Internationale Kulturwissenschaften
International Cultural Studies
Etudes culturelles internationales

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Shaswati Mazumdar (New Delhi)
Kulturwissenschaften und Übersetzung. Erfahrungen aus indischer Perspektive

In seinem während der nationalen Begeisterung des Ersten Weltkriegs gefassten Werk, Die Krisis der Europäischen Kultur, hat Rudolf Pannwitz die Aufgabe des Übersetzers folgendermaßen ausgedrückt:

"unsere übertragungen, auch die besten, gehen von einem falschen grundsatz aus, sie wollen das indische, griechische, englische verdeutschen, anstatt das deutsche zu verindischen, vergriechischen, verenglischen. sie haben eine viel bedeutendere ehrfurcht vor den eigenen sprachgebräuchen als vor dem geiste des fremden werks ... der grundsätzliche irrtum des übertragenden ist, daß er den zufälligen stand der eigenen sprache festhält, anstatt sie durch die fremde gewaltig bewegen zu lassen. "(1)

Pannwitz verspricht sich von dieser gewaltigen Bewegung der Sprachen viel, und letztendlich nichts weniger als daß sich die Sprachen durch diesen Verwandlungsprozess voneinander nur so wenig unterscheiden wie Mundarten. Mag diese Vision noch so utopisch klingen, so ist damit ein klarer Maßstab gesetzt, demzufolge der Übersetzer sein Interesse nicht auf die Fremdheit des sogenannten Inhalts eines Textes richtet, sondern allgemein auf die Fremdheit der Sprache dieses Textes und spezifisch auf die Möglichkeiten der Erweiterung, Vertiefung, - man könnte sogar sagen, auch Verfremdung - der eigenen Sprache.

Ein bekanntes Beispiel einer solchen Übersetzung ist meines Erachtens die von Edward Fitzgerald aus dem Persischen ins Englische übertragene Rubaiyat of Omar Khayyam. Das im englischsprachigen Raum einschließlich Indiens weitverbreitete Büchlein erlangte seine Beliebtheit nicht gerade durch die Darstellung der persischen Welt im 11. Jahrhundert, denn eine ziemlich dekadente, anscheinend im Absterben begriffene und dem Dichter gegenüber feindlich eingestellte Welt ließ sich herauslesen. Das Werk tat sich aber vor allem durch die Eigenartigkeit des Ausdrucks, die ungewöhnlichen Rhythmen und Melodien der Verse, und ihre genußbereitende Zitierbarkeit (2) hervor. Die schöpferische Leistung des Übertragenden war also die Fähigkeit seines Textes, die englische Sprache zu unterwandern, eine gewisse Verwirrung zu stiften in festgefahrenen Sprachformen, und dadurch der Sprache neue Entwicklungsmöglichkeiten geschenkt zu haben. Die Herausforderung des Werks wird auch dadurch bestätigt, daß die erste Ausgabe auf wenig Interesse stieß und erst ihre spätere Wiederentdeckung in Antiquariaten den Erfolg auslöste.(3)

Goethe unterscheidet im West-östlichen Divan zwischen drei Arten der Übersetzung, deren Beziehung er in einer zeitlichen Hierarchie darstellt: eine schlicht-prosaische, die die Eigentümlichkeiten des fremden Werks wie überhaupt jedes poetische Merkmal völlig aufhebt; eine parodistische, die das Fremde, ob Wort, Gefühl, Gedanke oder Gegenstand, dem im eigenen Land herrschenden Geschmack mundrecht macht; und eine letzte und höchste Art, die die Originalität der eigenen Nation mehr oder weniger aufgibt und sich mit dem Original des fremden Werkes zu identifizieren versucht. Die erfreuliche Folge dieser letzten und höchsten Art sei dann, gerade im Sinne von Pannwitz, die "eingedeutschte Fremde".(4)

Goethe übersetzte auch selbst oft in seinem Leben Texte von früheren Zeiten wie auch von der zeitgenössischen Literatur anderer Länder und fasste sogar mit Schiller den allzu ehrgeizigen Plan, "die Weltdramatik ins theatergerechte Einrichtungen zu übertragen".(5)

Im folgenden werden einige Beispiele sowohl der sprachlichen Bereicherung wie auch ihres Fehlschlagens durch Übersetzung bzw. Übertragung im indischen Sprachraum skizziert.

