Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 0. Nr. September 2003


Arbeit und Kultur in einem transnationalen Europa*

Herbert Arlt (Wien)
[BIO]

Im 'alten' Europa(1) schien am Beginn des 21. Jahrhunderts die Auseinandersetzung mit Arbeit bzw. sozialen Fragen nicht mehr aktuell - und schon gar nicht im Kontext kultureller Strukturen. Doch das 'alte Europa', von dem schon Goethe sprach(2), ist nicht mehr das zersplitterte Europa mit seinen feudalen Konflikten, deren Überwindung mit neuen ökonomischen und politischen Strukturen angestrebt wurde und dessen Vorbild in demokratischer Hinsicht die Vereinigten Staaten von Amerika waren. Das Europa des 21. Jahrhunderts ist eine sich erweiternde politische Gemeinschaft mit vielfältigen Orientierungen (dessen Politiker sich fallweise durchaus auch der 'feudalen' Politikformen mit ihrer Personenorientierung(3) und der Politintrigen bedienen). Das seinerzeitige 'neue Europa' des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts hat sich aber auch als ein Europa der Gewalt und der Kriege erwiesen. Die Nationalstaaten - einst als Friedensbringer konzipiert - waren keineswegs in der Lage gewesen, dem Kontinent den ersehnten Frieden zu bringen, vielmehr wird der Nationalstaat heute als eine wesentliche Ursache für zwei verheerende Weltkriege angesehen.(4)

Die 'alten' Konflikte sind in den Hintergrund getreten.(5) Es gibt heute in den Post-Industrie-Staaten keine Industrie bzw. keine Monopole oder Konzerne mehr, die einen relevanten Teil der Gesellschaft so beeinflussen könnten, dass durch ihren unmittelbaren Einfluss gewaltsame Konflikte ausgelöst werden würden, wie dies noch zu Zeiten des Ersten oder Zweiten Weltkriegs der Fall war. Nach wie vor sind aber Teile der Rüstungsindustrie ein Hort für undurchsichtige Vorgänge, Korruption und möglicherweise auch für die Provokation von Konflikten.(6) Dennoch sind durch die Dialog-Politik im Rahmen der KSZE und deren Folgen (Abrüstung) diese Industrien für etliche Jahre in den Hintergrund getreten. Die jetzige Kriegspolitik einzelner Politikergruppen kommt ihnen entgegen und diese Politik wurde zum Teil durch massive Wahlspenden begünstigt, deren Ernte nun eingefahren wird. Aber diese Rüstungskonzerne haben keineswegs mehr die Position, die diese Industriezweige in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts hatten.(7) Und ihre Möglichkeiten sind stärker von der Politikgestaltung abhängig, wobei die weltweit größten Wirtschaftszweige (Tourismus, Produktion von Alltagsgegenständen, Wohnbau usw.) gerade an gewaltarmen Gesellschaften und Prozessen interessiert sind.

Im Mittelpunkt heutiger Konflikte in den Post-Industrie-Staaten stehen nach wie vor die Sozialfragen, wie es sich gerade an den heutigen Auseinandersetzungen insbesondere um die sogenannten Pensionsreformen zeigt. Auch am Beginn des 21. Jahrhunderts erwies es sich, dass mit bloßer ('objektiver') Mathematik die Umverteilung nicht reibungslos funktionieren kann, die unter dem Stichwort 'Reform der Sozialsysteme' von unterschiedlichen Gruppen mit mehr oder weniger brutalen Methoden versucht wird.(8) Die Abrückung von der kulturellen Denkweise, in deren Mittelpunkt die Menschen stehen, hat große (grenzüberschreitend-verbindende) Konflikte hervorgerufen.(9) Und es stellt sich die Frage, warum neuerlich versucht wird, die alte Volksweisheit zu überprüfen, die da lautet: Wer den Wind sät, wird den Sturm ernten.

Im Rahmen meines Beitrages werde ich versuchen, nicht nur zu zeigen, dass Arbeit, Kultur und Transnationalität in einem engen Wechselverhältnis stehen, sondern es wird mir auch darum gehen zu zeigen, dass die Folge der Nicht-Berücksichtigung der sozialen Realitäten Gewalt zur Folge hat, und dass Gewalt und Krieg keineswegs die Väter aller Dinge(10), die Geburtshelfer der Geschichte(11) sind, sondern dass Gewalt und Krieg den Alltag immer - historisch und aktuell gesehen - im großen Maßstab ärmer gemacht haben. Und keine soziale (religiöse, politische usw.) Gruppe, die versucht, sich mit Gewalt durchzusetzen, konnte gewinnen, sondern hat immer verloren und wird nur verlieren (siehe insbesonders Abschnitt 7 in diesem Beitrag).

Weiters werde ich versuchen, diese Thesen in einen größeren und grundsätzlichen Zusammenhang zu stellen, und einige Grundelemente gegenwärtiger Entwicklungen herauszuarbeiten sowie Möglichkeiten künftiger Entwicklungen zu diskutieren, denn es scheint mir wichtig, sich gerade an den Kernelementen heutiger kultureller Prozesse zu orientieren, um konstruktiv Thesen für die Zukunft zu entwickeln. Und Arbeit sowie Kultur werden auch in einem künftigen (transnationalen) Europa wesentliche Kernbestandteile dieser Entwicklungen sein.(12)

 

1. Der Gesamtprozess

Nach wie vor gilt die These, dass Kultur die Umwandlung einer Welt an sich zu einer Welt für die Menschen ist.(13) Diese These schließt die (gesellschaftliche) Destruktion (Gewalt, Krieg) ebenso aus wie die Zerstörung der Natur.(14) Und dieser Prozess schließt die Kooperation der Menschen bei Ihren Arbeiten, Tätigkeiten (auch in der Freizeit) ein.(15) Das Kernmoment der Kultur ist die Umwandlung der Welt durch Kooperationen. Ihre größten Erfolge werden erzielt, seitdem es möglich ist, diese Kooperationen durch Schriften und neue Kommunikationsstrukturen generationenüberschreitend zu optimieren. Diese Entwicklung ist noch sehr jung gemessen an der Geschichte der Menschheit, die mehrere Millionen Jahre alt ist, denn die Schriftlichkeit setzte bekanntlich erst vor ein paar tausend Jahren ein.(16) Und seit dieser Zeit war es auch erst möglich, mehr und mehr Technologie zu entwickeln, die die Arbeit der Menschen erleichterte, es (grundsätzlich) ermöglichte, für mehr und mehr Menschen bessere Lebensbedingungen zu schaffen.(17)

Gerade heute ist es sehr wichtig, die Bedeutung dieser Kernelemente zu verstehen und sie für die Herausarbeitung perspektivischer Entwicklungen zu berücksichtigen. Denn im 20. Jahrhundert wurde versucht (um ein Beispiel mit symbolischer Bedeutung zu erwähnen), die Naturwissenschaften ohne Berücksichtigung des kulturellen Kontextes zu forcieren. Naturwissenschaften und Humanities/Kulturwissenschaften wurden gegeneinander ausgespielt.(18) In der Politik spielten vor allem 'technologische' Schlagworte eine große Rolle, ohne dass bis heute erkannt wurde, dass entscheidende Fehler in der Landwirtschafts-, Industrie-, Tourismus- und Umweltpolitik gerade auf Fehler im kulturellen Denken zurückgingen und zurückgehen, das vorhanden war, auch ohne dass es 'kulturell' genannt wurde.

