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Internationale
Kulturwissenschaften International Cultural Studies Etudes culturelles internationales |
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Sektion IX: | International Scientific Community, Internet, Kommunikationsprozesse und Erkenntnisinteressen | |
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International Scientific Community, Internet, Communication Processes and Cognitive Interests | |
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Communauté scientifique internationale, internet, processus de communication et intérêts cognitifs |
Frank Jablonka (Besançon) |
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Die Grammatik natürlicher Sprachen, einschließlich Text- und Konversationsgrammatik, kann als eine Menge von Regeln begriffen werden, die eine theoretisch unbegrenzte Menge lexikalischer Kombinationen zuläßt. Jedoch bereits auf der semantischen Ebene bestehen unzweifelhaft kombinatorische Restriktionen, wie Chomskys bekanntes Beispiel "colourless green ideas sleep furiously" deutlich macht. Dieser Satz läßt zwar auf der formalen Ebene an Grammatikalität nichts zu wünschen übrig; er scheint jedoch wenig akzeptabel, da ein Kontext, in dem ihm ein semantischer und pragmatischer Sinn zugeschrieben werden könnte, der Vorstellungskraft einiges abverlangt (wenngleich dies vom poetischen Standpunkt keineswegs unmöglich erscheint).
Bei der Frage nach dem insbesondere soziolinguistischen Status von Diskursnormen und Diskurstraditionen erscheint es vordringlich, sich diesen semantisch und pragmatisch bedingten Kombinationsbeschränkungen zuzuwenden. Es erscheint unzweifelhaft, daß diese zu einem hohen Maße von sozialen und kulturellen Bedingungen der betreffenden Kommunikationsgemeinschaft abhängig sind. Hier sind die Strukturen der Lebenswelt der jeweiligen Gemeinschaft ausschlaggebend, die sich - in Termini der Wissenssoziologie (Schütz, Berger/Luckmann) innerhalb von kulturspezifischen Relevanzstrukturen artikuliert. Diese motivieren nicht nur bis zu einem gewissen Grade die semantischen Strukturen, sondern auch sprachliche Gebrauchsrekurrenzen in Abhängigkeit von spezifischen sozialen und kulturellen Kommunikationsbedürfnissen. Im Rahmen von Gebrauchsrekurrenzen innerhalb sozialer Netzwerke (social networks) wird eine Dynamik ausgelöst, in deren Gefolge sich ineinandergreifende Verfahren der Vertextung und Phraseologismen stabilisieren, habitualisieren und schließlich gemeinschaftsintern konventionalisiert werden, wodurch sie normative Kraft gewinnen. Diese Diskursnormen lassen sich als emische (d.h. auf der Ebene der langue angesiedelte) Entitäten begreifen, die die spezifische Konfiguration der etischen (also der parole- bzw. Diskurs-)Ebene steuern.
Von A. Gramsci über J. Habermas bis zu U. Maas ist immer wieder auf die organische Verwobenheit traditionaler Sprachvarietäten mit lokalen Gemeinschaften verwiesen worden - ein Sachverhalt, den ich im Rahmen meiner eigenen Studien im norditalienischen Aosta-Tal bestätigen konnte. Neben den semantischen Strukturen haben die Diskursnormen maßgeblichen Anteil an der sprachlichen Artikulation und kommunikativen Reproduktion der Lebenswelt. Es handelt sich um eingelebte Praktiken, um eingespielte sprachliche Techniken, die mit ebenso stabilisierten nichtsprachlichen Praktiken und Techniken Hand in Hand gehen. Wittgenstein hat dies als habitualisierte (wenngleich stets im Fluß befindliche) "Sprachspiele" beschrieben - ein Begriff, den S.J. Schmidt zu dem des "kommunikativen Handlungsspiels" ausbaute, wobei mir der Begriff des "kommunikativen Verhaltensspiels" angemessener erscheint (cf. Jablonka, Essay Concerning Human Misunderstanding, Essen 1998, Kap. 2.3.9.). Eine der Funktionen dieser sozialen Praktiken und Techniken und der in ihnen wurzelnden Lebenswelt ist auch die Abgrenzung nach außen und die Stiftung von Identitäten.
Entscheidend ist nun, daß die Imperative der Modernisierung diese Organizität von sozialen Strukturen inklusive ihrer lebensweltlichen Strukturen und ihrer traditionalen kommunikativen Artikulations- und Reproduktionsmedien auflöst. Die damit einhergehende Sprachdynamik wurde von der funktionalen Variationslinguistik, insbesondere von Th. Stehl, detailliert beschrieben. Infolge überregionaler Kommunikationsnotwendigkeiten wird die funktionelle Norm einer exemplarischen funktionellen Sprache zum prestigeträchtigen Leitmodell erhoben, demgegenüber Dialekte und Minderheitensprachen zu prestigelosen und dominierten patois herabsinken. Letztere werden, vermittelt über eine Phase der Koexistenz interlektaler, interferenzgeprägter "Kompromißvarietäten", sukzessive zugunsten des sich als Massenphänomen herausprägenden Standards aufgegeben.
