Internationale Kulturwissenschaften
International Cultural Studies
Etudes culturelles internationales

Sektion IX: International Scientific Community, Internet, Kommunikationsprozesse und Erkenntnisinteressen

Section IX:
International Scientific Community, Internet, Communication Processes and Cognitive Interests

Section IX:
Communauté scientifique internationale, internet, processus de communication et intérêts cognitifs


Alessandra Schininà (Catania) [BIO]

Französisch 
LiteraturwissenschafterInnen und Computergesellschaft

Die LiteraturwissenschafterInnen haben nach wie vor eine zwiespältige Einstellung zur digitalen Welt. Ihr traditioneller Tätigkeitsbereich war und ist noch zum größten Teil die Bibliothek, das Archiv, die Buchhandlung. In diesem Universum aus tausenden geschriebenen und gedruckten Seiten hat der Experte zu suchen und zu finden gelernt, individuelle Strategien entwickelt, um das Chaos der Informationen zu bewältigen, d. h. wiederum einen Text zu Papier zu bringen, der sich mit literarischen Phänomenen auseinandersetzt.

Seit einem gewissen Zeitpunkt sah sich der Literat, als letzter unter den WissenschafterInnen, von allen Seiten von der Informatik bedrängt. Einerseits wurden seine Forschungsstätten fortschreitend informatisiert: Bibliothekskataloge sind nur per Mausklick zu erreichen und Computer nehmen den Platz der vertrauten Karteikästen ein; andererseits haben die immer schneller werdenden Produktionsrhythmen und die Rationalisierung auch im Büchermarkt den Computer unersetzlich gemacht: Verleger und Zeitschriftenredaktionen verlangen vom Autor seine Texte auch auf Disketten. So wurde die Schreibmaschine, oft schweren Herzens, zugunsten des PC aufgegeben.

Bald hat jedoch der/die LiteraturwissenschafterIn die praktischen Vorteile des Computers entdeckt. Es war vor allem die Einführung und Verbreitung des Internet an den Universitäten, die eine nunmehr unaufhaltsame Invasion der Informatik bedeutete und selbst die Widerspenstigsten zur Kapitulation zwang. In Italien z.B. kann man seit 1997 für Finanzierungen vom Ministerium nur mittels Formularen anfragen, die on-line auszufüllen und elektronisch zu senden sind. Um gegenüber der Konkurrenz der in Sachen Informatik gewandteren Kollegen im Bereich der Naturwissenschaften nicht abzufallen, haben sich die KulturwissenschafterInnen schnell anpassen müssen. Ihre Forschungen und Projekte werden so in einer schematischen Form dargelegt, die eigentlich nicht für sie gedacht war. Eine E-mail-Adresse ist unentbehrlich geworden, damit die Kontakte mit den Behörden nicht verlorengehen. Zugleich hat der Literat die Vorteile einer raschen elektronischen Verbindung mit anderen Kollegen entdeckt, die Möglichkeit durch eine gemeinsame Homepage rechtzeitig über kulturelle Ereignisse oder neue Veröffentlichungen zu informieren und informiert zu werden. So war z. B. eine der Voraussetzungen für die Gründung einer wahrlich interregionalen Germanistengesellschaft in Italien (1998) die Internetverbindung der Mitglieder.

Trotz allem werden CD-ROM und Internet von den meisten LiteraturwissenschafterInnen zwar als nützliche, jedoch eher zusätzliche Forschungs- und Unterrichtsinstrumente betrachtet. Als kulturelle und wissenschaftliche Veröffentlichungsorte werden sie dagegen kaum in Betracht gezogen. "Greifbare", gedruckte Publikationen sind die Basis, um sich als Wissenschafter zu behaupten und an der Universität Karriere zu machen. Ein für alle offenstehender und flüchtiger Ort wie der Cyberspace würde keine Garantien bieten; höchstens versehen manche das eigene Buch zusätzlich mit einer Diskette oder einer CD-ROM. Literaturzeitschriften und Kulturbeilagen der Tageszeitungen on-line stellen noch die Ausnahme dar.