Das ist nichts Ungewöhnliches. Die Realisierung der Kulturalisierungen erfolgte stets in Widerspruchsfeldern. Nie ging es um das 'reine' Wissen, sondern der Zugang zum Wissen (Grundvoraussetzung: Alphabetisierung) war in der Geschichte und ist heute einer Vielzahl von Menschen (in manchen Gesellschaften nach wie vor der Mehrheit) nicht möglich.(19) Aber auch der Zugang zur Schriftlichkeit ist noch kein Zugang zum Wissen. Wissen erfordert stets Interpretationen: der Sprachen, der Formulierungen, der Gedanken, der Erkenntnisse.(20) Daher ist die grundsätzliche Position von Wissenschaften und Forschungen in heutigen Gesellschaften von so zentraler Bedeutung.(21) Und nicht umsonst fand ein Übergang von elitären Einrichtungen zu 'Massenuniversitäten', von der 'little science' zur 'big science' statt(22), die sich aber bis heute zum Teil nicht unbedingt an den gesellschaftlichen Grunderfordernissen (Alphabetisierung, Öffentlichkeit, Interpretationsfähigkeit, Anwendungsmöglichkeiten) orientieren. Ein Hauptproblem der Fehlentwicklung ist vielmehr die Konzentration vor allem der Geisteswissenschaften/Humanities auf sich selbst und ihre Traditionen, die den alten Erfordernissen der Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts entsprechen.(23)

Mit der Quantifizierung (z.B. Auszubildende, Publikationen) allein ist es daher nicht getan. Denn mit der Quantifizierung wird weitgehend das reproduktive Element erhöht, das zwar ein zentrales Element für den Reichtum einer Gesellschaft darstellt. (Erst die Breitenwirksamkeit macht den gesellschaftlichen Reichtum möglich.) Dagegen wird aber das innovative Element nicht unbedingt durch die Optimierung der Reproduktion gefördert, sondern zum Teil sogar behindert (s. auch 4.: Reproduktion und Innovation). Ohne Innovationen sind aber neue Entwicklungen nicht möglich. Die bloße (massenwirksame) Reproduktion führt zur Stagnation und zum Teil zur Destruktion.

Wichtig ist hier daher zunächst einmal festzuhalten, dass im Rahmen von gesamtgesellschaftlichen Prozessen, in deren Rahmen die Möglichkeiten für Nahrung, Kleidung, Wohnung, Beweglichkeit, Lebensdauer usw. erweitert wurden und zum Teil eine völlig neue Qualität ermöglichten, deren Grundlage die erst einige tausend Jahre alte Schriftlichkeit ist, Wissen mehr und mehr an Bedeutung gewinnt, Wissen aber kein 'reiner' Wert ist, sondern auch die Art des Zugangs zum und der Anwendung des Wissen(s) eine zentrale Rolle spielen. Das gilt nicht nur für die Philosophie, sondern auch für die Entwicklung zum Beispiel von Technologien oder Medizin.

 

2. Der Charakter der Transformationen

Um zu verstehen, welches die Hauptprobleme der Fehlentwicklungen sind und welches die neuen Möglichkeiten und Erfordernisse, müssen zunächst Aspekte der Prozesse der Transformationen im Spannungsfeld von Politik und Produktion kurz skizziert werden, die in der zweiten Hälfte das 20. Jahrhunderts durch mehrere Momente geprägt wurden. Dabei muss man sich von den Schlagworten wie 'Industriegesellschaft'(24), 'Technopoly'(25), 'Wissensgesellschaft'(26) in dem Sinne lF6sen, als darunter keine Begriffe zu verstehen sind, die tatsächlich den Charakter einer Gesellschaft erfassen. Vielmehr wird mit diesen Begriffen nur der Prozess der Momente erfasst, die sich in Transformation befinden. Selbstverständlich bestehen auch in einer Wissensgesellschaft feudale, industrielle usw. Strukturen weiter. Diese Pluralität ist ein Reichtum und die Kunst der Politik besteht nicht in der Durchsetzung (die meist mit Destruktion verbunden ist), sondern in der Gewinnung der verschiedensten gesellschaftlichen Gruppierungen.

Die Politik löst auch die Transformationen nicht aus. Sie nutzt (im günstigen Fall) Kenntnisse, die in der eigenen oder anderen Gesellschaften vorhanden sind. Sie kann Rahmenbedingungen schaffen oder durch Rahmenbedingungen Prozesse behindern. Aber sie hat seit dem Beginn der Modernisierung(27) mehr und mehr an Spielraum verloren, versucht aber dennoch immer wieder, selbst in die privatesten Bereiche einzudringen, womit sie mehr und mehr in Konflikte mit der Bevölkerung gerät, die sie zu manipulieren oder gar zu zwingen versucht.(28)

Die wesentlichsten Transformationsschübe seit den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts waren in diesem Kontext:

 

2.1. Von der Landwirtschaft zur Industrie

Noch in den vierziger Jahren lebten zum Beispiel in Österreich über 50% der Bevölkerung von der Landwirtschaft. Heute liegen die Zahlen in Ländern wie Deutschland und Österreich unter 2%. Dagegen ist der Anteil in Frankreich fast fünf mal so groß und noch wesentlich höher in Ländern wie Spanien, Portugal, Griechenland und vor allem Polen. Ganz zu schweigen von Ländern wie der Türkei oder Kasachstan.(29)

Da die Art und Weise der Produktion der Landwirtschaft grundlegend für den Reichtum und die Gesundheit einer Bevölkerung sowie die Landschaft des Wohngebietes ist, war und bleibt diese Produktionsform ein Schlüsselbereich, der nicht nur unter dem Aspekt der Quantität von Lebensmitteln zu sehen ist, sondern auch im Zusammenhang mit Landschaft bzw. Umwelt oder allgemeiner: mit Lebensqualität.

Während seit dem 19. Jahrhundert die Steigerung der Quantität der Lebensmittelproduktion zum Teil sprunghaft erfolgte, kann von einer Steigerung der Qualität nur in ausgewählten Bereichen gesprochen werden. So kam es durch mechanische Übertragungen von Produktionsformen der Industrie auf die Landwirtschaft zu beträchtlichen Fehlentwicklungen. Die Leidtragenden waren und sie die Tiere, die Umwelt und nicht nur dadurch die Menschen. Diese Fehler werden nun fortgesetzt, indem zum Teil in der Biologie ähnliche 'Denkfehler' begangen werden, die auch in der Medizin und in anderen Bereichen künftig eine wichtige Rolle spielen könnten.(30)

Die Grundlage der Denkfehler basiert auf Fehlern in der Entwicklung zentraler kultureller Institutionen. Viele universitäre Einrichtungen, Forschungsinstitute, Museen, Bibliotheken usw. haben nicht (mehr) den Gesamtprozess bei Reproduktion (zum Beispiel Bildung) und Innovation im Auge, sondern beschränkten sich mehr und mehr auf spezielle Bereiche (auch befördert durch ein System der Projekt- anstatt Basisförderung). Die Innovationen sind meist auf neues Design, technologisch-mechanische Momente, bürokratische Strukturen beschränkt, die auch als solche mehr und mehr gefördert werden. Die Erkenntnis, dass es sich dabei um gravierende Fehlinvestitionen handelt, kommt meist erst nach Jahrzehnten zum Tragen, wäre aber im Rahmen einer kulturellen Diskussion abschätzbar, sofern sie ermöglicht wird.

 

2.2. Von der Industrie- zur 'Dienstleistungsgesellschaft'

In der Landwirtschaft war weitgehend die Reproduktion das wesentlichste kulturelle Element. Und dementsprechend waren die Ausbildungsformen, die sich weitgehend auf die Tradierung in der eigenen Familie beschränkten. Mit den Modernisierungen (darunter: Industrialisierung) setzte sich die Allgemeinbildung und auch Öffentlichkeit durch.(31) Mit den Industrialisierungen und damit der erweiterten Reproduktion kam jener gesellschaftliche Reichtum, der es ermöglichte, sich auch mehr und mehr der Freizeitgestaltung zu widmen. Neben den regionalen Freizeitmöglichkeiten (Bäder, Fußball usw.) begann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Tourismus eine neue Qualität anzunehmen. Bereits im 19. Jahrhundert hatte er Massencharakter angenommen. Dieser Massencharakter wurde im 20. Jahrhundert mit einer erhöhten Mobilität verbunden.(32)

Mit diesem Tourismus veränderte sich das Leben auf dem Land, aber ebenso in den Städten. Auf dem Land setzte sich eine Urbanisierung durch, aber in der Stadt begann auch das Land (Essen, Kleidung, Folklore) eine immer wichtigere Rolle zu spielen.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass der gesellschaftliche Reichtum vor allem eine Bereicherung des Alltags darstellte. Dies wird nun in der Gegenwart häufig 'vergessen'. Anstatt auf dieser Basis den Reichtum (auch hier weniger die Quantität, denn die Lebensqualität) weiter zu vergrößern, wird auf restriktive Maßnahmen gesetzt. Zum Teil gibt es wieder Ansätze einer 'Kriegsökonomie', die in Wirklichkeit aber das entscheidende Element des gesellschaftlichen Niedergangs ist, in dem sie einen wesentlichen Teil der gesellschaftlichen Produktion nicht oder nur eingeschränkt konsumierbar macht, weil der Massenkonsum eingeschränkt wird. Dies gilt auch für die Versuche der Umverteilung durch Kürzungen (gerade bei den Pensionssystemen).

