Internationale Kulturwissenschaften
International Cultural Studies
Etudes culturelles internationales

Sektion VIII: Internationale wissenschaftliche Organisationen und International Scientific Community

Sektion VIII:
International Scientific Organisations and International Scientific Community

Sektion VIII:
Organisations scientifiques internationales et communauté scientifique internationale


András Balogh (Budapest)

Französisch 
Möglichkeiten und Probleme internationaler Kooperation aus der Sicht junger WissenschaftlerInnen in Ungarn. Ein Essay über die Germanistik

1989, das Jahr der Wende, bedeutete auch für die Philologie und insgesamt für die Wissenschaften in Ungarn einen Neuanfang, der sich möglicherweise in der Wissenschaftsgeschichte Ungarns mit der Zeit als bedeutend erweisen wird. An den Universitäten, wo die meisten WissenschaftlerInnen tätig sind, wurden bereits in den 80er Jahren curriculare Reformen vorgenommen, womit das Studium in Ungarn insgesamt viel liberaler geworden ist, als in den anderen sozialistischen Ländern. Diese Reformen haben jedoch die Wissenschaftskonzeption und die Strukturen der Wissenschaftsorganisation kaum berührt. Erst seit der Wende ist der Wille da, grundlegende Änderungen durchzuführen, aber diese Schritte verlaufen nur zögerlich und nicht für alle Generationen von Wissenschaftlern sind sie gleich eingeführt. Vor allem junge Wissenschaftler sind mit den neuen Gegebenheiten - und auch mit den neuen Schwierigkeiten - konfrontiert; die älteren Generationen wußten sich zu hüten. Die neue Gegebenheiten bestimmen aber die Art und Weise der wissenschaftlichen Kooperation mit dem Ausland.

Welche organisatorische Rahmenbedingungen wurden für die Wissenschaft geschaffen? Die bedeutendste Bedingung, die den Wissenschaftlern zugesichert wurde, ist die Freiheit der Forschung. Diese Tatsache bestimmt eigentlich alle anderen. Früher - in den Jahren des Sozialismus - war die Wissenschaft "halbfrei"; man konnte zwar die Forschungsthemen selber bestimmen, aber die Strukturen (Universitätsorganisationen, Evaluierungsmethoden) schrieben doch gewisse Richtungen vor. Und auch wenn kühnere Wissenschaftler sich von diesen Zwängen losgelöst haben, viel konnten sie nicht erreichen, denn sie wurden finanziell nicht gefördert, sondern in ihrer Reisefreiheit und Kontaktfreiheit gehindert. Heute ist man frei, was Themenwahl, Anwendung von Methoden, Auswahl der Partner und Festlegung der Forschungsziele anbelangt. Andererseits birgt die Freiheit gewisse Gefahren in sich: die gesellschaftliche Akzeptanz der Forschungen wird nicht gesichert, oft nicht einmal gefördert; die Eigenentwicklung und Eigendynamik der Forschung wird von der Politik und von der Leitung vieler Institute nicht automatisch rezipiert und anerkannt.

Die Freiheit der Forschung heißt für die junge Generation mehr Eigenverantwortung als früher, denn man soll eine Anerkennung der älteren Kollegen, des wissenschaftlichen Publikums erreichen und noch dazu die Arbeitsstelle sichern. Es kommen noch die Schwierigkeiten durch die niedrigen Gehälter hinzu, wodurch diese Ziele nicht verwirklicht werden können. Die Verantwortung kommt dann ins Spiel, wenn man zwischen den realen Möglichkeiten wählen soll und Akzente setzen muß.

Die junge Wissenschaftlergeneration in Ungarn ist mit der folgenden Situation konfrontiert, die ich am Beispiel der Germanistik darstellen möchte: Die Zahl der deutschen Lehrstühle vervielfachte sich und die auf diese Weise geschaffenen neuen Arbeitsplätze wurden größtenteils von jungen Fachkräften besetzt, die nach und nach die Promotion anstreben und damit in der Wissenschaft ein Mitspracherecht beantragen. Im größeren, gesellschaftlichen Zusammenhang ist die "Lehrstuhlgründungswut" auf zwei Faktoren zurückzuführen: Einerseits hat man noch 1988 in den Schulen die russische Sprache als Pflichtfach abgeschafft, und der auf Wunsch der Eltern eingeführte Englisch- und Deutschunterricht erzeugte einen chronischen Lehrermangel, den die Universitäten und Hochschulen durch die Massenproduktion von Akademikern bekämpfen wollten. Die Lösung dieses realen Problems der ungarischen Gesellschaft hat - als zweiter Faktor der Lehrstuhlgründungen - auch einen psychologischen Aspekt - den Bildungsstolz nämlich, weil alle kleinen Hochschulen die Zahl ihrer Lehrstühle steigen wollten, um in der Zukunft die Chancen einer möglichen Universitätswerdung nicht zu verpassen. Dazu kommt noch, daß Gemeindeverwaltungen, Kirchen und sogar unternehmungslustige Personen Privathochschulen gründeten, die ebenfalls das Germanistikstudium einführten, weil dies am leichtesten zu rechtfertigen war oder weil es schnell Profit brachte. Außer den Gründungsproblemen ("keine Bibliotheken in der Pußta") zeigt sich seit Jahren, daß viel zu viele Deutschlehrer ausgebildet werden: Arbeitslosigkeit wird jedoch nicht produziert, weil die Fremdsprachenkenntnisse auf dem Arbeitsmarkt immer noch gut verwertet werden können. Es sei aber dahingestellt, wie lange sich die Nachfrage noch halten wird. Die große Zahl der Lehrstühle implizierte auch eine wissenschaftliche Konkurrenz zwischen den Lehrstühlen und mutatis mutandi zwischen den jungen ForscherInnen. In dieser Konkurrenz sind die ausländischen Partner eine Art Rechtfertigung der Forschungsergebnisse. Deshalb ist heute ein Wettlaufen nach ausländischen Partnern zu beobachten. Daher kann man sagen, daß die Kooperationsbereitschaft von ungarischer Seite viel größer ist, als die realen Ergebnisse und Bedürfnisse der Forscher.