Es erscheint jedoch deutlich, daß dieser variationslinguistische Ansatz noch nicht vollständig sein Potential als Beitrag zu einer kommunikationstheoretisch fundierten Theorie der Modernisierung ausgeschöpft hat. Der über mehrere klar unterscheidbare Etappen verlaufende, insbesondere über Alphabetisierung im staatlichen Erziehungssystem und die Massenmedien vermittelte language shift, dessen Endstadium die Einsprachigkeit im Standard ist, markiert die Erosion der traditionalen Lebenswelt, die ihres oragnischen Artikulations- und Reproduktionsmediums beraubt wird. Damit wird das agrarisch-konvivial geprägte kulturelle Modell durch das Modell der modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft ersetzt, das durch die Standardsprache transportiert und repräsentiert wird. Die verrechtlichten und rationalisierten sozialen Beziehungen, die für die Moderne charakteristisch sind, können breitenwirksam effizient nur im Standard organisiert werden. Wie aus meinen eigenen variationslinguistischen Untersuchungen in Norditalien deutlich wurde, erweist sich der Siegeszug des Standards als die linguistische Seite, d.h. als symbolisches Ausdrucks- und Organisationsmedium der von Habermas dargestellten "Kolonialisierung der Lebenswelt" durch rationalisierte Handlungssysteme, die sich aus der Lebenswelt herausdifferenziert haben und von den Medien Geld und Macht gesteuert werden.
Andererseits erfolgt die Ablösung des einen Modells nicht abrupt, sondern über eine Phase des konfliktären Kontakts. Habermas betont den Eigensinn der Lebenswelt; die 'System'-Funktionen bedürfen einer Verankerung in der Lebenswelt, d.h. es kommt zu umfassenden Dysfunktionen, wenn die symbolische Reproduktion der Lebenswelt selbst gefährdet ist. Auf der linguistischen Ebene erweist sich dies darin, daß, wie v.a. Stehl nachweist, die Dialekte in den sich durchsetzenden Standardsprachen Spuren in Form von Interferenzen hinterlassen. Und hier spielen die Diskursnormen eine entscheidende Rolle. Indem die ersprachlichen (dialektalen bzw. minderheitensprachlichen) Diskursnnormen über den language shift hinweg in dem sich durchsetzenden Standard weiterwirken, prägen sich diese als Diskurstraditionen aus. Die Sprecher realisieren den Standard wie vormals den Dialekt. Phraseologismen und Struktureigenschaften der Textkonstitution sowie der der Gesprächsdynamik, die vormals den primären Dialekten zueigen waren, werden fortan im Standard realisiert, was die Erkennung von Mitgliedern regionaler Kommunikationsgemeinschaften anhand ihrer Diskurse gewährleistet und somit die Kohäsion dieser Gemeinschaften fundiert. Etwa erkennt ein aus dem Ruhrgebiet stammender Sprecher seinesgleichen selbst am Telefon und auch bei Abwesenheit lautlicher, morphosyntaktischer und lexikalischer Interferenzen an der Textorganisation, wie z.B. an der bildlichen Expressivität (Dichte und Progression von Phraseologismen und Metaphorik) sowie der abgeschwächten Distanzmarkierungen. Weitere Elemente sind die Redegeschwindigkeit, die Prosodie und die Länge von Texten bzw. Redesequenzen. Dialektale Phraseologismen werden vielfach nur oberflächlich, d.h. materialsprachlich dem Standard angeglichen. Ein anderes Beispiel Eine lebensweltliche Urerfahrung wie die Geburt eines Kindes kommentieren italienische Sprecher aus dem Aosta-Tal auch beim Besuch im städtischen Krankenhaus mit der Hoffnung, es werde "sano e libero" (wörtl. 'gesund und frei') sein - d.h. daß es sich normal entwickeln möge - entsprechend der Wendung im frankoprovenzalischen Dialekt.
Im Standard gehen die traditionalen Techniken und Praktiken als Diskurstraditionen also nicht nur unter, sondern auch auf. Dies erlaubt die Bewahrung lebensweltlicher Strukturen in einer Situation, die unter den Vorzeichen der Moderne steht. Aber gerade die eigensinnige Widerspenstigkeit der Lebenswelt, die die Kolonialisierung durch das 'System' abfedert, erlaubt auch die Durchsetzung des kulturellen Modells der Moderne in einem 'wohltemperierten' Klima: Einerseits bietet sie dem 'System' Ansatzpunkte zur lebensweltlichen Verankerung, andererseits gewährleistet sie die Fortsetzung bzw. Neubegründung von Identitäten, die insbesondere auf regionaler Abgrenzung gegründet sind.
