Innovationen und Reproduktionen in Kulturen und Gesellschaften (IRICS) Wien, 9. bis 11. Dezember 2005

 
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Reise in die Macht: Erec und Enite in der Wildnis

Ralf Schlechtweg-Jahn (Universität Bayreuth)

 

ABSTRACT:

Eine Reise wird wesentlich bestimmt durch ihren Ausgangspunkt, und das ist in Hartmanns von Aue "Erec", entstanden gegen Ende des 12. Jahrhunderts, der Hof Erecs und Enites. Das Herrscherpaar versagt bei der Führung dieses Hofes, weil es sich permanent der Machtkommunikation mit den Höflingen entziehen.

Macht ist ein wesentliches Thema der höfischen Literatur, und zwar vor allem in Auseinandersetzung mit und in Absetzung von der Gewalt. Was dem Herrscherpaar am Hof verlorengegangen ist, nämlich die Fähigkeit zur Machtkommunikation, versucht es anschließend in der Reise durch die Wildnis gemeinsam wiederzugewinnen. Mit Hilfe von Niklas Luhmanns Machttheorie, entwickelt im Rahmen seiner allgemeinen Systemtheorie, läßt sich Macht als eine prinzipiell asymmetrische Kommunikationsform beschreiben, die ein Feld relativer Freiheit eröffnet, das den Beteiligten zugleich Wahlmöglichkeiten als auch -beschränkungen auferlegt. Mächtiger in dieser Kommunikationsform ist letztlich der, dem es gelingt, seine Formulierung von Wahlmöglichkeiten gegen andere durchzusetzen, wobei aber auch der Mächtigere an die Entscheidungen des Machtloseren gebunden ist, wenn Machtkommunikation gelingen soll. Damit läßt sich Machtkommunikation als eine Form beschreiben, die sich zwischen den zwei (theoretischen) Grenzformen Gewaltkommunikation und freie Kommunikation bewegt. Gewaltkommunikation heißt dann die Durchsetzung genau einer Absicht, eines Willens, freie Kommunikation wäre zu verstehen als gleichberechtigte Abstimmung von Interessen bzw. Aushandlung von Kompromissen. Machtkommunikation steht in gewisser Weise dazwischen, da sie sowohl Aspekte der Unfreiheit (Eingrenzung der Wahl, Schaffung von Unsicherheit bzw. Angst, ungleiche Teilnahmebedingungen) als auch der Freiheit (Wahlmöglichkeiten, Transparenz der Kommunikation, Handlungsfähigkeit) aufweist.

Das Grundprinzip höfischer Herrschaft läßt sich dann als eines von Macht und nicht Gewalt verstehen: König Artus herrscht nicht, weil er seine Ritter mit Gewalt unterwirft, sondern weil alle gemeinsam den Prinzipien der Ehre, einer höfischen Ethik also, verpflichtet sind. Es liegt dann in der Entscheidung der Ritter, was sie tun oder nicht tun, sie bewegen sich im Rahmen höfischer Machtkommunikation. Im Sinne dieser Logik höfischer Macht versagen Erec und Enite als Herrscherpaar, denn Macht verlangt, gerade unter den Bedingungen personaler Herrschaft wie im Mittelalter, einen ständigen Kommunikationsfluß am Hof. Ehre und Macht existieren nur, wenn sie ständig realisiert werden, da es keine Institutionen gibt, auf die sie verlagert werden könnten. Erec und Enite ziehen sich aber von ihrem Hof zurück, folgen dabei nur ihren eigenen Interessen, und nehmen sich selbst damit aus der Machtkommunikation heraus. Wenn aber der höfische Machthaber aufhört, Machtkommunikation zu führen, kann der Hof nicht länger bestehen. In Abwesenheit von Macht zerfällt der Hof in Anarchie, und ein Jeder handelt wieder nur im eigenen Interesse.

Die anschließende Reise des Herrscherpaares durch die Wildnis unterliegt ein höchst paradox anmutenden Planung durch Erec, der zunächst Enite mit Gewaltandrohung das Sprechen verbietet, zugleich aber einen beschädigten Helm aufsetzt, der ihn an der Wahrnehmung der Welt um ihn herum ebenso hindert, wie an adäquater Verteidigung. Würde Enite dem Befehl gehorchen, wäre Erec zwingend verloren. So muß Enite immer wieder gegen den Befehl verstoßen, und Erec ebenso regelmäßig diesen Verstoß akzeptieren. Die ganze Anordnung hat offenkundig nur den Zweck, Enite zum Verstoß gegen das Verbot bringen. Erkennbar wird dabei, daß Gewaltandrohung kein adäquates Mittel zur Festigung höfischer Herrschaft ist, und daß Gewaltandrohungen des Herrschers auch nicht hingenommen werden dürfen, wenn höfische Herrschaft funktionieren soll. Anders gesagt zeigt die Reise durch die Wildnis, das höfische Herrschaft nur im Verbund von Machthaber und Machtunterworfenen, verkörpert durch König und Königin, funktionieren kann, und ist deshalb eine Reise in die Macht.

Die Gewalt ist allerdings aus höfischer Machtkommunikation nicht völlig auszuschließen, sondern kehrt an vielen Stellen wieder. Zunächst einmal übt Erec mehrfach Zwang auf Enite aus, erweist sich dann aber gerade dadurch als adäquater Herrscher, daß er auf die angedrohten Gewaltkonsequenzen andauernd verzichtet. Zugleich setzt er sich selbst der Gewalt aus, wenn er sein Leben in die Hand Enites gibt, der er doch genau dies, die Bewahrung seines Lebens, verboten hat. Erec und Enite lernen paradoxerweise durch Gewalt als Herrscherpaar in Machtkommunikation zu agieren. Damit aber gelingt es ihnen, in der Wildnis die Gewalt für die Macht nutzbar zu machen, und damit das höfische Paradox einer Form von Macht, die ohne unmittelbare Gewalt nicht auskommen kann, zu lösen. Ohne diese Reise in die Wildnis würde höfische Machtkommunikation an ihren inneren Widersprüchen zerbrechen. Ungeklärt und wohl auch unlösbar bleibt allerdings, wie am Hof selbst mit Gewalt und feudaler Anarchie umgegangen werden kann. Die Reise durch die Wildnis in der aventiure ist deshalb auch unverzichtbarer Bestandteil der höfischen Literatur.


Innovations and Reproductions in Cultures and Societies
(IRICS) Vienna, 9 - 11 december 2005

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