INST-Präsentationen 2004 / 2005

Das Verbindende der Kulturen

Präsentationen/Dokumentation

Institut zur Erforschung und Förderung österreichischer und internationaler Literaturprozesse

Arne Haselbach (Wien)

Zum Polylog-Modell sozialer und kultureller Phänomene

 

Meine Sektion bei der Konferenz "Das Verbindende der Kulturen" stand unter dem Titel "Gesellschaften und Kulturen als Polyloge" ("Societies and Cultures as Polylogues" / "Les sociétés et les cultures en tant que polylogues").

Ich möchte Ihnen heute nicht darstellen, wie diese Veranstaltung abgelaufen ist, sondern möchte darüber sprechen, worum es bei dem Ansatz, der hinter diesem Titel steckt, dem Polylog-Modell sozialer und kultureller Phänomene, in der Sache geht.

Bei der Konferenz "Innovationen und Reproduktionen in Kulturen und Gesellschaften" (9. - 11. Dezember 2005) wird meine Sektion, in der Gruppe "Grundlagen", an der Weiterentwicklung des Polylog-Modells arbeiten.

Worum geht es also beim Polylog-Modell sozialer und kultureller Phänomene?

WIE WIR UNS ETWAS VORSTELLEN, HAT FOLGEN

John Maynard Keynes (1883-1946), einer der bedeutendsten Wirtschaftswissenschafter aller Zeiten, der mit seiner General Theory of Employment, Interest, and Money die wohl wichtigste wirtschaftstheoretische Arbeit zur Frage der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit geschrieben hat, schrieb am Ende des abschließenden Kapitels dieses Werkes, das den möglichen Folgerungen dieser Theorie gewidmet ist:

"... die Gedanken der Ökonomen und Staatsphilosophen, gleichviel ob sie im Recht oder im Unrecht sind, (sind) einflussreicher, als gemeinhin angenommen wird. Die Welt wird in der Tat durch nicht viel anderes beherrscht. Praktiker, die sich ganz frei von intellektuellen Einflüssen glauben, sind gewöhnlich die Sklaven irgendeines verstorbenen Ökonomen."

Keynes schreibt hier - als Ökonom - über Ökonomen. Aber er weiß, daß dies auch für alle anderen Bereiche gilt. Denn er setzt fort:

"Wahnsinnige in höchster Stellung, die in der Luft Stimmen hören, schöpfen ihren wilden Irrsinn aus dem, was irgendein akademischer Schreiberling ein paar Jahre vorher geschrieben hat."

Fast alle heutigen Interpreten dieser Stelle übersehen,

Ideen haben enormen Einfluß auf die gesellschaftliche Entwicklung. Unumstößlicher Beweis dafür ist die grauenvolle Geschichte Europas in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts, der wir in diesem Jahr in vielen Veranstaltungen gedenken, - die Keynes noch nicht kennen konnte, als er dies schrieb.

Mit Hilfe der dominanten Gesellschaftstheorien ist der rasche Aufstieg Hitlers, der zum Zweiten Weltkrieg und zu dem nicht zu übertreffenden Grauen der Shoa führte, nicht erklärbar - wohl aber mit einem Polylog-Modell sozialer und kultureller Phänomene.

Bei der Entwicklung des Polylog-Modells ...

und - vor allem anderen -

DIE INTERPRETATIONEN VON SPRACHE, KULTUR UND GESELLSCHAFT

In der praktischen Arbeit geht es dabei unter anderem darum, welche der - im Alltagsdenken und in einzelnen Kernwissenschaften - historisch weithin verbreiteten Grundvorstellungen

ZUR ETABLIERUNG VON WISSENSCHAFTLICHEN DISZIPLINEN

Die Bemühungen, Denkfelder als wissenschaftliche Disziplinen zu etablieren, hat - neben allem Positiven - auch zur Verformung der Inhalte und zur Ausgrenzung wichtiger Einsichten geführt.

Soziologie

In meinem Beitrag bei der Konferenz "Das Verbindende der Kulturen", unter dem Titel "On thinking social phenomena in terms of polylogues - Why? - How?" habe ich mich vor allem mit einem der Väter der Soziologie, Emile Durkheim, befaßt, seine Vorstellung von "fait social" (deutsch "soziale Tatsache") relativiert, seine Darstellung der Gesellschaft als unabhängiger Akteur und seine Behauptung eines unüberwindbaren Dualismus von Individuum und Gesellschaft zurückgewiesen.

Die Details sind - ebenso wie die anderen Beiträge zu dieser Arbeitsgruppe - in TRANS [http://www.inst.at/trans/15Nr/02_5/02_5inhalt15.htm], der Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften, oder auf der CDnachzulesen, die dem Buch "Das Verbindende der Kulturen" [http://www.inst.at/burei/CBand1.htm] beigegeben ist.

Wenn man die Gesellschaft als unabhängigen Akteur denkt - und dies nicht nur als Stenogramm-Speak verwendet, sondern auch glaubt, daß das so ist - hat man keine Chance, die tatsächlichen Vorgänge in Gesellschaften gedanklich sachgerecht in den Griff zu bekommen.

