht genug, jede dieser Einzelheiten ist eine "Unendlichkeit von Dingen", weil sie "aus allen Ecken des Universums" deutlich zu sehen ist. Das Aleph ist der Idealfall des international und interdisziplinär versierten Beobachters, denn auf ihn läuft die globale Perspektivität wie auf seine prismatische Spitze zu, bevor sie sich wieder aufsplittert in die Unendlichkeit der einzelnen kultur-, sozio-, ethno-, geschlechts- und sonstwie-spezifischen Standorte in all den geistigen Metropolen und den hintersten Winkeln der Welt.
Ein Problem nur zeichnet sich ab: "Ich fürchtete, daß kein Ding mehr imstande sei, mich zu überraschen, ich fürchtete nie mehr den Eindruck von Wiederkehr loszuwerden" (S. 146), gesteht uns der Erzähler von den angsterfüllten Minuten, nachdem er das Haus samt Aleph und konsterniertem Besitzer hinter sich gelassen hat und in der Untergrundbahn erschöpft in die allzu bekannten Gesichter um sich sieht. Unser Mann ist nicht von buddhistischem noch von nietzscheanischem Geist, sonst käme er mit Wiederkunft und Wiederkehr sehr gut zurecht. Auch ein Freund vereinigter Datenbänke scheint er nicht zu sein, sonst würde er das Aleph zur utopischen Vision weiterspinnen und ein gleichberechtigt geordnetes, weltumspannendes Netzwerk entwerfen. Doch sein Problem löst sich schnell und wie von selbst: "Glücklicherweise überfiel mich nach ein paar Nächten der Schlaflosigkeit wiederum das Vergessen" (S. 146).
Die unendliche Wahrnehmungsfülle, ein Phantasma von Weltbürgern und Schriftstellern, das unerschöpfliche Erlebnisvielfalt und Produktivität versprechen mag, kippt mit dem Aleph in sein Gegenbild: Vergessen. Nur das Vergessen bietet einen Weg aus der Ohnmacht, von der sich der Betrachter angesichts seiner aleph-gesteuerten Wahrnehmung sowohl in seiner Kreativität als auch in jeglicher anderer Handlungsform sofort umnebelt sieht. Diese Auffassung teilt die Autorin Libuse Moníková in ihrer Borges-Lektüre mit dem Erzähler.(4) Ihrer Interpretation zufolge ist das Aleph ein Modus der schriftstellerischen Besessenheit und in diesem Fall auch des "Abdankens", denn im Aleph stagniere das Schreiben in Routine und Lakonismen. Es hat hier allein wiederholenden Charakter und die Kreativität verschwendet sich an die Nacherzählung einer magisch präsenten Welt. Dem setzt Moníková das totalitär aufgeprägte "Sich-Merken"(5) aus Borges' Erzählung Der Zahir als einen zweiten Modus des schriftstellerischen Abdankens hinzu.(6)
Auch Der Zahir vereinigt wie das Aleph, das als erster Buchstabe im hebräischen Alphabet sowie als numerische Schreibweise für eins (aleph) und tausend (eleph) mehr als alle anderen hebräischen Buchstaben die Göttlichkeit personifiziert(7), eine Vielzahl kulturgeschichtlicher Konnotationen und Erzählungen.(8) Laut Borges entstand der Zahirglaube im 18. Jahrhundert und bezeichnet im Volksmund Dinge, die unvergesslich sind und damit den Betrachter in den Wahnsinn treiben. Für solche Gegenstände, die - wie wir heute sagen würden - eine fixe Idee auslösen und sich im Bewusstsein des Betrachters dermaßen ausdehnen, dass es ihm nicht mehr möglich ist, andere Dinge wahrzunehmen oder an andere Dinge zu denken, ja sich selbst darüber vergisst und in den Wahnsinn getrieben wird, führt Borges verschiedenste Realisationen an: beispielsweise Berichte des persischen Dichters Lutf Ali Azur, die von einem kupfernen Astrolabium erzählen, das die beschriebene Zahir-Wirkung auf die Betrachter hatte, sowie indische Erzählungen von einem magischen Tiger, der die gleiche Auswirkung zeigte und sich in der regionalen Redewendung 'er ist vom Tiger besessen', einem Synonym für Wahnsinn, niederschlug. Es ist in diesem Zusammenhang auch von einem Palast in Mysore die Rede, dessen Wände vollständig mit Tigerbemalungen bedeckt sind, die eine Gesamtdarstellung der Welt geben sollen.