Charakteristisch für den indischen Sprachraum ist die Vielfalt der auf indischem Grund und Boden gewachsenen Sprachen einerseits und das Fortdauern des von der Kolonialzeit ererbten Englisch als Elitesprache andererseits, wobei diese Elite gewiß breiter zu fassen ist als während des Kolonialismus. Viele machen tagtäglich von mindestens zwei Sprachen Gebrauch. Merkwürdig aber ist die ungenierte Vermischung der Sprachen bis in die einzelnen Sätze hinein. Daß in diesem Sammelsurium auf die Dauer auch das Englische nicht unberührt blieb, zeigt sich in der sich zur Zeit auf dem Weltmarkt mit Erfolg behauptenden englischsprachigen indischen Literatur. Aber die gegenseitige Unterwanderung der Sprachen widerfährt allen Sprachen, ob das nun durch Übersetzung im engsten Sinne des Wortes zustande kommt oder im massenhaften Zugreifen auf verschiedene sprachliche Möglichkeiten.

Der hindisprachige Raum in Nordindien wird durch die Koexistenz von Hindi und Urdu gekennzeichnet. Einst die Hofsprache zur Zeit des Moghulreichs, dann die Sprache der Gebildeten, befindet sich die Urdu-Sprache heute zum Teil im Kampf um ihre Gleichberechtigung gegen die Eindämmungsversuche von 'Hindi- und Hindunationalisten' bzw. Fundamentalisten. Zudem kommt noch die aus der Mischung von Hindi und Urdu hervorgegangene Umgangssprache Hindustani, die im Angesicht der Säuberungswut der Fundamentalisten schon mehrere kulturpolitische Niederlagen erlitten hat. Hinausgejagt aus Schulen und anderen Institutionen, behauptet sich Hindustani nichtsdestoweniger in der Umgangssprache, in der Literatur, in der populärsten Unterhaltungsform, dem Hindi-Film, wie auch in der noch populäreren Hindi-Film-Musik. Da Hindi und Urdu eine andere Aussprache und einen anderen Wortschatz besitzen, hat Hindustani sozusagen eine 'lockere Zunge' und einen doppelten Wortschatz mit einer daraus folgenden Verdoppelung der Bedeutungsschattierungen.

Der Hindi-Journalismus, der sich im Schatten der englischsprachigen Presse entwickelte, hat nicht nur Begriffe, Wortzusammensetzungen und Metaphern übernommen, für die es vorher im Hindi nichts Entsprechendes gab, sondern auch die Art der Darstellung von Nachrichten und Meinungen einschließlich der Strukturen und eines leidenschaftslose Sachlichkeit vortäuschenden Tons; Elemente, die für die englische Nachrichtenerstattung so typisch sind. Wie positiv dieser Vorgang der weitreichenden Übertragung von sprachlichen Rohstoffen und Produktionsweisen in einem zunächst vom Kolonialismus beherrschten und dann von der relativen Unabhängigkeit der nachkolonialen Zeit markierten Kontext für die der Sprache innewohnenden Entwicklungsmöglichkeiten ausgefallen ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Daß aber dadurch in großem Maße sprachliches Neuland erobert wurde, liegt auf der Hand.

Rabindranath Tagore, der einst meist bekannte indische Dichter, übersetzte selbst mehrere seiner Prosa-Texte ins Englische. Dabei stellte es sich heraus, daß der große sprachschöpferische Dichter sich als Übersetzer nicht hätte durchsetzen können. Seine eigenen Übersetzungen waren sprachlich so farblos und schwach wie die Originale vielfältig und kraftvoll. Er, der die eigene Sprache so außerordentlich bereicherte, vermochte in der anderen Sprache kaum eine Bewegung auszulösen. Spätere, von anderen aufgenommene Übersetzungen seiner Werke ins Englische hatten mehr Erfolg. Das Beispiel soll nicht einfach belegen, daß Dichten und Übersetzen ganz unterschiedliche Tätigkeiten sind, sondern vielmehr die Frage aufwerfen, ob nicht bestimmte Sprachen sich zeitweilig dem Einfluß anderer Sprachen gegenüber widerstandsfähiger erweisen.