Ich habe dann die Vorstellung des gesellschaftlichen Grundmechanismus einer Unzahl überlappender Polyloge Durkheims "Dualismus von Individuum und Gesellschaft" gegenübergestellt.

Durkheims Vorstellung von einem "unüberwindbaren Dualismus von Individuum und Gesellschaft" war aber für die Etablierung der Soziologie als Wissenschaft von größtere Bedeutung - denn mit diesem Argument war eine neue, getrennte Wissenschaft - eben die Soziologie - erforderlich.

Linguistik

Für die Durchsetzung der Linguistik als Wissenschaft hat Ferdinand de Saussures "Cours de linguistique générale", manchmal auch als die "Vulgata der Linguistik'" bezeichnet, eine zentrale Rolle gespielt.

Wie sie wissen, stammt der veröffentlichte Text aber gar nicht von Ferdinand de Saussure, sondern ist eine rearrangierte Kompilation von Stücken aus Mitschriften seiner Vorlesungen, die 1916 posthum von seinen Schülern Charles Bally und Albert Sechehaye herausgegeben wurde.

Ferdinand de Saussure konnte sich nicht entschließen, ein solches Werk zu veröffentlichen.

Wenn man seine überlieferten Notizen liest, sieht man auch recht schnell warum. Er hat in diesen Notizen auch eine ganze Reihe von Einsichten festgehalten, die mit der Gesamtlinie des Cours de linguistique generale nicht zusammenpassen. Einige dieser Einsichten passen wesentlich besser in einen Polylog-Ansatz der Sprachentwicklung als in eine, von einer reifizierten Vorstellung von "la langue" stark mitgeprägte Theorie.

Zu anderen seiner Vorstellungen widersprüchliche Einsichten in ein und demselben Werk zu veröffentlichen, war aber für Ferdinand de Saussure und mit der etablierten Ideologie davon, was eine Wissenschaft zu sein hat, nicht vereinbar.

Sozial- und Kulturanthropologie

In der Ethnologie gab es ähnliche Phänomene, die im Zusammenhang mit der Entstehung der Anthropologie als Wissenschaft stehen. Es ist ja nicht so lange her, daß die Ethnologie oder Völkerkunde eine Lehre von den sogenannten "primitiven Gesellschaften" war.

Wenn man sich die heutige Sozial- und Kulturanthropologie ansieht, scheinen aber viele dieser verformenden Vorstellungen - zumindest in einer ganzen Reihe anthropologischer Denkschulen - überwunden worden zu sein.

In heutiger Sicht stellt sich daher die Situation hier anders: Aus dem, was in der Sozial- und Kulturanthropologie in den letzten Jahren und heute geschrieben wird, ist für einen Polylog-Ansatz vieles zu holen.

EINE GANZE REIHE VON GRUNDVORSTELLUNGEN MUSS ÜBERWUNDEN WERDEN

Wenn es darum geht, ein zusammenhängendes Bild von Mensch, Kultur und Gesellschaft in einem Polylog-Modell sozialer und kultureller Phänomene zu entwickeln, müssen wir uns von vielen - als selbstverständlich genommenen - Grundvorstellungen lösen, von denen einige unser Denken seit Jahrhunderten, ja seit Jahrtausenden, dominieren.

Ich kann hier nur einige Beispiele geben - es gibt mehr, und auch wichtigere, als einige der angeführten.

Wir müssen die Vorstellung von geschlossenen Systemen aufgeben

Unsere Vorstellungen von Sprache, von Kultur und von Gesellschaft sind immer noch entscheidend von der Vorstellung geschlossener Systeme geprägt - auch wenn wir das abstreiten, auch wenn wir noch so viele Einschränkungen machen.

Daß diese Prägung nicht überwunden wurde, liegt an der Vergegenständlichung dieser Vorstellungen - denn gegenständlich Gedachtes wird nun einmal als geschlossen gedacht.

Wir müssen es aufgeben, alles als gegenstandshaft zu denken
- und Prozessdenken an dessen Stelle setzen

Wir müssen Sprache, Kultur und Gesellschaft als Prozesse und als sich ständig verändernd denken.

Wenn man Sprache, Kultur und Gesellschaft als gegenstandshaft denkt, sind Änderungen nur mit Hilfe der Vorstellung Revolution denkbar. So läuft es aber in der Wirklichkeit nicht ab. Revolutionen sind Sonderfälle, seltene Ereignisse.

Das Normale sind Änderungen, die ständig vor sich gehen - langsamer oder schneller. Das Normale sind unablässige kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen, unablässiger Sprachwandel, unablässige Veränderungen in der Identität jeder und jedes Einzelnen.

Nehmen Sie Sprache: Wir gehen im allgemeinen in unserem Denken davon aus, daß Deutsch Deutsch und Englisch Englisch bleibt. Das entspricht der Vorstellung von "la langue".