In Borges' Text begegnet der Ich-Erzähler (auch hier mit dem Namen Borges) dem Zahir in Gestalt einer Münze von 1929 im Wert von zwanzig Centavos. Diese erhält er mit dem Wechselgeld in einer Kneipe. Sie erinnert ihn an alle möglichen Münzen der Weltgeschichte - "an Charons Obulus; den Obulus um den Belisar bat; an die dreißig Silberlinge des Judas; an die Drachmen der Kurtisane Laïs ..."(9) - und verdichtet sich zunehmend zu einer fixen Idee, der er sich immer weniger entziehen kann. Der Zustand einer fernen Bekannten, die ein ähnliches Erscheinungsbild in weit fortgeschrittenem Stadium zeigt, deutet auf die bevorstehende Zukunft des Erzählers hin. Zur Erzählzeit ist sie bereits nicht mehr in der Lage, sich selbst zu ernähren und anzukleiden, weil sie permanent von einer Münze faselt. Der Erzähler selbst sieht seinem Schicksal wenig angstvoll, sogar fast positiv, entgegen, lässt allerdings offen, ob dies auf die bereits fortgeschrittene Betäubung durch den Zahir oder auf andere Faktoren zurückzuführen ist.
Der Zahir löscht die Wahrnehmungs- und Deutungsvielfalt einer heterogenen Welt und unterwirft sie seiner eindimensionalen Existenz, weshalb Moníková in diesem Fall das Vergessen als totalitär aufgeprägtes Sich-Merken betrachtet. So die negative Wendung der fixen Idee, die in ihrer politischen Ausformung immer ähnliche Spielformen des Totalitären entwirft.
Weniger zerstörerisch, wenngleich ebenso eindimensional und betrügerisch kann eine fixe Idee jedoch auch zum bewegenden Lebensprinzip moduliert werden. Als "fixe Idee eines Künstlers oder eines Entdeckers, eines Religiösen", ist sie nämlich "die exquisite Nahrung eines Monophagen - der Eukalyptus für den Koala-Bären, dessen Welt von Eukalyptusduft durchdrungen ist", wie Moníková feststellt.(10) Neben der beschriebenen Welt des Koala-Bären, der sich ausschließlich in dem betäubenden Duft des Eukalyptus bewegt, auf den seine Nahrung beschränkt ist, scheint auch keine andere Welt zu existieren. Eukalyptus mag eine verwegene Variante einseitiger Ernährung sein und die Radikalität dieses Koalas steht für den menschlichen Mentholliebhaber sicher noch aus. Aber die eine oder andere Ausformung der fixen Idee wird jeder schon am eigenen Leib erfahren haben. Wer kennt nicht die Stichworte, bei denen die Gedanken fiebrig voranschnellen und tage-, wochen-, ja monatelang alle Energie und jegliches Konzentrationsvermögen absorbiert werden. Die absurden wie liebenswerten Neigungen, nach denen die einen aufgeregt in jeder alten Flohmarkt-Bücherkiste Literatur zur Mondfahrt suchen und andere mit feuchten Händen den Kiesel nach Bernstein durchfingern. Oder die unnachgiebige Sicherheit, mit der dieser Gipfel erklommen, jene Abfahrt genommen und die letzten Kilometer gelaufen werden müssen, komme, was da wolle. Erst die anderen Perspektiven mögen den Zweifel anmelden bezüglich der Ausschließlichkeit solcher Ideen und weisen vielleicht vorsichtig auf den betrügerischen Sinn und die betäubende Eindimensionalität, von der die besessene Person nichts wissen will und im Ernstfall, als possierlicher Koala-Bär, auch nichts wissen kann.
Dies erinnert an eine weitere Zugkraft, die den Sog einer global orientierten Perspektive bestärkt: die Angst vor der Verkörperung als Koala. Die Angst vor der Identifizierung als ein, zwar mit schrillen Neigungen und schönen Fellen ausgestatteter, jedoch jenseits jeder ernstzunehmenden diskursiven Praxis agierender, Bär, als der man sich sofort und für ewig vom Gespräch disqualifiziert hat. Schon sieht man sich und seine Felle im weltweiten Gemurmel davonschwimmen. "... und ward nimmermehr gesehen", hört man noch den eigenen Nachruf und sieht sich fortan in dunkle Eukalyptuswälder verbannt, die plötzlich nichts mehr als das eigene Gefängnis sind, an dem man stumpf herummümmelt. Das Aleph, d.h. die Sogwirkung einer möglichst weltumspannenden Informiertheit, birgt seine Faszination also auch in den vielfältigen Möglichkeitswinkeln, aus denen heraus wir uns immer wieder vom Koala und unserer eingeschränkten Koala-Perspektive emanzipieren können. Bevor wir uns jedoch nun, von dieser Koala-Existenz abgeschreckt, panikartig in das Angebot des Alephs stürzen, schieben wir eine kleine denkerische Pause ein und konzentrieren uns noch einmal auf die fixen Ideen und ihr Potenzial.
