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Naoji Kimura (Tokio) |
Auf der europäischen Weltkarte findet man in der Mitte den Atlantik, so daß auf dem östlichen Rand das kleine Inselland Japan abseits von Eurasien liegt. Daher kommt denn auch die alte Bezeichnung "der Ferne Osten" für ostasiatische Länder wie China, Korea oder Japan, die vom Nahosten weit entfernt situiert sind. Dagegen liegt in der Mitte der japanischen Weltkarte der Pazifische Ozean, so daß man auf dem östlichen Rand Nord-, Mittel- und Südamerika und auf dem westlichen Rand die europäischen Länder sieht. Wenn man von Jugend an solche Weltbildern gewöhnt ist, hat man sicherlich eine unterschiedliche Vorstellung von der Welt. Geographisch ist Japan eigentlich der nächste westliche Nachbar Amerikas wie etwa Deutschland und Frankreich zueinander und auch historisch zumindest seit mehr als hundert Jahren mit Amerika engstens verbunden(1).
Bei der ptolemäischen Weltvorstellung, die doch notwendigerweise einer Wandkarte zugrunde liegt, vergißt man außerdem sehr leicht, daß die Erde sich um ihre Achse von links nach rechts dreht und der Begriff von Ost und West sich recht relativ verhält. Seit der kopernikanischen Wende liegt daher der sogenannte Ferne Osten zu gleicher Zeit im Westen des amerikanischen Kontinents, auch wenn man die Welt immer noch von Europa aus betrachtet. Vor zwei Jahrtausenden ging die Sonne offenbar im Osten auf, als das Christentum dort seinen Anfang nahm. Dem "Untergang des Abendlandes" im Laufe der Jahrhunderte folgte dann das Zeitalter der Pax Americana, das die Geschichte des 20. Jahrhunderts entscheidend prägen sollte. Inzwischen ist die EU zustande gekommen, von der man sich die Erneuerung Europas verspricht.
Die geschichtliche Wende trat in Japan bekanntlich mit der Meiji-Restauration von 1868 ein. Wie alles Geschehen in der Welt hatte diese ihre Vorgeschichte, insofern sie während der "Sakoku" genannten, 200-jährigen Abschließung des Landes vorbereitet wurde. In dieser langen Übergangszeit verlief die kulturelle Rezeption in Japan grundsätzlich vom Westen nach dem Osten. Erstens beeinflußte die chinesische Klassik durch das ganze Mittelalter hindurch das öffentliche Leben und bildete die feste Grundlage der japanischen Kultur. Zweitens wurde die europäische Naturwissenschaft auf dem Weg der Ostindischen Kompanie in Form der sog. Holländischen Wissenschaft in die Gebildetenkreise eingeführt(2). Voraus ging ihr die erste christliche Mission im 16. Jahrhundert durch die spanischen und portugiesischen Jesuiten, die aber im Zuge der Christenverfolgung unter dem Tokugawa-Regime das Land verlassen mußten. In der daran anschließenden Edo-Zeit ereignete sich etwas Merkwürdiges. Die gebildeten Japaner, damals meist noch jugendliche Samurai, wollten sich von der konfuziansch-buddhistisch überlagerten östlichen Kulturtradition abwenden und der westlichen Zivilisation zuwenden, um die moderne japanische Kultur zu begründen.
Hier trat jedoch in der Auffassung des Westens ein Paradigmenwechsel von größter Tragweite ein. Es war ohne Zweifel der amerikanische Marineoffizier Matthew Calbraith Perry, der den entscheidenden Anstoß dazu gab. Infolge der drohenden militärischen Ankunft seines Geschwaders im Vorjahr mußte Japan seit 1854 seine Häfen den amerikanisch-europäischen Handelsmächten öffnen. In dieser bedeutsamen Geschichtsstunde hat man sich in Japan vom Niederländischen auf das Englische umgestellt und sein Augenmerk nicht mehr ostwärts auf das asiatische Festland, sondern westwärts auf Amerika sowie England gerichtet. So fand die Schiffahrt der Japaner nach Amerika zum erstenmal im Januar 1860 statt, und das zweitemal im Januar 1867. Der folgen- und erfolgreichste Passagier war der liberale Denker und Gründer der Keio-Universität in Tokyo, Fukuzawa Yukichi, der einschließlich seiner mit einem englischen Schiff ostwärts unternommenen Europareise im Dezember 1861 noch vor der Meiji-Restauration dreimal nach dem Westen fuhr. Damals stieg er in Marseille aus, fuhr mit der Bahn nach Paris und von dort in Richtung London oder Berlin weiter.(3) Nach dem Ausgang des preußisch-französischen Krieges wurde die Außenpolitik der Meiji-Regierung von Frankreich auf Deutschland umgeschaltet.
Mit dem Westen im engeren Sinne werden also nach dem japanischen Wortgebrauch Europa und Amerika zusammengefaßt, wenngleich die USA auf der landesüblichen Weltkarte im Osten liegen. Das besagt, daß die Japaner seit der Neuzeit über Asien hinweg unmittelbar an Europa und Amerika zu denken begonnen haben. Im Wilhelm Meister-Roman stellte Goethe eher der alten Welt Europa die neue Welt Amerika gegenüber. Aber schon Kolumbus hatte den Gedanken, über die Atlantik in westlicher Richtung nach Indien zu gelangen, das von Europa aus gesehen eindeutig im Osten lag. Im technischen Zeitalter, das ohnehin alles globalisiert und internationalisiert, müßte man auch im Geschichtsdenken eine Umorientierung vornehmen, um von Amerika aus nach Japan zu gelangen. Dann erweist sich dieses Inselland jenseits des Pazifiks als der Ferne Westen, der als eine verspätete Nation wie Deutschland über ein Jahrhundert lang nacheifert, sich so bald wie möglich die moderne, d.h. angloamerikanische Zivilisation anzueignen.