Im Zuge der Neugestaltung des Hochschulunterrichts wurde auch das System der Evaluierung des Hochschulpersonals reformiert. Die zentrale Rolle nimmt ab jetzt die "PhD-Ausbildung", die eigentliche Promotion, ein; so haben sich die vielen jungen Leute an den neugegründeten Lehrstühlen und an den größer gewordenen alten Instituten nach wie vor mit wissenschaftlichen Leistungen etablieren müssen. Bedingt durch die traditionelle Bildungsauffassung verlangt das Doktoratssystem grundlegende Forschungsergebnisse. Die Lehrtätigkeit wird in die Evaluierung nicht miteinbezogen - so berühren die bildungspolitischen Diskussionen, die curricularen Reformen den wissenschaftlichen Werdegang dieser Generation nicht.

Die ersten Jahrgänge der Doktoranden werden in ein bis zwei Jahren das Studium und auch die Arbeit abschließen. So kann es zu einer rasanten Entwicklung kommen. Seit der Einführung des neuen Systems entschließen sich immer mehr Magister zum Fortführen ihres Studiums. Ihre Zahl beträgt heute schon mehr als 40. Es ist also mit vielen Arbeiten zu rechnen, die alle den Ehrgeiz haben, etwas Unerforschtes und Wichtiges zu sagen. Wahrscheinlich wird es aber doch nicht zu einem Boom kommen, denn viel zu wenige Vorarbeiten sind bis jetzt erschienen. Ungarn wird also keine Großmacht der Germansitik werden. In dieser günstigen Situation ergibt sich die Frage, in welche Richtung der Nachwuchs forscht. Bahnen sich neue Wege an, entstehen neue Problemfelder und Methoden oder werden die Themen der Doktorväter fortgeführt? Werden seit Jahrzehnten aus politischen Gründen oder einfach aus Personalmangel kaltgestellten Themen wieder aufgegriffen? Wie wirken die unmittelbaren und für jeden schnell erreichbaren Kontakte mit den Universitäten des deutschen Sprachraums aus? Wird die starke Germanistik der Zwischenkriegszeit fortgeführt, die die Germanistik mit der Hungarologie weitgehend zu verbinden wußte?

Ziemlich eindeutig kann man feststellen, daß die Themen und Vorgehensweisen der literaturwissenschaftlichen Arbeiten die heimischen Tendenzen der 80er Jahre fortführen bzw. daß die Arbeiten aus den Ergebnissen dieser Periode ihre Themen schöpfen. So führen manche Arbeiten auf den klassischen Forschungsfeldern der Germanistik wie Thomas Mann, Jahrhundertwende und Romantik Analysen durch. Andere gehen aber auf die Methodendiskussion der letzten zehn Jahre ein: Die Hermeneutik und ihre Derivaten wie Narratologie, Semiotik, Textologie, Dekonstruktivismus, die seinerzeit als Pendant gegen die marxistische Literaturgeschichtsschreibung entstanden sind, haben sich verstärkt. Sie sichern die wissenschaftliche Basis für den Zugang zu den Texten des 20. Jahrhunderts. Bedingt durch die Doktorväter ist diese Richtung mehr in Szeged zu spüren, wo übrigens auch der einzige Lehrstuhl für die österreichische Literatur gegründet worden ist. Viele Arbeiten wählen den Weg der sozial, historisch und philosophisch eingebetteten Literaturforschung, vor allem jene, die bedingt durch den Charakter der Texte das deutsche Schrifttum in Ungarn untersuchen. Eine alt-neue Forschungsrichtung hat wieder Fuß gefaßt. Es entstehen auch relativ viele imagologische Arbeiten, die das Bild der Ungarn in der verschiedenen Perioden der deutschen Literatur untersuchen.