Etwas hat uns für einen kurzen Moment erstarren lassen: ein Geruch, ein Zeichen, eine Bewegung, ein Wort, ein Bild, ein Ton, vielleicht auch die Kombination mehrerer Zeichen, mehrerer Gesten, mehrerer Wörter - ein Detail, nicht der Aufregung wert, und doch hat es uns für einen Augenblick in schrille Aufregung versetzt; ein Detail, nicht der Beachtung wert, und doch hat es alle Beachtung auf sich gezogen; eine Äußerlichkeit, die uns ins Mark traf: der Zuckerlöffel, der zunächst dem Transport des Zuckers zur gefüllten Tasse diente, dann zum Umrühren verwendet und in feuchtem Zustand in die Zuckerdose zurückgesteckt wurde und an dessen Schaufel sich nun gelb-bräunliche Zuckerkristalle gebildet haben; das Buttermesser, mit dem man zuerst die Butter auf dem Brot verteilt hatte und das dann helle Schlieren im Marmeladenglas zurückließ, das Knirschen des verstreuten Zuckers auf dem Küchenboden, das Quietschen der Kreide auf der Schultafel, der Geruch nasser Pelze, der Fettfilm am Weinglas, die Haut auf der Milch, die Art, wie eine Ei geköpft wurde, ein falsches Wort...(11)
Hier listet Silvia Bovenschen zur Einführung in ihren Essayband Über-Empfindlichkeit. Spielformen der Idiosynkrasie die kleinen Klassiker der Idiosynkrasien auf. Diese Anlässe für die sprichwörtlich gesträubten Nackenhaare und die ganzkörperliche Erstarrung markieren - so meine These - jeweils den möglichen Beginn einer fixen Idee. Idiosynkrasien sind die Vorstufe der fixen Ideen, die höchst individuellen Eigentümlichkeiten und Empfänglichkeiten für oder gegen bestimmte Reize. Sie stellen eine eigenartige Fixierung auf spezifische Kleinigkeiten dar, die gemeinhin als abseitig oder irrelevant eingestuft werden. Sie führen seltsame Verhaltensweisen mit sich und rufen plötzliche, heftige Regungen hervor, die meist von der Norm abweichen. Somit werden diese Regungen aus Sicht der normbildenden Mehrheit gern als "Über-Empfindlichkeiten" bezeichnet.
Ursprünglich ein Begriff aus der Medizin, hervorgegangen aus der antiken Ärzteschule der Methodiker, bezog sich die Idiosynkrasie auf die besondere Konstitution des Individuums und seine abweichende Reaktionsbereitschaft. In der modernen Medizin ist Idiosynkrasie als Bezeichnung für "angeborene Überempfindlichkeiten" außer Gebrauch gekommen, als Begriff der Psychologie bezeichnet sie allerdings noch immer die "hochgradige, über das normale Maß hinausgehende Abneigung gegenüber Personen, Tieren, Speisen, Dingen u.a.".(12) Silvia Bovenschen nähert sich diesen Eigenarten und Reaktionsweisen in ihrem Essayband auf vielfältige Weise. Immer wieder aus einer anderen Richtung beginnend umreißt sie mit groß angelegtem Bedeutungsradius jene Spielformen der Idiosynkrasie, von denen ich hier insbesondere das ambivalente Potenzial zur fixen Idee und Bovenschens Verknüpfung mit einer Position der Exzentrizität hervorheben werde.
Bei Borges wurden fixe Ideen angeführt, die Beispiele verschiedener Kulturräume waren - ein Tiger in Indien, ein kupfernes Astrolabium in Persien - was die Frage nahelegt, ob und inwiefern die fixen Ideen und ihre Vorläufer, die Idiosynkrasien, kulturspezifische Bindungen aufweisen. Der Koala-Bär hätte sich in Südschweden auf Kiefernzapfen spezialisiert, so lässt sich spekulieren, was jedoch auch die Frage aufwirft, ob wir ihn dann noch als Koala bezeichnen wollen?