Im allgemeinen haben bis jetzt die LiteraturwissenschfterInnen den Durchbruch der Informatik mehr erlitten als gefördert. Er/Sie hat sich angepaßt, den Computer als "notwendiges Übel" akzeptiert und versucht, aus dem Vorhandenen Nutzen zu ziehen. Man hat vor allem dessen Wichtigkeit für die Didaktik, die Speicherung von Daten, die bibliographische Forschung oder Bücherfernbestellung hervorgehoben. Die Tatsache, daß die Literaturwissenschaft noch ein Stiefkind des Cyberspace ist, hat zur Folge, daß die Quantität der zur Verfügung stehenden Informationen nicht deren Qualität entspricht. Die Antworten auf Fragen im Literaturbereich, die man durch gewöhnliche Suchmaschinen erhält, entsprechen meist keineswegs den Erfordernissen des Kulturwissenschafters; sie scheinen unübersichtlich, unbestimmt, dem Zufall überlassen.

Die Grundhaltung der Literaten bleibt also mißtrauisch und defensiv. Vor allem das eigentliche Objekt der Literaturforschung, der literarische Text, hält noch der "informatischen Belagerung" stand. Literaturerscheinungsformen auf CD-Rom oder auf Internet sind noch kein Forschungsthema. Ein neuer Schriftstellertypus, der sich für Programmiersprachen ebenso wie für Literatur interessiert, erfordert in der Tat einen neudenkenden Literaturwissenschaftertypus. Die Literaturwissenschaft war bis jetzt nicht bereit, sich mit neuen, gemischten Formen von literarischer, digitaler Kommunikation ernstlich zu konfrontieren. Es handelt sich nicht nur um die Problematik einer on-line-Übertragung von schon vorhandenen Texten - wie es in verschiedenen Projekten mit den Klassikern der Weltliteratur geschieht - sondern vielmehr um die Entwicklung neuer Literaturformen, die von Anfang die Möglichkeiten des digitalen Mediums ausnützen und zugleich dessen Grenzen in Betracht ziehen.

In der Computerliteratur werden Eigenschaften der modernen Literatur noch weiter, oft bis zu extremen, absurden Konsequenzen entwickelt. Was in der experimentellen elektronischen Literatur revolutionär ist, betrifft vor allem die Rezeption von Texten. Durch den Computer kann die lineare Beziehung des Lesens , z. B. von links nach rechts, von oben nach unten, durch eine "rhizomatische" Beziehung ersetzt werden, d.h. ein Text wird in ein Netz von anderen Texten, sogar Bild- und Toneinlagen eingesponnen und durch links kann der Leser nach Belieben von einer Stelle zur anderen surfen, hin und zurück "hüpfen", eine eigene Route verfolgen. Flüchtigkeit und Wandelbarkeit sind typische Eigenschaften der on-line-Texte. In extremen Fällen ist der Autor als supräme Instanz nicht nur in Frage gestellt, durch Erzählstrategien vernichtet, er ist nicht einmal als solcher vorhanden. Es gibt Experimente, wo verschiedene Schreiber zusammenwirken und eine Art Sprachtheater entstehen lassen. Neben der spielerischen Komponente nimmt auch die Auseinandersetzung mit der Sprache als visuelles und akustisches Phänomen einen wichtigen Platz in der digitalen Literatur ein. Laut- und Sprechgedichte, sowie visuelle Poesie finden im Computer eine geeignete Ausdrucksmöglichkeit.