 

2.3. Zum Begriff 'Wissensgesellschaft'

Der Begriff 'Wissensgesellschaft' ist schillernd wie alle Begriffe, die sich auf Transformationsprozesse beziehen. Charakteristisch für die 'Wissensgesellschaft' ist heute unter anderem:

2.3.1. Wie auch die anderen Gesellschaften (Agrargesellschaften, Industriegesellschaften usw.) verdrängt die Wissensgesellschaft andere Gesellschaftsformen nur bedingt. Wesentlich ist aber die Öffentlichkeit, die mehr Bedeutung gegenüber tradierten Hierarchien erlangt.

2.3.2. Nicht mehr die Reproduktion und das Überleben stehen in den Post-Industrie-Staaten im Mittelpunkt, sondern Innovation und Lebensqualität im Mittelpunkt von (möglichen) Entwicklungen. Dagegen geht es weltweit für Hunderte Millionen von Menschen immer noch um die Durchsetzung des Lebensnotwendigen(33), obwohl dies aufgrund der vorhandenen Kapazitäten keineswegs notwendig wäre.

2.3.3. Waren agrarische und industrielle Produktionen durch Hierarchien und Leitungssysteme dominiert, kommt es nun bei der Produktion auf das selbständige und vernetzte Handeln an, das ohne gesellschaftliche (soziale) Solidarität aber destruktiv wird. Der Erhalt alter Strukturen wird vor allem durch Konfrontationen (und Militarisierungen) erreicht. Der 'Feind' bleibt daher das Mittel des (konservativen) Machterhaltes.(34) Ein 'Fortschritt' konnte damit nie erzielt werden.

2.3.4. Wie in den anderen Gesellschaften gibt es unterschiedliche (soziale) Interessen, die durch den gesellschaftlichen Reichtum nicht aufgehoben werden. Auch in den Post-Industrie-Staaten unterscheiden sich die Möglichkeiten zur Lebensgestaltung nach wie vor grundlegend.(35) Die Auseinandersetzung um soziale Interessen hat aber nicht mehr den existentiellen Charakter, wie dies noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Fall war und heute in vielen Ländern noch ist.

2.3.5. Mehr denn je wird deutlich, dass der gesellschaftliche Reichtum von Austausch abhängig ist. Abgeschottete Gesellschaften können am Wissen nur bedingt partizipieren. Die Öffentlichkeit wird zu einem entscheidenden Produktivfaktor. Der Erhalt der Macht ist dagegen der Faktor, der den Status quo zementiert und zum Teil in Destruktion umschlägt.(36)

2.3.6. Wissen meint im Zusammenhang mit 'Wissensgesellschaft' nicht einfach 'Bildung'. Vielmehr wird unter Wissen eine Mischung sowohl aus Kenntnissen als auch aus Anwendungsfähigkeiten verstanden. Hingegen ist die klassische Bildung meist auf Konservierung auch von gesellschaftlichen Strukturen ausgerichtet und hat damit nicht den besten Ruf (siehe den 'Dottore' der Commedia dell'Arte).(37)

2.3.7. Dies gilt nicht nur für die Allgemeinbildung, sondern auch für die UniversitE4ten und Forschungen. So wichtig in diesen Bereichen eine solide Reproduktion ist, so entscheidend ist eine Anwendungsorientierung, die sich freilich nicht nur an den Tageserfordernissen orientiert, sondern an den komplexen Verhältnissen, deren Erforschung Transdisziplinarität als Methode (und nicht als Fach) erfordert.

2.3.8. Wissen wird zu Grundlage einer Arbeit, die weniger manuell und mehr intellektuell ist und wird. Dies ist ein sehr schwieriger Übergang von der Reproduktion zur Innovation, gerade weil im 20. Jahrhundert die gesellschaftlichen Einrichtungen wie Akademien und Universitäten mehrfach grundlegende versagten und bis heute meist nicht in der Lage sind, ihre Fehlentwicklungen grundlegend aufzuarbeiten.

2.3.8. Ob dieser neue Abschnitt gesellschaftlicher Entwicklung nun 'Wissensgesellschaft' genannt wird oder nicht, ist nicht wirklich belangvoll. Belangvoll sind die Faktoren, die gesellschaftlichen Reichtum befördern oder behindern können bzw. sogar zu dessen Zerstörung führen. Die bedrohlichsten Fehlentwicklungen sind derzeit die Kriegsorientierung einiger Staaten sowie die Zerstörung der Umwelt. Die größten Möglichkeiten bieten innovative Arbeitsfelder. Dies gilt auch für ärmere Länder, da im Gegensatz zur Industrieentwicklung kaum Kapital erforderlich ist um zu entwickeln. Die Schwierigkeit besteht heute hauptsächlich in mangelnder Infrastruktur (zum Beispiel Telefonanschlüsse in Afrika), in ungerechten Austauschbeziehungen (zum Beispiel Erdöl) und in der Verteidigung des 'Erbes' an alten Machtstrukturen (das immer wieder mit kulturellem Erbe und kultureller Vielfalt verwechselt wird).(38)

 

3. Wandel der kulturellen Strukturen

Wie wir gesehen haben, findet der entscheidende Wandel in der Produktion derart statt, dass die Reproduktion auf hohem Niveau erfolgt und mehr und mehr an Bedeutung verliert, weil die Innovation zum entscheidenden Faktor wird.(39)

Dies ist aber kein einfacher, linearer Vorgang, sondern der Wandel gestaltet sich als Widerspruchsprozess mit verschiedenen Potentialitäten. In welche Richtung der Wandel geht, wird bestimmt durch die kulturelle Interpretation der handelnden Gruppierungen. Die generellen Tendenzen bleiben aber allgemein: Hebung des gesellschaftlichen Reichtums, Industrialisierung, Urbanisierung (mehr als 50% der Weltbevölkerung leben am Beginn des 21. Jahrhunderts bereits in Städten), Konflikte um die Erreichung von Lebensqualität (soziale Absicherung, Umwelt). Kernelement bleibt die Schriftlichkeit, auch wenn die Komplexität der Kommunikation zugenommen hat.(40) Dazu einige Aspekte:

 

3.1. Die Sprachen

Sprachen sind das entscheidende Element für den Zugang zum Reichtum der Welt in ihrer Vielfalt. Es ist daher entscheidend, dass eine Gesellschaft Sprachenreichtum in vielerlei Hinsicht nicht nur zulässt, sondern fördert. Erinnert sei daran, dass das Projekt der Enzyklopädie im Frankreich des 18. Jahrhunderts eine Weltentdeckung durch Sprachentdeckung war. Mit der Einführung der Modernisierung in Russland wurden auch deutsche Wörter eingeführt. Und die Engländer haben bei Ihrer Entdeckung der Alpen auch Wörter wie 'Rucksack' und 'Alpenstock' in ihren Wortschatz aufgenommen.(41)

Die Berücksichtigung der Tatsache, dass die Entwicklung des Sprachreichtums auch eine Mehrung des gesellschaftlichen Reichtums ist, ist aus verschiedenen Gründen in der Modernisierung nicht immer der Fall. Vor allem ökonomisch rückständigere Gesellschaften versuchen durch 'Sprachreinheit' und Sprachkontrolle auch politische Kontrolle zu behalten. Es gibt aber kein Beispiel im 20. Jahrhundert, das sich in diesem Zusammenhang als produktiv erwiesen hätte (schon gar nicht im Sinne des 'Schutzes' von kulturellen Traditionen). Nur dort konnte die Politik befördern, wo sie ermöglicht hat.(42) (Was den gesetzlichen Schutz keineswegs ausschließt.)