Soviel steht fest: Die Idiosynkrasie ist dem Individuum zuzurechnen. Sie scheint als persönlichste Eigenart und Reaktionsweise sogar jene kleinsten Partikel zu bezeichnen, aus deren spezifischer Mischung der Einzelne gerade seine Einzigartigkeit bezieht. Aber Bovenschen sieht die Idiosynkrasien in ihrem Aufsatz Über-Empfindlichkeit. Versuch über den Begriff der Idiosynkrasie nicht allein als subjektive Impulse, sondern räumt eine Einlagerung in allgemeinere Entwicklungen ein.(13) Zwar leitet sie die Idiosynkrasie hier mit autobiographischen Verlautbarungen von Literaten und Philosophen als allerpersönlichste, private und subjektive Über-Empfindlichkeit ein(14), betrachtet jedoch idiosynkratische Reaktionsweisen durchaus als eingegliedert in einen kulturhistorischen Zusammenhang:
[O]b wir idiosynkratisch auf einen bestimmten Reiz reagieren, hängt von unseren historischen, kulturellen und nicht zuletzt, alltagsästhetischen Erfahrungen ab. Diese sind nicht nur zufällig oder subjektiv beliebig, sondern in diese idiosynkratischen Konstellationen sind, wie Adorno schreibt, 'Sedimente kollektiver Reaktionsweisen' eingelagert.(15)
Mit Adorno sieht Bovenschen in die als höchst persönliche Eigenart geltenden Idiosynkrasien sedimentierte Reaktionsweisen eingelagert, die aus kollektiven Zusammenhängen stammen. Dies erklärt auch eine mögliche Komplizenschaft im Idiosynkratischen, die sich angesichts der Klassikerliste von Kreidegeräuschen auf der Tafel bis zu den Butterschlieren im Marmeladenglas einstellen mag und über den Zufall hinausgeht. Sie wäre nach Bovenschen durch die Einlagerung sedimentierter kollektiver Reaktionsweisen möglich. Historische, kulturelle und alltagsästhetische Umstände bestimmen mit, ob und wie Einzelne auf spezifische Reize reagieren.
Die in Idiosynkrasien und idiosynkratischen Reaktionsweisen eingelagerten Sedimente sind mittelbar an einen sozialen und kulturellen Kontext rückgebunden, denn es sind Ablagerungen aus diesem Kontext oder aber verworfene Aspekte des bewussten und dominanten kulturellen Rahmens. Bovenschen hält einer eindeutigen Rückführung von Idiosynkrasien auf die sedimentierten Strukturen jedoch entgegen: "In dem Moment aber, in dem sie sich einer allgemeinen Verbindlichkeit annähern, sind sie keine Idiosynkrasien mehr."(16) Sie sieht keine stabile und voraussagbare Beziehung zwischen den Dingen, die einen idiosynkratischen Reiz auslösen und jener latenten Bereitschaft, idiosynkratisch zu reagieren. Die Einbindung in allgemeinere Entwicklungen, in historische und kulturspezifische Umstände ist eine lose Verbindung, über die sich keine verbindlichen Aussagen machen lassen und die zurückzuverfolgen sicher ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen wäre. Idiosynkrasien mögen kulturell Marginalisiertes, Verdrängtes, Unbewusstes artikulieren und stehen dadurch im indirekten Bezug zum kulturell Dominanten. Sie bleiben jedoch unvorhersehbar, unberechenbar und anarchisch, womit sie ein kreatives Element darstellen. Sie sind nicht tatsächlich rückbindbar an einen kulturellen Kontext, in dem sie zwar entstehen, von dem sie aber gerade nicht vollständig bestimmt werden, denn als allgemeine Verbindlichkeiten wären es keine Idiosynkrasien mehr.