Eine neue Utopie des Gesamtkunstwerks kann somit entstehen, nicht mehr im Zeichen der genialen kreativen Persönlichkeit eines Einzelnen, sondern als Vision eines Kunstwerks als "offenes System". Auch wenn solche Experimente nicht immer gelingen, gibt es bereits vielversprechende Ansätze. SchriftstellerInnen haben schon lange den Computer in ihre Arbeitsweise integriert. Verschiedene AutorInnen, die weiter nur Bücher veröffentlichen, besitzen eine Homepage, um sich selbst bekanntzumachen und die eigene Arbeit laufend zu dokumentieren und kommentieren. Meistens gibt es auch die Möglichkeit eines direkten E-mail-Kontakts mit den LeserInnen.

Vor solchen digitalen Phänomenen, die Literatur betreffend, stehen die schon in die Krise geratenen LiteraturwissenschafterInnen meist perplex. Die traditionellen Zeit- und Raumdimensionen der Literaturkritik, die herkömmlichen Beziehungen zwischen Form und Inhalt, zwischen Text und Kontext erweisen sich als unzulänglich, so wie die Auffassung von Autorenrechten und Rezeptionsbedingungen. Feste Unterscheidungen und Kategorien werden aufgehoben. Die moderne Literaturwissenschaft, die immer wieder die Polysemie literarischer Texte betont hat, die für Polyperspektivismus und aktive Teilnahme der LeserInnen plädierte, die ein "offenes Kunstwerk" vor erstarrten Formen verteidigte, sieht sich zuletzt deplaciert vor der Radikalität mancher digitaler Literaturformen. Man sieht die Gefahr, sich in einem Netz von Verknüpfungen und endlosen Verweisungen zu verlieren, in dem die Struktur sich als wichtiger der Inhalt erweist, und in dem der/die LeserIn von einem Detail zum anderen, von einer genialen Erfindung zur nächsten dauernd, ziellos zu Abschweifungen verleitet wird. In Bezug auf das "Dahinschwinden" von Internet-Texten, wurde sogar der Begriff der barocken vanitas erwähnt. Nicht nur Inhalte erinnern an den unaufhaltsamen Fluß der Zeit, selbst das Medium, die Mitteilung, der Text werden vergänglich, uneinfangbar, unwiederholbar. Sicher ist es möglich, ein Computerdokument auf Papier zu drucken, aber das Gedruckte ist nur ein Moment des gewundenen Wegs, der verschiedenen Passagen, die zu einem bestimmten on-line Text geführt haben und den eigentlichen Sinn solcher Ausdrucksformen ausmachen.

Dies kann positiv oder negativ bewertet werden, als Ende oder Neuanfang der Literatur; auf jedem Fall sollte sich der/die LiteraturwissenschafterIn sowohl der Vorteile und Innovationen, die das digitale Medium im Vergleich zum Buch bieten kann, als auch dessen Nachteilen und Grenzen bewußt werden. Es handelt sich nicht nur um das Verlorengehen eines physischen, Tastkontakts zu den Seiten eines Buches - man kann sich eine enge, ebenso direkte Beziehung anderer Art auch mit dem Computer vorstellen - sondern um Probleme, die die Technik, die Dimension, die Standorte der Computer betreffen.

Die Rezeptionsmöglichkeit der digitalen Literatur ist derzeit noch begrenzt. Eine neueste Statistik hat ergeben, daß monatlich 2,6 Millionen Italiener Internet benutzen (im Vergleich zu schätzungsweise 7,3 Mio. potentiellen Benutzern). Von diesen haben 35% die Verbindung im Büro hergestellt, 26% zuhause, 14% in der Schule, 11% bei Verwandten und Freunden, 7% an öffentlichen Orten. Nur ein Viertel der Benutzer hat also zuhause gemütlich im Internet "gesurft", die meisten am Arbeitsplatz oder gelegentlich. Das bedeutet, daß heute Literaturwerke auf Computer je kürzer, desto wirksamer sind, d.h. sie sollen nicht nur die Dimension des Bildschirms berücksichtigen, sondern auch die voraussichtliche Zeit, die man vor dem Bildschirm eines Computers verbringt, z.B. in einer Arbeitspause, bei einem Freundetreffen, in einem überfüllten Internetcafé. Auch längere Texte neigen so zu einer Trennung in verschiedene, in sich geschlossene Segmente.