 

3.2. Die Kommunikationsstrukturen

Das 20. Jahrhundert war von der Erfindung und Entwicklung zahlreicher neuer Medien geprägt. Nach Buchdruck und Zeitschriften bzw. Tageszeitungen in den vorangegangenen Jahrhunderten war das 20. Jahrhundert vor allem durch die Realisierung von Multimedialität geprägt. Entscheidende war aber nicht nur das Medium als Medium(43), sondern bei aller Bedeutung der Infrastruktur gerade auch der Einsatz der alten und neuen Medien in gesellschaftlichen Prozessen.(44) Dazu gehört neben den Sprachentwicklungen die Anwendung und das Verständnis von Bildern (Icons) im Alltag(45)- heute bei der Orientierung in der Öffentlichkeit (U-Bahn, Flughafen usw.), Bedienung von Maschinen wie Computern und in vielen anderen Bereichen von Bedeutung. Mehr und mehr wurden (z.B. Tonfilm) und werden (z.B. Internet) auch Töne in diese Prozesse einbezogen.(46)

Diese neue Qualität der Multimedialität gerade im Bereich Fernsehen und Internet ist überall leicht feststellbar. Diese neue Struktur wurde bald durch Schlagworte wie 'Global Village' etikettiert (ein übrigens merkwürdiges Schlagwort im Zeitalter der Urbanisierung).(47) Aber der kulturelle Umgang wurde auch in diesem Fall weitgehend den 'Technologen' überlassen. Eine Fehlentwicklung, die gerade in der Gegenwart durch wirtschaftliche Einbrüche sichtbar ist.(48)

Noch wesentlicher aber ist, dass wie im 18. Jahrhundert nun auch im 21. Jahrhundert unter gleichen Schlagworten wieder versucht wird, die Kontrolle über die offenen Prozesse zu gewinnen.(49) Damit wird einerseits versucht, eine materielle Umverteilung zu bewirken, andererseits geht es auch um die Kontrolle der Handlungsfähigkeit derjenigen, die sozial benachteiligt werden. Der Realisierung komplexer Ausdrucksmöglichkeiten stehen nun die (teilweise primitiven) Machtstrukturen entgegen.

 

3.3. Die Bauten

Die Umstellung der Gesellschaften auf offene Strukturen hat vielfältige Wirkungen in der Gesellschaft. In den Bildungsstrukturen ist zum Beispiel die neue Entwicklung noch kaum nachvollzogen worden, wodurch sich Defizite bei der Möglichkeit zur Entfaltung ergeben (und dadurch auch eine strukturelle Arbeitslosigkeit). Bildung wird sogar zum Teil als Gegensteuerungselement zu offenen Strukturen verstanden. Dies ist ein Beispiel dafür, dass nicht nur die Entwicklung von Technologien, sondern auch deren Anwendungen Beschränkungen unterworfen sind.(50)

Dagegen ist die Umsetzung von neuen Technologien zum Beispiel beim Bauen leichter vonstatten gegangen, obwohl auch in diesem Zusammenhang vielfach Widerstand geleistet wird. Als Beispiel sei die Öffnung der Häuser in den Bergen erwähnt, die sich weltweit durchsetzt, nachdem durch neue Baustoffe andere Formen der Wärmedämmung, der Widerstandsfähigkeit usw. gefunden worden waren. In früheren Zeiten waren die Fenster klein, heute aber ist zumindest in diesem Bereich eine andere Möglichkeit für Lichteinfall und Sichtfähigkeit gegeben.(51)

 

3.4. Das Alte im neuen Gewand

Wie sehr das Alte mit dem Neuen Hand in Hand geht, zugleich aber auch, welch mangelnde gesellschaftliche Erinnerung dazu existiert, zeigt das Wort Shampoo. Es scheint aus dem Französischen zu kommen. Tatsächlich aber bezeichnet das Wort eine Jahrtausende alte Kulturtechnik der Inder.(52)

Nicht anders ist es mit dem Wort Slogan. Es scheint ein Begriff der Moderne zu sein, der aus dem Amerikanischen in die deutschen Sprachen bzw. in andere Sprachen gelangt ist. Dieser Begriff ist in allen Sprachen eng mit einer Werbung, Politik usw. verbunden, die in Europa aus den USA bekannt sind. Tatsächlich ist aber Slogan (oder 'sluagh-ghairm') der Ruf der schottischen Geisterheere.(53)

Diese (merkwürdige) Vermengung von Altem und Neuem ist aber nicht nur auf gesellschaftliche Erinnerungslosigkeit zurückzuführen, die auch bei Landschaftsnamen anzutreffen ist.(54) Diese Vermengung von Altem und Neuem wird auch strategisch eingesetzt. Ein Beispiel dafür war die Französische Revolution, die in den Gewändern der Antike auftrat. Nicht anders ist es heute mit der Durchsetzung der neuen Technologien.. Die Nehru-Dynastie schuf ihren Mythos.(55) In Korea werden für Autos die Namen von Göttern verwendet (Mazda) oder auf dem 'neuen Kontinent' (dem Cyberspace) für Tätigkeiten im Internet Metaphern aus der alten Seemannssprache (Navigation).

Ursache dafür ist nicht nur mangelndes (gesellschaftliches) Bewusstsein, sondern vor allem auch die Irritationen im Umgang mit der Zukunft. Die neuen Technologien erleichtern nicht nur die Arbeit, sondern sie bergen auch viele Tücken in sich, die bis zur tödlichen Bedrohung reichen können. Am Anfang des 20. Jahrhunderts war dies noch vor allem in den Stummfilmen reflektiert worden, doch in der Gegenwart wurde die (kulturelle) Auseinandersetzung auch mit dieser Entwicklung an den Rand gedrängt.(56)

 

3.5. Die Politik

In der Modernisierung hat die Politik vor allem in ökonomisch schwachen Gesellschaften oder im Zusammenhang mit F6konomisch schwach entwickelten Strukturen immer wieder versucht, Anstöße zu geben: durch Wissensprojekte, Bildung, Investitionen und selbst durch Entwicklung von Öffentlichkeit. Dort, wo sie durch diese Maßnahmen ermöglicht hat, entstand auch gesellschaftlicher Reichtum. Dort, wo sie versucht hat, das 'Richtige' durchzusetzen, hat sie mehr oder weniger großen Schaden angerichtet. Die Politik des 'Starken Mannes' ist politisch gesehen das Eingeständnis der Schwäche der politischen Handlungsfähigkeit. Kennzeichen der Ratlosigkeit von Politik waren und sind Gewalt und Kriege (wobei zwischen der Hilflosigkeit der 'Schwachen' und der Hilflosigkeit der 'Starken' durchaus zu unterscheiden ist).

Versteht man Politik als eine Gestaltung einer Gesellschaft, ist daher eine Fehlfunktion von gravierender gesellschaftlicher Bedeutung. Bereits gegen Ende des 20. Jahrhunderts kristallisierten sich einige Problemfelder heraus, mit denen die Politik nur schwer umgehen konnte und kann:

 

3.5.1. Die Arbeit

Die Umbrüche bzw. Transformationen in bzw. der Arbeit haben die Wählergruppen grundlegend geändert. Eine Beibehaltung traditioneller Orientierungen war nicht möglich, weil sich die Kultur veränderte. Eine bloße Beharrung bzw. Anpassung führte in die Sackgasse. Die Orientierung an der Zukunft bedarf aber nicht nur und schon gar nicht immer neuer (junger) Gesichter. (Zum Teil fehlt gerade diesen 'Jungen' die Erfahrung im Umgang mit Menschen, die einen eventuellen Vorsprung von Kenntnissen im jeweils aktuellen Transformationsprozess nicht aufwiegen, wenn grundsätzlich die Bereitschaft zur Veränderung besteht.) Wichtig ist auch hier die Ermöglichung, die Hilfe zur Selbsthilfe. Die soziale Restriktion (ökonomischer Druck auf Arbeitslose, Kranke) ist dagegen eine kontraproduktive Scheinmaßnahme für eine reaktionäre Öffentlichkeit(57), mit der die Fehler bei Ausbildung und Strukturmaßnahmen nicht aufgehoben werden können. Diese verlangen vielmehr eine langfristige (kulturelle) Strategie.