Idiosynkrasien sind exzentrisch. Sie sind exaltiert, überreaktiv und bewegen sich jenseits der Zentren, weil sie ihre volle Aufmerksamkeit auf jene Winzigkeit richten, die aus der Perspektive einer Totale, d.h. der aus allgemeiner Übereinkunft etablierten Perspektive, nebensächlich bis vollkommen situations- und sachfremd erscheinen müssen. Aber was geschieht bei einer auf Globales gerichteten Perspektive? Wo ist im Aleph das Zentrum, wo das periphere Element? Wenn die Menschenmassen in Amerika und jedes einzelne Sandkorn in ihrer magischen Präsenz gleichrangig wahrgenommen nebeneinander stehen, wie lässt sich zwischen Mitte und Randständigkeit unterscheiden? Dies müsste das Ende der Exzentrizität bedeuten, denn wenn es kein anerkanntes Zentrum mehr gibt, so Bovenschen in Lob der Nuance. Idiosynkrasie und Exzentrizität, "gibt es auch keine von ihm abweichende Peripherie, gibt es auch nicht die Möglichkeit, aus ihm, dem Zentrum, anerkannt in die Peripherie abzuweichen."(17) Zumindest ist es das Ende des klassischen Exzentrikers, denn der war in seinen wohldosiert überschreitenden Gebaren und Erscheinungsweisen auf klar umrissene Grenzen der Mitte angewiesen. Bovenschen hebt jedoch neben diesem überholten Modell des konventionellen Exzentrikers die "konstellative Exzentrizität" hervor, die als mentale Disposition beweglich ist, sich je neu ausrichtet und doch hartnäckig bleibt in ihrer allergischen Reaktion "auf alle neuen Versuche der dogmatischen Zentralisierung von Sinn, Macht, Geschmack etc."(18) Diese konstellative Exzentrizität ist vagabundierend und tritt in wechselnden Erscheinungen auf, aber sie ist erkennbar und stetig in ihrer grundsätzlichen Empfindlichkeit für Verfestigung, unangebrachte Gemütlichkeit und schlechte Beruhigung, wie Bovenschen vage zusammenfasst.
Das Exzentrische muß sich ganz ohne identifizierbare Merkmale permanent, das heißt für jede neue Konstellation neu, organisieren, neu plazieren und in jeder Konstellation eine neue punktuelle Exzentrizität schaffen. Das Movens für diese bizarre Exposition von Anzeige und Absage ist das Gespür für Nuancen; eine dispositionelle Empfindlichkeit, die diejenigen, die sie aufweisen, dem Angriff fauler Üblichkeiten fatal ausliefert und gleichzeitig gegen sie impft.(19)
Solche Exzentrizität ist immer anders und doch beharrlich. Sie kann sich weder an einer Mitte, noch an ihren Grenzen orientieren, sondern findet ihr Movens allein in der geradezu körperlichen Empfindlichkeit für die Herausbildung einer solchen Mitte. Zugleich beschreibt Bovenschen diese Exzentrizität auch als "Parodie des bloß Antikonventionellen, des konformen Nonkonformismus"(20), und entzieht sie damit der marktgerechten Protestlermode, die sich für gutes Geld den authentischen Ghettolook erwirbt. Aber auch jenseits dieser alltagsästhetischen Ebene beschreibt die "konstellative Exzentrizität" bezüglich der globalen Ausrichtung ästhetischer Fragen und Antworten einen Standort idiosynkratischer Aufmerksamkeit.
Mit der Fixierung auf diese Empfindlichkeiten und Empfänglichkeiten kann sich die Idiosynkrasie zur fixen Idee verdichten. In der negativen Variante wird die Affizierbarkeit, die sich im spontanen idiosynkratischen Impuls manifestiert, nicht ausgehalten und daher diskursiv untermauert bis sie sich zum Grund, zum Urteil, zum Vorurteil verfestigt. Die Reizbarkeit rechtfertigt sich, zieht sich diesseits der Grenzen des Eigenen zurück und spricht vernichtendes Urteil entlang dieser Grenzen. Hier zeigt sich das Gesicht des Diktators wieder, das Moníková in der fixen Idee von Borges' Erzähler und dessen Zahir in Ausformung einer Münze erkannte. In der optimistischen Variante entspinnt sich ein bewegendes Lebensprinzip an der Idiosynkrasie und wird zur fixen Idee eines Künstlers, dessen Movens in jener Empfindlichkeit aufrecht erhalten wird. Auch diese Form der Besessenheit kann ein Gefängnis sein, wie Moníková erläuterte, sie kann jedoch mit Bovenschen auch als kritikleitende Disposition gedeutet werden, die sich jeglichem totalisierenden Gestus gegenüber allergisch verhält. Diese konstellativen exzentrischen Dispositionen bilden das kritische Movens, von dem aus sich jede aufs Globale gerichtete Perspektive befragen lassen muss. So werden auch bei der Suche nach einer globalen Ästhetik jene übersensiblen Allergiker aufmerken, denen eine solche Ausrichtung für den internen Reizhaushalt zur idiosynkratischen Reaktion ausreicht.