Vor diesen flüchtigen, sich überschneidenden, fragmentierten, die Kunstgrenzen ignorierenden und doch hauptsächlich aus Worten bestehenden Kunstformen stehen die LiteraturwissenschafterInnen oft ratlos da. Welche neue Strategien sollen sie nun entwickeln, um in dieses Universum aus tausenden diesmal gespeicherten und vernetzten Seiten, in dieses Chaos von unzähligen Informationen Ordnung zu bringen, um die Koordinaten eines literarischen Phänomens zu definieren? Vielleicht kann eine Antwort aus einer Literaturwissenschaft kommen, die sich die Mechanismen der digitalen Welt aneignet, ebenfalls zu einem "Netz" wird, sich dem elektronischen Text anknüpft, so das "Spiel" von Vernetzungen und Interaktivität weiterführend. Solch eine Kritik muß auf jedes definitum verzichten, bereit sein, sich selbst in Frage zu stellen, offen vor Rückantworten seitens des Autors und des Publikums stehen. Eine Gefahr wäre dann die komplette Auflösung des Werks und dessen Kommentierens. Wichtig ist jedoch gerade der in Gang gesetzte Prozeß, die Mobilisierung einer Entschlüsselungsfähigkeit von Mitteilungen, die sich vom literarischen Text auf andere Gebiete erstrecken könnte.

Es handelt sich nicht nur darum, Gefallen am Lesen zu erwecken und einen neuen Publikumskreis für Kultur zu interessieren, vielmehr um ein lebensnotwendiges Zusammenwirken von wissenschaftlich-technischer Erneuerung und humanistischem Erbe. Nicht nur die SchrifstellerInnen, sondern auch die LiteraturwissenschafterInnen sollten ihren Elfenbeinturm verlassen. Anderen Wissenschaften ist es gelungen, den geschlossenen Kreis des eigenen Wissens zu durchbrechen und sowohl die Institutionen als die öffentliche Meinung von ihrer Unentbehrlichkeit zu überzeugen. Die Computerkommunikation könnte für die Kulturwissenschaften ein Mittel werden, dem Ghetto der Fachzeitschriften und der Spezialistentreffen zu entrinnen und sich aktiv an den elektronischen Entwicklungen zu beteiligen. Die rasch zustandekommenden Verbindungen zwischen Text, Kritik und bibliographischen Informationen, die Möglichkeit zum ersten Mal eine wirkliche internationale Gesprächsbasis zu schaffen, wo KünstlerInnen und WissenschafterInnen aller Welt kooperieren können, sind weitere Ziele die eine "digitale Kulturwissenschaft" erreichen sollte. Die Grenzen zwischen Produktion, wissenschaftlicher Auslegung und Rezeption eines literarischen Werks sollten mobiler werden. Man kann endlich im virtuellen Raum die Mehrschichtigkeit literarischer Phänomene veranschaulichen.

Datenbanken allein genügen nicht, und reine Angebotsfülle befriedigt nicht, es wird Qualität verlangt. Diese kann nur von im Literaturbereich kompetenten Kräften erreicht werden, die ein durchdachtes Konzept entwickeln und nicht Informationen, Ton und Videobilder einfach aneinanderreihen. LiteraturwissenschafterInnen sollten lernen, sich aktiv mit Computern auseinanderzusetzen und sich SchriftstellerInnen widmen, die neue ästhetische Kommunikationsverfahren entwickeln. Das betrifft die Zukunft unserer ganzen "digitalen Gesellschaft". Es ist in der Tat Zeit, daß man sich den neuen elektronischen Medien nicht nur von der technischen, sondern auch von der kreativen, "menschengerechten" Seite nähert. Gerade die Herausforderungen und Gefahren einer auf Computer eingestellten Gesellschaft sollten die KulturwissenschafterInnen zu einem neuen Engagement anspornen.



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