 

3.5.2. Die Öffentlichkeit

Grundlegendes Merkmal jeder Demokratie und damit jeder produktiven Gesellschaft ist eine Öffentlichkeit, die Kritik und Innovation ermöglicht und sich nicht nur auf massenhafte Reproduktion beschränkt. Eine derartige Öffentlichkeit erfordert aber einen offenen Umgang mit sich ändernden und umbrechenden Strukturen auch dann, wenn zum Beispiel soziale Sicherheit bewahrt werden soll. Eine Vereinheitlichung im Sinne der Transformation ist aber ebenso kontraproduktiv und zum Teil illusionär wie restriktive Maßnahmen gegen neue Realitäten.(58)

 

3.5.3. Die Zukunftsorientierung

Man kann versuchen, die Zukunftsgestaltung auf die (militärische) Sicherung der Gegenwart hin zu orientieren(59) und wird sicherlich dadurch zu keinen neuen gesellschaftlichen Ergebnissen kommen. Schwierig ist aber auch, sich an jenen Bereichen zu orientieren, die gesellschaftlich für Innovation zu sorgen hätten: Künste, Wissenschaften, Forschungen, aber auch mehr und mehr andere Bereiche der Zivilgesellschaft. Gerade aus den ersteren Bereichen kamen auch grundlegende Anstöße für gravierende Fehlentwicklungen.(60) Nicht nur im Bereich der Haltung zu Gewalt, zu Krieg und Frieden, sondern auch in der Nutzung von Kenntnissen (Stichwort: Atomspaltung). Kennzeichnend für alle Fehlentwicklungen war stets, dass nicht der Mensch im Mittelpunkt stand, sondern spezielle Interessen, die 'reine' Wissenschaft. Gerade dies könnte aber als Richtlinie für die Zukunft verstanden werden - universell den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen (womit nicht seine Dominanz und Herrschaft über die Natur gemeint ist, die destruktiven Charakter hat, sondern in Symbiose mit ihr die Entfaltung seiner Möglichkeiten im Rahmen einer menschlichen Solidarität).

Gerade in der Wissensgesellschaft gewinnt Politik zusätzlich an Bedeutung, aber nicht im Sinne einer (restriktiven) Herrschaft, sondern im Sinne des Ermöglichens. Nicht der 'Überlebende', der Herrscher(61) stehen mehr im Mittelpunkt des Alltags, sondern - im Gegensatz zu den Schlagzeilen - Öffentlichkeiten, Kooperationen, Wissensproduktionen. Aber der Anstoß zu diesem Übergang muss meist erst noch erarbeitet, die Bedeutung des Alltags für die Politik sichtbarer werden. Und es wird sich zeigen, ob die Angst vor der VerE4nderung größer ist als die Innovationsfähigkeit der Politik (hier keineswegs nur auf eine Berufs- oder Interessensgruppe beschränkt).

 

4. Reproduktion und Innovation

Wie wir gesehen haben, sind zwei zentrale Elemente der kulturellen Prozesse Reproduktion und Innovation. Sie bestimmen den Charakter von Arbeit, aber auch das Maß des gesellschaftlichen Reichtums.

Diese Differenzierung ist anders denn die vielfältigen Unterscheidungen zwischen Kultur und Nicht-Kultur. Diese (unproduktiven) Unterscheidungen werden unter anderem getroffen durch den Verweis auf unterschiedliche Gesellschaftsformen (seit der Aufklärung ist vor allem der 'Gegensatz' zwischen Kultur und Barbarei beliebt). In dieser polarisierten Form wird sie sowohl auf die Zugehörigkeit in einer Gesellschaft (sozialer Status ist gleich kultureller Status) als auch auf andere Gesellschaften (das Fremde ist das Minderwertige) angewandt.

In ghom'ala(62) - einer Sprache in Kamerun - wird hingegen zwischen Reproduktion ('Handwerk') und Innovation ('Kreativität') unterschieden. Dies scheint eine Unterscheidung zu sein, die produktiv ist und zugleich auf die Bedeutung beider TE4tigkeiten verweist. So ist es selbstverständlich wichtig, immer wieder Feuer machen zu können, die nahrhaften und heilenden von den giftigen Pflanzen zu unterscheiden, die Werkzeuge und Techniken des Anbaus zu erlernen oder als Handwerker Stühle, Tische, Behälter usw. reproduzieren oder es als Mechaniker zu verstehen, einen PC reparieren zu können. Im Zusammenhang mit diesen Reproduktionen gibt es zum Teil Kenntnisse aus der Steinzeit, die bis heute von entscheidender Bedeutung sind. Das entscheidende Verdienst der Moderne war es nicht in allen Bereichen, grundlegende Kenntnisse für die Menschheit neu zu entwickeln, sondern Reproduktionen zu beschleunigen, was ein entscheidender Verdienst der Industrie war.(63)

Innovation dagegen ist die Voraussetzung für Reproduktion. Und im Gegensatz zur (mechanischen) Reproduktion entsteht Innovation in einem komplexen Umfeld und ist daher anders zu realisieren. Nicht Reduktion ist entscheidend, sondern Vielfalt. Dies wurde auch von allen bisherigen Gesellschaften anerkannt. Für Künste, Wissenschaft und Forschung besteht aber derzeit die Schwierigkeit, dass gerade in ihren Arbeitsfeldern industrielle Arbeitsformen eingeführt wurden. Ohne die Entwicklung im Detail zu schildern, geht es im Kern um zwei Bereiche: einerseits Vorgaben der Themen (Projektförderung), Arbeitszeiten, Arbeitsbedingungen, andererseits um Rahmenbedingungen, die Innovation nicht in den öffentlichen Diskurs einfließen lässt (bzw. nur unter Schlagworten), die Mobilität nur individuell nutzbar macht bzw. generell kunst- und wissenschaftsfeindliche StrF6mungen (wozu auch 'Kanonisierungen' zählen).

Die Entwicklung und Differenzierung einer Öffentlichkeit ist gerade auch in diesem Bereich daher von größter Bedeutung, aber es bedarf auch der Ermöglichung von Strukturen, um überhaupt in dieser Öffentlichkeit wirken zu können.

Die notwendigen Mittel dafür sind nicht mehr so umfangreich, wie dies noch vor wenigen Jahrzehnten der Fall war. Der Aufwand für Publikationen im www ist geringer als die Kosten für Zeitschriften und Bücher (die nach wie vor noch ihren Wert haben). Und die Öffentlichkeit, die erreicht werden kann, ist größer, als mit den gedruckten Publikationen. Vereinfacht wird auch die Netzwerkarbeit.

Die Möglichkeiten wären also größer geworden. Erschwert wird die Arbeit durch eine Förderungspolitik, die in ihrer Kategorisierung dem 18. Jahrhundert entspricht und mit ihrer kurzfristigen Mittelvergabe mehr zerschlägt als fördert bzw. überleben lässt.

 

5. Soziale Solidarität

Über Arbeit kann nicht sinnvoll geschrieben werden, wenn nicht auch über die Verteilung der Produkte der Arbeit etwas gesagt wird.