Die Vorstellung von "la langue" ist aber ein Denkkonstrukt, das mit dem, wie sich Sprachen in der realen Welt entwickeln, einfach nicht zusammenpaßt. Als Beleg darf ich anführen, daß z.B. im Französischen jährlich etwa 4000 bis 5000 neue Wörter entstehen. Und was das Englische betrifft, sei erwähnt, daß es schon lange nicht mehr nur ein Englisch gibt: umfangreiche Forschungsarbeiten, die unter der Bezeichnung "World Englishes" laufen, haben das eindeutig bewiesen.

Wir müssen die strikte Trennung von Körper und Geist aufgeben - und ein Forschungsfeld etablieren, daß die Verarbeitung aller Interaktionen von Menschen mit der Umwelt und mit sich selbst erlaubt

Mit anderen Worten:

In der Wiener Denk-Werkstatt haben wir uns - wie sich im Internet nachlesen läßt - mangels eines geeigneteren Ausdrucks - und bis auf weiteres - entschlossen, das Wort "Denken" in einer viel weiter gefaßten Bedeutung als der üblichen zu verwenden, einer Bedeutung, die insbesondere:

die also erfahren, lernen und wissen umfaßt.

Wir müssen die strikte Übereinstimmung von Einzahl mit Einzahl in unserer Syntax aufgeben

Solange wir diese beibehalten, läßt sich manches überhaupt nicht sachgerecht beschreiben.

Ein Beispiel: Wenn man eine allgemeine Aussage über etwas machen will, was für jeden einzelnen Menschen gilt, darf man - unseren Regeln gemäß - zB nur sagen:

"Der Mensch ist Prozeß."

So ist es aber in Wirklichkeit nicht. In Menschen laufen zu jeder Zeit eine ungeheure Zahl von Prozessen ab.

Man müßte daher die Einzahl mit der Mehrzahl verknüpfen (dürfen) und sagen:

"Der Mensch ist Prozesse."

Das ist - nach den heutigen Regeln - ungrammatikalisch, aber sachlich richtig. Deswegen hat es der Soziologe Norbert Elias auch so formuliert.

Wir müssen die Vorstellung "wir denken in Begriffen" aufgeben

Die Vorstellung "Begriff" ist ein Denkkonstrukt mit Normcharakter.

Normen setzen sich aber nicht von selbst durch - auch nicht die von den zuständigen Gremien verabschiedeten staatlichen Gesetze. Wenn das so wäre, gäbe es keine Gesetzesübertretungen.

So auch im Denken.

Im Denken spielen die Wörter und deren tatsächliche Verwendungen eine wesentlich wichtigere Rolle als die Begriffe. Denn die Verbindungen im Kopf werden im Laufe der Jahre durch unsere tatsächliche Erfahrung mit Wörtern und durch unsere eigenen Verwendungen der Wörter geprägt.

Erst vor drei Tagen (am 15. März 2005) wurde in Wien von Barbara Cassin ein neues Wörterbuch der Philosophie unter dem Titel: Vocabulaire européen des philosophies : dictionnaire des intraduisibles vorgestellt, das im Oktober 2004 bei Le Seuil erschienen ist. Dabei handelt es sich um den ersten, wirklich breit angelegten Versuch, dieses Programm - von den Wörtern und nicht von Begriffen auszugehen - in bezug auf die europäische Philosophie systematisch umzusetzen.

Was kann ein Polylog-Modell sozialer und kultureller Phänomene leisten

Wenn wir diese und eine Reihe weiterer liebgewonnener Grundvorstellungen aufgeben und eine Reihe anderer Grundvorstellungen einführen - über die sie in verschiedenen Nummern von TRANS [http://www.inst.at/trans/index.htm] und auf der Website der Wiener Denk-Werkstatt [http://www.vienna-thinktank.at/] mehr erfahren können -, paßt plötzlich alles - oder fast alles - zusammen.

Und wenn wir den Dualismus von Individuum und Gesellschaft verwerfen, und an seine Stelle ein Polylog-Modell der Kulturen und Gesellschaften setzen, können wir auch den Dualismus von Innovation und Reproduktion verwerfen, denn in einem solchen Modell entstehen sie in ein und demselben Typ von Vorgängen.

Dann hören plötzlich die scharfen Brüche zwischen Vorstellungen auf und wir können die Zusammenhänge und Übergänge denken - jedenfalls wesentlich weniger mühsam denken, als dies mit den bisher üblichen Interpretationen von Denken, von Sprache und von Kulturen möglich ist.

Meine Arbeitsgruppe bei der Konferenz "Innovationen und Reproduktionen in Kulturen und Gesellschaften"

In meiner Arbeitsgruppe im Dezember dieses Jahres wird es also um die Weiterenentwicklung des Polylog-Ansatzes und um die Weiterenentwicklung des Polylog-Modells sozialer und kultureller Phänomene gehen.

Das Spektrum der angesprochenen Disziplinen reicht

Dabei sollen

und

im Vordergrund stehen, damit wir den Umgang der Menschen mit der Welt und mit sich selbst
- und damit die Erhaltung und Veränderung von Sprachen, Gesellschaften und Kulturen -

und

- also den tatsächlichen Prozessen entsprechend - denken können.

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