Seit etwa dreißig Jahren ist Bertolt Brecht wahrscheinlich als der bekannteste von den deutschen Dichtern in Indien hervorgetreten. Mehrere seiner Stücke wurden übersetzt und aufgeführt. Insbesondere bei den verschiedenen Übersetzungen seiner Gedichte merkt man aber die großen Abweichungen zwischen den Versionen. Während viele Übersetzter nach der von Goethe als "parodistisch" bezeichneten Übersetzungsart verfahren, obwohl mit keineswegs als parodistisch zu bezeichnenden Absichten, lösen die Versuche, die Eigenart der Sprache Brechts durchscheinen zu lassen, oft Befremden und Mißbilligung aus. Zum Teil läßt sich der Widerstand der Übersetzer auf Mißverständnisse zurückführen, die in Anbetracht des mangelhaften Zugangs zu beträchtlichen Teilen des Gesamtwerks kaum überraschen dürften. Sicherlich entstehen dabei produktive und unproduktive Mißverständnisse. Merkwürdiger ist aber das Phänomen, daß, ähnlich wie bei den englischen Übersetzungen der Werke Tagores, die Sprache des Übersetzers einen Wderstand gegen die Sprache des Dichters leistet. Die Kälte der Großstädte, die durch Brechts Sprache weht, hat sich im Hindi noch nicht bequem machen können, obwohl die Kälte der indischen Städte keineswegs hinter der Berlins zur Zeit der Weimarer Republik zurückbleibt.

Daß die Sprache Brechts überhaupt eine Herausforderung für den Übersetzer darstellt, wird durch den schleppenden Gang der englischen Übersetzungen bestätigt, und erst recht dadurch, daß die Keunergeschichten (6) und das Me-ti-Buch (7), beide aus kurzen Prosatexten bestehend, bis jetzt noch nicht übersetzt wurden.

Walter Benjamin konstatiert die Verwandtschaft aller Sprachen darin, daß jede Sprache sich stets durch den historischen Verwandlungsprozess auf "die reine Sprache" hinbewegt. Dabei unterscheidet er in den Sprachintentionen zwischen dem Gemeinten und der Art des Meinens. Während die Sprachen sich am Gemeinten treffen, gehen sie in der Art des Meinens auseinander. Die Aufgabe des Übersetzers bestehe eigentlich darin, diese Art des Meinens von der fremden in die eigene Sprache zu übertragen. Alle Übersetzung sei "nur eine irgendwie vorläufige Art (...), sich mit der Fremdheit der Sprachen auseinanderzusetzen. Eine andere als zeitliche und vorläufige Lösung dieser Fremdheit, eine augenblickliche und endgültige, bleibt den Menschen versagt oder ist jedenfalls unmittelbar nicht anzustreben."(8) Im Mittelpunkt des Interesses Walter Benjamins steht also erstens nicht die Fremdheit des Inhalts, sondern die der Sprache, und zweitens die Frage, wie man diese Fremdheit nicht wegräumt, sondern in die eigene Sprache hereinholt.

Auch Goethes Interesse beim Verfassen des West-östlichen Divans ist nicht die Exotik einer orientalischen Welt und eines orientalischen Lebens an sich, sondern wie sich diese andere menschliche Welt in Sprache artikuliert, wie sie der Sprache andere Rhythmen und Melodien verleiht, und durch die Übersetzung für die eigene Sprache neue Ausdrucksmöglichkeiten gewinnt. Bekanntlich ist der West-östliche Divan keine Übersetzung, sondern eine eigene Schöpfung Goethes. Aber Vorlage für dieses Werk war eine deutsche Übersetzung des Divans des persischen Dichter Hafis. Für Goethe war diese Übersetzung zum großen Teil ein Beispiel der dritten und letzten Art, der es vor allem gelungen war, sich der äußeren Form anzunähern. Sein eigenes Werk wäre daher der Versuch, von der 'eingedeutschten Fremde' Gebrauch zu machen und die als neu empfundene Beweglichkeit der eigenen Sprache voranzutreiben.

In einer von Markt und Medien manipulierten Geschmackslandschaft liegt der erst im letzten Jahr erschienene indische Roman Difficult Daughters schon in deutscher Übersetzung (mit dem Titel Schwierige Töchter) in den Buchhandlungen vor. Unabhängig davon, wie schön der Text im Original sein mag, geht es hier offensichtlich um einen markt- und medienstrategischen Zugriff, der dann durch die Kurzbeschreibung der Ausgabe das dem Publikum zugeschriebene Interesse am Fremden, am Anderen hervorhebt. Nicht daß die traditionellen Strukturen sich ändern - zum guten wie auch zum schlechten - ist für die Anzeige interessant, sondern daß sie sich wiederholen und scheinbar unüberwindlich sind. (9) Der praktisch-weise Herr Keuner würde dazu sagen: "Nicht daß die Menschen verschieden sind, ist gut, sondern daß sie gleich sind. Die Gleichen gefallen sich. Die Verschiedenen langweilen sich."(10)