Seit der Steinzeit haben sich eine Vielzahl von Bräuchen, Riten und heutzutage vor allem Gesetzen entwickelt, die von Norbert Elias unter dem Begriff 'Zivilisation' zusammengefasst wurden.(64) Das entscheidende Merkmal des Prozesses der Zivilisation ist die Zurückdrängung der Gewalt, die jedoch immer wieder zum Tragen kommt. Gerade das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der größten Massenmorde (wobei sogar industrielle Verfahren eingesetzt wurden).

Auch im 21. Jahrhundert gibt es durchaus Politiker, die meinen, dass Gewalt eine Geburtshelferin der Geschichte sei. (Und nicht umsonst sind es gerade diese Politiker, die einen internationalen Gerichtshof ablehnen.) Sie haben aus dem Scheitern dieser Politik im 19. und 20. Jahrhundert nichts gelernt.

Dagegen steht die Vorstellung der sozialen und menschlichen Solidarität, des Diskurses, der Öffentlichkeit, der Überzeugung, die nicht nur Grundgedanken für die Entwicklung der heutigen Sozialsysteme waren, sondern auch wesentliche Faktoren für den Reichtum heutiger Gesellschaften.

Nun wird seit Jahrzehnten versucht, Einrichtungen für die Realisierung der sozialen Solidarität zu reduzieren bzw. abzuschaffen und durch Märkte zu ersetzen (womit keineswegs allgemein etwas gegen die grundlegende Bedeutung von Märkten gesagt sein soll). Die Folgen derartiger Entwicklungen können überall studiert werden, wo dies Realität wurde. In den USA und anderen Ländern, wo ein Teil der Pensionen in Aktien ausgegeben oder angelegt worden waren, wurde nach einem langen Boom (der wesentlich durch die Einbringung der Pensionsgelder an die Börsen erreicht wurde, wodurch eine künstliche Nachfragesteigerung erzielt werden konnte) ein Großteil dieser Pensionen vernichtet, was zur Folge hat, dass selbst Professoren mit Spitzengehältern nun weit über Ihre Pensionsgrenze hinaus arbeiten müssen und viele in die Armut getrieben wurden.

Diese 'Privatisierung' der Pensionen ist nur ein Beispiel für Umverteilung und für Politikunfähigkeit. Aber auch in den anderen Bereichen (z.B. Gesundheit) wird nach ähnlichen Prinzipien vorgegangen.

An diesen Beispielen wird deutlich, was es bedeutet, universell den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Die Sicherheit im Sinne einer sozialen Solidarität, die nur von einer Gesellschaft garantiert werden kann, aber niemals von einem privaten Unternehmen, hätte in diesem Fall Vorrang. Und was die Gesellschaft nicht kann, kann ein privates Unternehmen schon lange nicht. Vielmehr würde dieses private Unternehmen gerade in Krisenzeiten selbst der Hilfe der Gesellschaft bedürfen, um seinen Aufgaben nachzukommen. An Kosten kann hier nichts gespart werden, nur die politische Verantwortung wird verlagert (und das wird niemand machen, der sich einen Erfolgt verspricht, sondern nur wenn der Misserfolg befürchtet wird).

Auch an diesem Beispiel zeigt sich, wie notwendig politisches Denken und Politik im Sinne einer Gestaltung der Gesellschaft ist. Eine Entpolitisierung öffnet das Tor für private Vermarktung gesellschaftlicher Interessen sowie die Instrumentalisierung gesellschaftlicher Bereiche für privaten Nutzen. So nützlich der Markt für die Entwicklung von vielem war und ist, so katastrophal wirken sich seine immer wiederkehrenden Krisen auf das soziale Gefüge und das Leben der Menschen aus und verursachen verheerende Katastrophen. Daher ist es wichtig, die zentralen Lebensinteressen der Menschen vor diesen Krisen zu schützen.

Weiters zeigt es sich auch, dass die Diskussion über Sozialsysteme keine mathematische Diskussion, sondern eine kulturelle Diskussion ist. 45 Beitragsjahre sind eben nicht 45 Beitragsjahre (und das weniger wegen der BeitragshF6he, sondern wegen der geleisteten Arbeit). Die Einrechnung von Versicherungsjahren kann nicht von einem 'Konto' abgelesen werden, sondern wird durch gesellschaftspolitische Diskussionen bestimmt. Die Gerechtigkeit wird nicht nur Zahlengleichheit bestimmt, sondern durch die gesellschaftliche und kulturelle Dimension. Kulturwissenschaftliche Erkenntnisse wären daher auch in diesem Bereich gefragt, was nicht unbedingt eine Transformierung der Wissenschaftszweige voraussetzt, aber eine geänderte Nachfrage.

 

6. Urbanisierung

Während Kultur in der 'arabischen Welt' weitgehend mit dem Leben in der Stadt gleich gesetzt wird, prägt der Begriff Stadt (civis) in der 'lateinischen Welt' das Wort Zivilisation.(65) Ersichtlich ist anhand dieser beiden Beispiele, dass der Stadt im Zusammenhang mit kulturellen Prozessen eine wesentliche Rolle zukommt. Aber die Stadt, die als Alternative zum Nomadentum bzw. zur Landwirtschaft entstand, ist nicht die heutige Stadt. Vielmehr entwickelten sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Megatowns als Global Towns.(66) Ein Großteil der 'Stadtbevölkerung' der Welt lebt seit der Ende des 20. Jahrhunderts in diesen Global Towns.(67)

Erste Ansätze im größeren Stil zur Herausbildung solcher 'global towns' gab es bereits im 19. Jahrhundert. Metropolen wie London, Paris entstanden. Aber auch Städte wie Budapest, Prag, Triest machten eine stürmische Entwicklung durch, die stets durch Zuzug und damit durch Multikulturalität gekennzeichnet war.(68)

Die Gobal Towns von heute unterscheiden sich nicht nur in quantitativer Hinsicht. Neu sind die Mobilität (Zuzug nicht nur aus der Region, sondern der Welt), die Kommunikationsstrukturen, die grundsätzlichen Möglichkeiten zur Verteilung eines großen Reichtum und die Tatsache des vielfachen Elends. Der Traum von der Stadt wird in mehrerer Hinsicht zur Tatsache des Elends.

Das gilt nicht nur für Metropolen in Afrika, Asien oder Südamerika. Nach wie vor gibt es das Problem der Transformation von einer Agrargesellschaft zu einer Wissensgesellschaft auch in Europa. Und bis auf den Ausbau der 'Sicherheitskräfte' ist wenig in Sicht, das auf die Notwendigkeit dieser Transformation Bezug nimmt. Eine nachgezogene Industrialisierung wird kaum eine Alternative sein. Gerade in den Städten könnten die neuen kulturellen Möglichkeiten zur Wirklichkeit werden, was jedoch einiges an Transformation bedarf.

 

7. Gewalt und Entwicklung

Mehrfach wurde in den bisherigen Abschnitten auf die negative gesellschaftliche Bedeutung von Gewalt und Kriegen hingewiesen. Angesichts der Jahrtausende alten Erfahrungen sollte es selbstverständlich sein, dass die Folgen von Gewalt und Kriegen klar erkannt werden.

Dies ist aber in den gegenwärtigen Diskussionen keinesfalls so. Ob nun im kleinen Österreich oder in der großen Welt - Krieg wird von einigen Kreisen wiederum als nützlich und notwendig angesehen. Es ist, als würden die Figuren von Sophokles, Shakespeare, Karl Kraus, Jura Soyfer wieder auferstehen. Es ist daher sicherlich wichtig, gerade heute ganz allgemein (und nicht nur im Zusammenhang mit Nationalstaaten) auf diesen Punkt einzugehen. Dazu einige Thesen:

7.1. Die 'Blüte' Griechenlands war nicht eine Folge der Kriege, sondern des Handels, des Austausches, der Synthese verschiedener Kulturen. Seine Vielfalt (und somit deren Reichtum) entstand nicht durch Konservierung, sondern durch Ermöglichung, Synthese.

7.2. Der Sieg über das Römische Reich brachte den Siegern keine Bereicherung, sondern es dauerte Jahrhunderte, bis die Kenntnisse wenigstens zum Teil wiederentdeckt und genutzt werden konnten.