Man kann auch über Defizite berichten: Die Editionsarbeit und die Untersuchung frühneuhochdeutscher Texte der deutschschreibenden Kanzleien Ungarns, die aus der Károly-Mollay-Schule ausgegangen ist, findet keine Fortsetzer; nach wie vor bestehen nur geringe Chancen für die Entstehung einer monographischen Arbeit über das deutsche Schrifttum Ungarns; die immer sehr ernsthaft betriebene Kontaktforschung wartet auch auf Wiederaufnahme, und der Dialog mit der ungarischen Literaturgeschichtsschreibung läßt auch noch zu wünschen übrig, denn die besondere Rolle der deutschen Kultur in den mittel-osteuropäischen Ländern ist in Hinblick auf die Nationalliteraturen noch nicht genügend erforscht worden.

Die Nachwuchswissenschaftler haben mit zwei gravierenden Problemen zu kämpfen: Erstens sei die wissenschaftlich irrelevante, aber doch schmerzhafte Tatsache erwähnt, daß die schlechten Gehälter fast alle zur Übernahme zweiter Brotstellen zwingen (Privatstunden, Übersetzen, Dolmetschen). So wird die Forschung beeinträchtigt. Das zweite Problem ist die latent geführte Diskussion um die Modernität und um die adäquaten Methoden der Literaturwissenschaft. Botho Strauß, Peter Turrini, Peter Handke, die in extremer Form revoltieren, werden für moderne Texterzeuger gehalten. Diesen Analysen geht immer eine sehr gründliche texttheoretische Fundierung voraus. Andererseits - oft in freundschaftlichen Polemiken geäußert - wird dem Begriff 'Moderne' keine besondere Bedeutung beigemessen, weil das Nachvollziehen literaturhistorischer Prozesse im Hintergrund steht. Die Wahl des Themas und der Methode wird den jungen Wissenschaftlern überlassen, die Doktorväter übernehmen aber die Betreuung solcher Projekte, die irgendwie mit ihren Forschungsbestrebungen zu vereinbaren sind.

Diese Forschungssthemen engen dann die Kontakte der Nachwuchswissenschaftlern ein: es ist eine reale Gefahr, daß man nur mit denjeneigen Forschern im Ausland in Gespräch kommt, die dem heimischen Bild der Modernität und Aktualität entsprechen und die Diskussionen um die Reforme des Faches nicht rezipiert werden.

Es entstehen aber auch neue Möglichkeiten der Kooperation: durch die Neugestaltung der Universitäten sind neue wissenschaftliche Publikationsorgane entstanden. Die Autonomie der Universitäten ermöglicht ohne weiteres die Herausgabe von Publikationen; man muß nur über genügend Finanzmittel verfügen. Es ist aber heutzutage schwieriger als früher eine Publikationsbewilligung zu erlangen. Es wurden immerhin die "Debrecener Studien zur Germanistik" sowie in Pécs/Fünfkirchen die "Germanistischen Beiträge" gegründet. In der Hauptstadt setzt man die Herausgabe der "Budapester Beiträge zur Germanistik" fort. Die landesübergreifende Publikation ist aber das "Jahrbuch der ungarischen Germanistik". Dieses Organ fördert als erstes im programmatischer Weise den wissenschaftlichen Nachwuch: der umfangreiche Teil "Werkstatt" wird für die Arbeiten von PhD-Studenten reserviert, und wie das immer in einem solchen Fall ist, verraten einige Texte Talent und Esprit, andere eben nicht.

Dem Titelblatt nach wird das Jahrbuch nicht nur vom DAAD, sondern auch von der Gesellschaft Ungarischer Germanisten getragen. Die Gesellschaft wurde nach einer längeren Vorbereitungsperiode erst 1994 gegründet und befindet sich noch immer im Aufbau: junge Wissenschaftler nehmen hier keine bedeutende Positionen ein. Trost ist dabei nur das, daß diese Gesellschaft nicht viel erwirken vermag.

Welche Perspektiven hat die Germanistik in Ungarn? Neue Lehrstühle werden nicht mehr gegründet, es könnte sogar auch zur Verkleinerung des wissenschaftlichen Personals kommen. Die vielen Doktoranden werden aber dazu beitragen, daß interessante Diskussionen entstehen und daß das ungarische geistige Leben die Germanistik besser wahrnimmt. Wer sich unter den schweren materiellen Umständen doch etablieren kann, wird in den bestehenden Periodica ständig publizieren können. Es sei aber fragwürdig, welchen internationalen Rang die jetzigen Nachwuchskräfte durch ihre Publikationen erlangen werden, weil manche Diskussionen, wie die Methodenproblematik auf Ungarn eingegrenzt zu sein scheint.



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