Immerhin bietet sich mit den Idiosynkrasien eine produktive Reibungsfläche, an der sich Status und Vision globaler Perspektivität kritisch reflektieren können. Wir können jedoch auch ratlos stehen und staunen angesichts des Modells 'Aleph'. Borges zeigt diese Alternative: Auf den erwartungsvollen und um Beifall heischenden Gastgeber, der ihm stolz einen Blick auf das Aleph ermöglichte, entgegnet der Erzähler: "'Sagenhaft. Ja, sagenhaft.' Der gleichgültige Klang meiner Stimme befremdete mich."(21)
© Antje Mansbrügge (Hamburg)
Anmerkungen:
(1) Jorge Luis Borges: "Das Aleph", in: Werke in 20 Bänden. Gisbert Haefs und Fritz Arnold (Hg.), Frankfurt a.M. 1992, Bd. 6, Das Aleph. Erzählungen 1944-1952, S. 131-148. Übersetzung von Karl August Horst und Gisbert Haefs.
(2) Das Aleph, S. 140. Weitere Zitate aus diesem Werk werden im Text mit Seitenzahlen in klammern ausgewiesen.
(3) So zieht sich der Satz über zwei Seiten hin, denn immer wieder setzt der Erzähler mit: "...und ich sah ..." an, um seine Sammlung weiterzuführen. Das Aleph, S. 143-145.
(4) Libuse Moníková: "Portrait aus mythischen Konnexionen", in: Michael Krüger (Hg.): Libuse Monikova. Schloß, Aleph, Wunschtorte, Hanser Verlag, München 1990, S. 107-118.
(5) Ebd., S. 111.
(6) Jorge Luis Borges: "Der Zahir", in: Werke in 20 Bänden. Gisbert Haefs und Fritz Arnold (Hg.), Frankfurt a.M. 1992, Bd. 6: Das Aleph. Erzählungen 1944-1952, Frankfurt a.M. 1992, S. 95-104. Übersetzung von Karl August Horst und Gisbert Haefs.
(7) Vgl. Encyclopaedia Judaica, Vol 2, Jerusalem 1971, Sp. 554-555.
(8) Zahir bedeutet im Arabischen offenkundig, sichtbar und ist weiterhin einer der neunundneunzig Namen Gottes, so führt Borges als Erklärung an.
(9) Borges: Das Aleph, S. 93. Den Obolus für den Fährmann legte man in der Antike den Toten auf die Zunge. Der oströmische General Belisar wurde für seine Leistungen nicht vom Kaiserhaus entlohnt und soll im Alter gebettelt haben. Judas wurde für seinen Verrat mit dreißig Silberlingen belohnt. Bei Athenaios ist die Kurtisane Laïs erwähnt, die in ihrer Jugend mit Goldmünzen entlohnt wurde und im Alter vor dem Palast bettelte. Vgl. editorische Notizen zu Borges, Das Aleph.
(10) Moníková 1990, S. 112.
(11) Silvia Bovenschen: Über-Empfindlichkeit. Spielformen der Idiosynkrasie, Frankfurt a.M. 2000, S. 11.
(12) Vgl. Brockhaus, Wiesbaden 1969, Bd. 8.
(13) Silvia Bovenschen: "Über-Empfindlichkeit. Versuch über den Begriff der Idiosynkrasie", in: Neue Rundschau, hgg. v. Günther Busch, Elisabeth Runge, Uwe Wittstock, Frankfurt a.M. 1994, Bd. 105, Heft 2, S. 126-152. Dieser frühe Aufsatz wird u.a. im ersten Abschnitt des Essaybandes wieder aufgenommen, in: "Von eigentümlichen Mischungen. Bild, Nerv, Wort und Idiosynkrasie", S. 11-41, "Ich kann dich ja nicht leiden. Adornos Idiosynkrasiebegriff", S. 73-93, in: Bovenschen 2000.
(14) So u.a. mit Barthes' Sammlung zu den Rubriken "Ich liebe ..." und "Ich liebe nicht ...". Nachzulesen in: Roland Barthes, Über mich selbst, München 1987, S. 127.
(15) Bovenschen 1994, S. 136. Zitat im Zitat von Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 60. Die Spezifik von Adornos Idiosynkrasiebegriff kann hier nicht ausgeführt werden, ich verweise dazu auch Bovenschen 2000, S. 73-93.
(16) Bovenschen 1994, S. 126.
(17) Bovenschen 2000, S. 94-118.
(18) Bovenschen 2000, S. 100f.
(19) Ebd.
(20) Ebd.
(21) Borges: Das Aleph S. 145.