7.3. Der militärische Sieg der Mongolen vernichtete das gesellschaftliche Gedächtnis Jahrtausende alter Kulturen.

7.4. Der militärische Sieg der Reconquista in Spanien, aber ebenso anderer 'Siege' des Christentums brachte die Verarmung bzw. sogar AuslF6schung der regionalen Kulturen mit sich.

7.5. Die Gegenmacht, die Gegengewalt ist keine Alternative mit Perspektive. Als Defensive war und ist sie immer wieder notwendig. Aber sie öffnet keinen Weg in die Zukunft, sondern verursacht Deformationen.

Diese Beispiele lassen sich bis in die unmittelbare Gegenwart verlängern. Es gibt kein Beispiel von einer Entwicklung im Zusammenhang mit Krieg (Mathematik, Medizin, Technologie), die nicht sinnvoller im zivilen Bereich ermöglicht worden wäre. Und nach wie vor werden Unmengen an Rohstoffen, Intelligenz und Arbeitskraft damit vertan, Leid und Elend herbeizuführen.

Aber auch die sozialen Konflikte, die mit Waffengewalt ausgetragen wurden, brachten im 19. und 20. Jahrhundert nur Leid und Zerstörung. Die Richtung, in die für eine globale Zivilisierung gegangen werden muss, ist klar, das breite gesellschaftliche Interesse ist bekannt und die Gegner dieser Entwicklung haben Gesicht und Namen, aber nach wie vor auch Macht und Gewalt in Händen.

 

8. Regionen, Nationen, Transnationales

In der Diskussion um Krieg und Frieden spielt die Diskussion um Territorien dann eine entscheidende Rolle, wenn es um Rohstoffe und Produkte geht (früher Gewürze, Pflanzen, Stoffe, Schmuck - heute vor allem Erdöl und schon bald wahrscheinlich Wasser).

Die Diskussion um die Territorien ist daher weniger eine Diskussion um Geschichte und Kulturen, sondern vielmehr eine 'Diskussion' um Interessen. Dies schien im Post-Kolonialismus in den Hintergrund getreten zu sein. Handel und Finanzströme schienen wesentlicher. Nun werden im Zeichen des Krieges gegen den Terrorismus aber seit einiger Zeit auch wieder weltweit Kriege im Zeichen von 'Nationalstaaten' geführt. Dies ist eine bedrohliche Entwicklung, weil sie die Gewalt potenzieren wird und nach den Erfahrungen der letzten Jahre die Bedeutung des Besitzes von Massenvernichtungswaffen hebt. Die politischen Möglichkeiten transnationaler Politik wurden nicht genutzt.

Die Unfähigkeit, die Interessenskonflikte anders auszutragen als mit Waffen, die Durchsetzung von Interessen mit Aufrüstung zu verbinden, hat unweigerlich eine weitere Spirale der Aufrüstung in Gang gesetzt, die mit Waffengewalt nicht zu stoppen sein wird. Die Chancen, die sich aus einem jahrzehntelangen Diskussionsprozess und einer realen Abrüstung ergaben, scheinen global mittelfristig vertan zu sein, denn die Folgen von Gewalt können keinesfalls vom einen auf den anderen Tag 'vergessen' werden.

Dennoch haben sich die Bedingungen geändert. Die Chancen haben sich vergrF6DFert, die 'Zivilisierung' im Sinne von Norbert Elias zu erweitern. Dabei wird zu prüfen sein, ob der Übergang von den Nationen zu transnationalen Strukturen hilft, neue Kooperationen für Problemlösungen zu ermöglichen oder ob dies nur eine Illusion ist - wie im Falle der Nationalen als transregionale Strukturen.

 

9. Widerspruchsfeld Europa

Im Rahmen der europäischen Diskussion, die von den globalen Gewaltkonflikten nicht unberührt bleibt, zeigen sich dennoch Alternativen. Und diese Alternativen verlangen nach einer Berücksichtigung der Interessen von Menschen, die unter verschiedenen Gesichtspunkten zusammenleben.

Die Interessen gruppieren sich dabei nicht unbedingt nach Regionen oder Nationen bzw. nach einer transnationalen Union. Es gibt andere Interessen, die näher liegen. Im Zentrum dieser Interessen steht das Verlangen nach Arbeit, nach Kommunikationsfähigkeit, nach Mitgestaltung, nach Frieden.

Die bisherigen Strukturen sind Strukturen alter Mächte, die zum Teil über Jahrhunderte gewachsen sind. Sie müssen nicht unbedingt umgehend aufgehoben werden (schon gar nicht zu Gunsten einer zentralen Verwaltung). Wichtig aber ist, dass sich die Interessen nach Arbeit, kulturellem Reichtum, Gerechtigkeit grenzüberschreitend geltend machen und organisieren können.

Wesentlich ist dabei auch, dass die Berücksichtigung der Interessen nicht nur deklarativ geschieht, sondern dass reale Interessen zum Tragen gebracht werden. Zum Beispiel, in dem Tourismus für kulturelle Völkerverständigung eingesetzt wird. Und es ist wichtig, dass dabei sowohl der Reichtum der Sprachen gefördert wird als auch grenzüberschreitende Kommunikation möglich ist (was nur mit einer gemeinsamen Sprache erreicht werden kann).

Zentrales Element ist auch hier die Öffentlichkeit, der Zugang zu Informationen und die Möglichkeit, an Diskussionen teilzunehmen.

Gerade heute ergeben sich vielfältige Möglichkeiten, für soziale Interesse, für Gerechtigkeit und Frieden breite Kooperationen zu entwickeln und auch (via Internet) öffentlich zu machen. In der EU-Forschung (siehe 6. Forschungsrahmenprogramm) hat es in den letzten Jahren grundlegende Änderungen gegeben, aber auch die Kulturpolitik soll ihre Chancen erhalten, die bis heute hoffnungslos unterfinanziert ist. Das ist wichtig, weil sowohl für die Arbeit der Zukunft als auch für den Interessensausgleich die kulturelle Diskussion das Schlüsselelement ist. Transnationale Strukturen können sich daraus als Ergebnis entwickeln. Sie können sowohl alte (Macht-)Strukturen reproduzieren, als auch innovativ Neues ermöglichen. An sich sind transnationale Strukturen keineswegs produktiv, sondern können (wie der Nationalstaat) auch vom Friedensprojekt zum Machtprojekt degenerieren, sich als neues Machtzentrum in alter Politikform in Gegensatz zu anderen Mächten setzen - dies zum Schaden für die Arbeit und die Kultur.

Die Interessen der Menschen in Europa sind in diesem Zusammenhang völlig klar. Sie haben dies auch vielfältig artikuliert. Und es gibt auch eine Vielzahl von Ansätzen der Politik, ein neues Europa zu ermöglichen.

© Herbert Arlt (Wien)

(*) Erscheint in: Kultur als Fenster zu einem besseren Leben und Arbeiten. Festschrift für Rainer Noltenius. Hrsg. Volker Zaib/Fritz Hüser-Gesellschaft. Bielefeld (Aisthesis-Verlag) 2003.

 

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Anmerkungen

(1) Diktum aus der Bush-Administration im Jahre 2002.

(2) Der Begriff 'alter Kontinent' von Goethe für Europa war im 19. Jahrhundert allgemein bekannt. Vgl. zum Beispiel: Joseph Kehrein: Fremdwörterbuch mit etymologischen Erklärungen und zahlreichen Belegen aus deutschen Schriftstellern. Stuttgart: [1876], S. 356. Der Begriff 'Europa' kommt in diesem Wörterbuch aber noch nicht vor.

(3) Für Gesellschaften mit (partiell) mangelhaft ausgebildeter Öffentlichkeit gilt ganz allgemein, dass die Steuerung von Politik die wesentlichste Bedeutung hat. Dies gilt nicht nur für feudale Gesellschaften, sondern auch für die ehemalige DDR oder für alle Staaten mit ihren Geheimdiensten und ähnlichen Bereichen ohne Öffentlichkeit.