Bei alldem muß jedoch berücksichtigt werden, daß der variationslinguistische Ansatz, wie er insbesondere von Stehl entwickelt worden ist, ebenso wie das Modell von Habermas zur deskriptiven Erschließung und zum theoretischen Verständnis des Übergangs traditionaler, agrarisch geprägter Gemeinschaften zur modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften und derer Kommunikationsbedingungen konzipiert worden sind. Der Übergang von der Moderne zur Postmoderne im Zeitalter der Globalisierung, der sich durch ein multikulturelles "Patchwork der Minderheiten" (Lyotard) auszeichnet, stellt nun auf theoretischer, methodischer und deskriptiver Ebene neue Anforderungen, zu deren Bewältigung jedoch auf die bestehenden leistungsfähigen Ansätze zurückgegriffen werden kann. Dies gilt insbesondere für eine Konzeption, die einer integrativen Soziolinguistik verpflichtet ist und die kommunikativ transportierte inkorporierte Interkulturalität moderner Gesellschaften in den Blick zu bekommen sucht, anstatt sprachliche Phänomene einfach mit sozialen Faktoren zu korrelieren (Labov). In bezug auf Frankreich denke ich dabei an komplexe multikulturelle Agglomerationen mit ethnisch heterogenen Gruppen teils vormoderner (jedenfalls noch nicht vollständig okzidentalisierter) Provenienz an der Peripherie urbaner Ballungszentren, über die wir vieles noch nicht wissen. Gewährleisten Stabilisierungen im Rahmen von social networks rekurrente und typische bzw. typisierbare Verfahren der Textkonstitution und Konversationsdynamik? Dies bedarf der Klärung unter Berücksichtigung des diagenerationellen Aspekts; es gibt Grund zur Annahme, daß der language shift über verschiedene Etappen von mehr oder weniger asymmetrischem Bi-/Multilingualismus, damit einhergehend über mehrere Stufen mehr oder weniger stark internalisierter koexistierender soziokultureller Modelle abläuft. Dabei ist die Übernahme von Schreibtraditionen zu berücksichtigen: Welche Inhalte werden in welchen Sprachen vertextet, und in welchen Textsorten? Bei der Untersuchung von textuellen bzw. phraseologischen Interferenzerscheinungen muß in Rechung gestellt werden, wie (wenn überhaupt) der Schriftsprachenwechsel erfolgt, etwa biographisch infolge individuell erfahrenen Integrationsdrucks und/oder infolge der Alphabetisierung ab der zweiten Generation im französischen Erziehungssystem.
Unklar ist, in welchem Maße dabei die unterschiedlichen Gruppen infolge ethnischer Segregation ihre Identität behalten, inwiefern Überkreuzungen bzw. Überlappungen innerhalb der social networks bestehen und es zur Genese neuer konventionalisierter Vertextungsverfahren und zur Ausprägung sozialer Identitäten sui generis kommt. Es stellt sich die Frage, ob und inwiefern sich Ambivalenzen der Okzidentalisierung bzw. Modernisierung in der Vertextung niederschlagen und ob sich darin konfliktäre Sozialstrukturen sedimentieren. In diesem Kontext ist auch der mögliche Einsatz ludischer Funktionen zu berücksichtigen, die als Indikator der kreativen Bearbeitung konfliktärer oder jedenfalls verunsichernder Situationen gelten können: Wie konstitutieren sie sich textuell bzw. phraseologisch, und welche kommunikativen Intentionen verfolgen die Sprecher damit? Wie ist der Grad ihrer Konventionalisierung, und werden angestrebte perlokutionäre Effekte auch erreicht?
Ferner erhebt sich die Frage, ob Auswirkungen auf den überregionalen mündlichen französischen Standard bestehen, oder ob der Druck der institutionalisierten präskriptiven Norm zu stark ist. Wird etwas vom traditionellen lebensweltlichen Erbe bei der unvermeidlichen Integration in die moderne französische Gesellschaft und der damit einhergehenden Übernahme des Französischen bewahrt? Und wird etwas davon von den Sprechern als identitätsstiftende Distinktionsmerkmale erfahren und eingestuft, die den Integrationsdruck zwar einerseits abfedern, andererseits aber die Integration mit um so größerer Flexibilität und damit um so sicherer gewährleisten?
Diese Fragestellungen eröffnen die Perspektive auf die Untersuchung von Diskurstraditionen als Gegenstand einer textbezogenen Soziophraseologie im multikulturellen Kontext und im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit.
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