Der deutsche Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl sagte in seiner Rede vor dem Europarat am 28. September 1995 in Straßburg: "Wir brauchen Europa als wetterfestes Haus mit einem stabilen Dach, in dem alle europäischen Völker je nach ihren Bedürfnissen ihre Wohnung finden, und ich wünsche mir, daß auch unsere amerikanischen und kanadischen Freunde ein Dauerwohnrecht in diesem Hause haben." Der wichtigste Grund für den Bau des Hauses Europa besteht nach seiner Überzeugung darin, daß man im 21. Jahrhundert in Europa in Frieden und Freiheit zusammenlebt. Für den "Europäer des Jahres 1995" und den ersten Ehrenbürger der EU ist also nicht "eine Art gehobener Freihandelszone" mit dem Euro, sondern die politische Einigung Europas von entscheidender Bedeutung. Da fragt man sich vom globalen Standpunkt, was für ein Haus dann in Asien gebaut werden soll. Japan darf leider nicht wie Deutschland dafür plädieren, da seine Vergangenheitsbewältigung im Fernen Osten noch nicht vollbracht ist. Darin zeigt sich allerdings ein großer Unterschied in der Ost-West-Debatte.
Wenn trotzdem darauf hingewiesen wird, daß Japan heute de facto als der Ferne Westen angesehen werden müßte, so bedeutet das freilich nicht, daß die Japaner, die wirklichen Freunde Europas sind, im Hause Europa ähnlich wie die amerikanischen und kanadischen Freunde behandelt werden wollen oder sollen. Die europäische Einigung ist ja in erster Linie eine politisch-wirtschaftliche Angelegenheit in der Weltpolitik. Die Kultur kommt darin nur deshalb zu kurz, weil sie grundsätzlich einem Versuch der Einigung zuwiderläuft. Es gibt wohl eine mehr oder weniger einheitliche europäische Kultur, die sich deutlich von den islamischen oder buddhistischen Kulturen unterscheidet. Aber innerhalb Europas bestehen so mannigfaltige Unterschiede in Regionen, Sprachen, Konfessionen, Sitten und Bräuchen, daß man nie auf den Gedanken kommt, sie überhaupt einmal integrieren zu können. Dies mit fremden Händen zu erstreben, würde darauf hinauslaufen, die bodenständige, einheimische Kultur zerstören zu wollen.
Während die europäische Kultur durch die auseinanderstrebende Mannigfaltigkeit gekennzeichnet ist, stellt die japanische Kultur eine eigenartige einheitliche Mischkultur dar, indem sie sich gleichzeitig im Fernen Osten und im Fernen Westen befindet. In Japan gibt es von Anfang an eine Mischkultur, die aus den Elementen des Shintoismus, Buddhismus und Konfuzianismus zusammengesetzt ist. Wenn auch das Christentum mit seinen verschiedenen Konfessionen und Sekten hinzugekommen ist, kann es in Japan nie einen Anspruch auf die Absolutheit erheben. Es ist ja untereinander uneinig und kann nicht selbst konform gehen, muß also mit den anderen traditionellen Religionen friedlich nebeneinander existieren. Vorwürfe im Sinne des Eklektizismus sind hier fehl am Platz. Lessings Theaterstück Nathan der Weise ist sowohl in religiösem als auch kulturellem Sinn als ob es für die Japaner geschrieben worden wäre. Das Christentum wird jedoch im allgemeinen als Grundlage europäisch-amerikanischer Kultur hochgeschätzt. Auf einem solchen Kulturverständnis beruht letztlich die Hochachtung, der sich Goethe als der am meisten gebildete Europäer unter den japanischen Gebildeten erfreut. Im West-östlichen Divan schrieb er einen Talisman wie folgt: "Gottes ist der Orient!/ Gottes ist der Okzident!/ Nord- und Südliches Gelände/ Ruht im Frieden seiner Hände."(4) Das ist aber noch europäisch gedacht. Fernöstlich würde der Mensch im Vordergrund stehen. Denn nach der alten Begriffsbestimmung sind die Japaner im Grunde in der Kultur fernöstlich und in der Zivilisation westlich ausgerichtet. Es gehört zu ihrer Lebenskunst, beides harmonisch nebeneinander bestehen zu lassen.
Anmerkungen
(1) | Vgl. Naoji Kimura: Amerikas Einfluß auf die Neuzeit Japans. Der Fall Kanzo Uchimura. In: Schnittpunkt der Kulturen. Gesammelte Vorträge des Internationalen Symposions, 17.-22. September 1996, Istanbul/Türkei. Hrsg. von Nilüfer Kuruyazici, Sabine Jahn, Ulrich Müller, Priska Steger, Klaus Zelewitz. Stuttgart 1998. S. 257-269. |
(2) | Vgl. Naoji Kimura: Jenseits von Weimar. Goethes Weg zum Fernen Osten. Darin vor allem die Schlußbetrachtung "Gestaltung des neuzeitlichen Japans durch die Jünger der sog. Holländischen Wissenschaft". Bern 1997. |
(3) | Näheres vgl. Fukuzawa Yukichi. Eine autobiographische Lebensschilderung, übersetzt und mit einer Einleitung von Gerhard Linzbichler. Die Japanisch-Deutsche Gesellschaft e.V. Tokyo 1971. |
(4) | Goethes Werk. Hamburger Ausgabe. Bd. 2, S. 10. |
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