Ich will damit keineswegs bestreiten, daß der Roman einer Übersetzung würdig ist, sondern lediglich auf einen Aspekt hinweisen, der die Aufmerksamkeit des Übersetzers auch beim Vorgang des Übersetzens verdient. Der Übersetzer steht auch vor der Aufgabe, wie er bestimmte Wörter, Begriffe, Ideen, die einem ganz anderen Kulturkreis gehören, übersetzen soll. Will er dem bestehenden Publikumsgeschmack dienen, indem er die Faszination einer abstoßenden Andersartigkeit heraufbeschwört, oder will er den Zugang zu dieser anderen Welt erleichtern, indem er die von Goethe als dritte Epoche oder Interlinearversion, eine im übertragenen Sinne zwischen die Zeilen des fremdsprachigen Urtextes geschriebene Übersetzung anstrebt:

"Warum wir aber die dritte Epoche auch zugleich die letzte genannt, erklären wir noch mit wenigem. Eine Übersetzung, die sich mit dem Original zu identifizieren strebt, nähert sich zuletzt der Interlinearversion und erleichtert höchlich das Verständnis des Originals; hiedurch werden wir an den Grundtext hinangeführt, ja getrieben, und so ist denn zuletzt der ganze Zirkel abgeschlossen, in welchem sich die Annäherung des Fremden und Einheimischen, des Bekannten und Unbekannten bewegt."(11)

Es scheint mir damit nicht nur eine Herausforderung an die Übersetzer, sondern eine eminent politische Aufgabe der Kulturwissenschaften überhaupt thematisiert worden zu sein.

 

ANMERKUNGEN

1 Zitiert nach Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers. In: W.B.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 1977, S. 61
2 Brecht, selbst ein Spracherneuerer, hebt auch die Zitierbarkeit als Ziel hervor: "Das einzige, was Herr Keuner über den Stil sagte, ist: "Er sollte zitierbar sein. Ein Zitat ist unpersönlich. Was sind die besten Söhne? Jene, welche den Vater vergessen machen!" (B.B.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd.18. Berlin u.a. 1995, S. 29)
3 "The poem made so little mark on its first appearance - so little mark with the critics and the general public, that is to say - that the original edition, passing out of sight, became presently a delightful rarity for the next generation of secon-hand-book-lovers to unearth, for the high appreciation in two kinds which was then awaiting it - the literary and the monetary." (Einleitung von Lawrence Housman. In: Rubáiyát of Omar Khayyám done into English by Edward Fitzgerald. Guild Publishing London 1986)
4 J.W.v.Goethe: Werke. Bd.2. Gedichte und Epen II. dtv: Hamburg/München 1998, S. 255-258
5 Peter Hacks: Die Maßgaben der Kunst. Gesammelte Aufsätze 1959-1994. Edition Nautilus: Hamburg 1996, S. 155. Hacks, selbst ein großer Verehrer der Klassiker, nennt den Plan "entsetzlich", denn in Anbetracht der damaligen Unreife des Theaters als Anstalt, "welche geschmacklich ... unter der niedrigsten Ebene des Publikumsgeschmacks" lag, hätten solche Übertragungen der Weltdramatik nur Schaden zugefügt.
6 Bertolt Brecht: Geschichten von Herrn Keuner. In: B.B.: Werke, a.a.O., S. 13-43
7 Bertolt Brecht: Me-ti. Buch der Wendungen. In: B.B.: Werke, a.a.O., S. 47-194
8 Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, a.a.O., S. 55
9 Manju Kapur: Schwierige Töchter. Deuticke 1999 / englische Ausgabe: Difficult Daughters. London 1998. Kurzbeschreibung der deutschen Ausgabe: "Punjab, Nordindien, in den frühen vierziger Jahren: Die siebzehnjährige Virmati weigert sich, den ihr von der Familie zugedachten Bräutigam zu heiraten. Ein beispielloser, doch unausweichlicher Skandal, denn sie liebt einen anderen. Er ist Professor, soeben aus Oxford zurückgekehrt, brillant, charmant, eloquent und - verheiratet. Es ist eine scheinbar ausweglose Situation, mit der Manju Kapur diesen Roman um die Lebensgeschichte ihrer Mutter beginnt: einer Frau, die traditionelle Strukturen auf schmerzhafte Weise durchbricht. Viele Jahre später, stößt ihre Tochter auf kontinuierlich sich wiederholende Muster, die nicht nur das Leben ihrer Mutter und Großmutter, sondern auch ihr eigenes Dasein unausweichlich zu bestimmen scheinen..."
10 Brecht: Geschichen von Herrn Keuner, a.a.O., S. 34
11 J.W.v.Goethe: Werke, a.a.O., S. 257-258



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