(4) Vgl. Europa 2000 (Broschüre des Europäischen Parlaments). Köln [1996]. S. 6.

(5) Die Diskussion um den Irakkrieg war zugleich eine Diskussion über Bündnisse. Die bevorstehende Gewalt hatte dies evoziert. Ganz wie zu Zeiten der feudalen Strukturen und durchaus nicht nach wirtschaftlichen oder aktuellen politischen Interessen entstanden Gruppierungen, die sich nicht nur für oder gegen den Krieg, sondern sich auch für oder gegen Staaten wandten. Die bevorstehende Gewalt brachte damit die alten 'Gespenster' zum Vorschein.

(6) vgl.: Elmar Altvater [u.a.]: Die Gewalt des Zusammenhangs. Neoliberalismus - Militarismus - Rechtsextremismus. Wien 2001.

(7) vgl. dazu: Reinhard Kühnl: Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten. Köln 1979.

(8) Ein trauriges Beispiel für die (transnationale und 'transdisziplinäre') Parteilichkeit von Wissenschaftern im Kontext sozialer Interessen ist das Inserat Jetzt handeln - für die Zukunft, das von Erich Streissler, aber auch von Physikern wie Anton Zeilinger oder Medizinern im Kontext der Durchsetzungsversuche der österreichischen Pensionskürzungen unterschrieben wurde. Der Standard 7./8./9.06.2003: S. 3. Oder ein anderes Beispiel von einem fragwürdigen Engagement eines Wissenschafters in Sachen Pensionsreform: Bernd Marin: Quick Fix - doch fix is' noch nix. Der Standard 10.06.2003: S. 31. Auch seine in der Öffentlichkeit in vielen Medien vorgebrachten Argumente stützen sich auf mathematische Modelle, die nicht Basis für eine kulturelle Diskussion sind, sondern mathematische Größen (gerade auch bei Zeitvorstellungen) werden zu 'reinen' Größen.

(9) Die Sozialdemokratie ist gerade auch als Kulturbewegung groß geworden und hat in früheren Zeiten die Emanzipationsbewegungen, aber auch die Integration befördert. Vgl. zum Beispiel: Dieter Groh: Emanzipation und Integration. Beiträge zur Sozial- und Politikgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung und des 2. Reiches. Konstanz 1999. Heute weist sie grenzüberschreitend in den zentralen Fragen keine klaren grundlegenden Konzeptionen aus bzw. werden keine solchen in der Öffentlichkeit vermittelt. Eine Transformation der Gesellschaft auf der Basis der heutigen kulturellen Prozesse wäre aber ihre große Chance im 21. Jahrhundert.

(10) vgl.: Der Vater aller Dinge. Nachdenken über den Krieg. Hg. Konrad Paul Liessmann. Wien: 2001. Ihm ist damit nach Grillparzer, Kraus, Soyfer, Qualtinger, Bachmann (um nur einige wenige aufzuzählen) ein Tabu-Bruch gelungen, der sich durchaus in seine Beiträge zur 'Wende' im Jahre 2000 in Österreich einreiht.

(11) Die Vorstellung von der Gewalt als Geburtshelferin der Geschichte geht zum Beispiel auf Marx zurück. Das 19. und das 20. Jahrhundert haben gezeigt, welches die Ergebnisse sind. Dass nun Vertreter der Bush-Administration und deren Umfeld diese These aufgegriffen haben, ist kein Zufall. Und das sich nun wiederholende Scheitern, an dem viele zu leiden haben, ist bereits jetzt evident.

(12) In diesem Zusammenhang geht es nicht darum - wie etwa im Zusammenhang mit der Diskussion, ob der Begriff Religion in eine europäische Verfassung gehört -, etwas festzuschreiben, was gesellschaftlich nicht den Tatsachen entspricht (oder nur den Tatsachen für eine oder mehrere Gruppe(n)). Es geht um strukturelle Elemente, die das Leben aller Menschen in Europa mehr oder weniger bestimmen.

(13) vgl. dazu: Herbert Arlt: Culture, Civilisation, and Human Society. Dies ist der Beitrag 6.23. im Rahmen des EOLSS-Projektes. S. auch www.eolss.net/eolss/eolss_order.asp (alle Abfragen für diesen Beitrag vom 10.6.2003).

(14) vgl. dazu: Ruth Groh/Dieter Groh: Weltbild und Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Natur. Frankfurt/M. 1991.

(15) John Desmond Bernal hat in seinem beeindruckenden Werk zur Geschichte der Wissenschaft (Reinbek bei Hamburg 1970, 4 Bände) Wissenschaft nicht als Teil kultureller Prozesse, sondern als gesellschaftliches Phänomen verstanden. Der Begriff 'Gesellschaft' ist wesentlich enger als der hier verwendete Kulturbegriff (siehe dazu Abschnitt 1. in diesem Beitrag). Deshalb ist es auch nicht richtig zu vermuten, dass der Begriff 'Gesellschaft' nun bloß durch den Begriff 'Kultur' ersetzt worden sei. Der Begriff 'Gesellschaft' umfasste nur einen spezifischen Teil dessen, was mit dem Begriff 'Kultur' ausgedrückt werden kann. Vgl. dazu: Anil Bhatti: Internationalisierung der Kulturwissenschaften und Perspektivenwechsel in der Forschung. www.inst.at/studies/.

(16) vgl. z.B.: Jack Goody: Entre l'oralité et l'E9criture. Paris&nbsp1994. Seine vielfältigen Forschungen zeigen, wie einschneidend dieser Übergang ist und dass die schriftlich dargelegte nicht mit der mündlichen dargelegten Erkenntnis übereinstimmt.

(17) Wissenschaftliches Denken lässt eine Hierarchisierung des Wissens nicht zu und auch keine zeitlich bedingten Hierarchisierungen. Die abwertenden Etikettierungen wie 'Steinzeit', 'Mittelalter' sind vielmehr Ablehnungen alter Mächte. Siehe dazu den Schwerpunkt Mythos und Realität . Jura Soyfer. Internationale Zeitschrift für Kulturwissenschaften. 11 2002, Nr. 1. Das Inhaltsverzeichnis s. auch: www.soyfer.at/zs/02_1.htm.

(18) Es gibt auch die umgekehrte Abwertung, der mit der Ausstellung 'L'art de l'ingénieur' entgegengewirkt werden sollte. Der 'Katalog' zur Ausstellung: Antoine Picon (Direction): L'art de l'ingénieur. Constructeur, Entrepreneur, Inventeur. Paris&nbsp1997. Oder: Charlotte Fiell/Peter Fiell: Industrial Design A-Z. Köln 2000. S. 6: "For over 200 years, the products of mechanized industrial production have shaped our material culture, influenced world economics and affected the quality of our environment and daily lives."

(19) vgl. dazu: Literatur/Lektüre/Literarität. Vom Umgang mit Lesen und Schreiben. Hg. Gitta Stagl/Johann Dvorak/Manfred Jochum. Wien 1991.

(20) Dazu gibt es zum Beispiel von Umberto Eco eine Vielzahl von Schriften: Die Grenzen der Interpretation (München 1992), Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen. 1999), Die Suche nach der vollkommenen Sprache (München 2000), Kant und das Schnabeltier (München 2000). Aber auch in seinen Romanen setzt er sich in vielfältiger Weise gerade mit Sprache und Interpretation auseinander.

(21) vgl: Jorge Bauer: "Technologie und Zeit". TRANS 14. www.inst.at/trans.

(22) vgl. zu den Begriffen, aber auch zur Entwicklung: Derek J. de Solla Price: Little Science, big science and beyond. New York 1986.

(23) Das wurde zum Teil aber auch durch eine entsprechende Politik bewirkt. Hier hätte aber eine Diskussion anzusetzen und nicht in Quantitäten (z.B. der Publikationen, Veranstaltungen usw.).

(24) Im unmittelbaren Zusammenhang mit Kultur und Öffentlichkeit, der in diesem Beitrag besonders hervorgehoben wird, vgl.: Michael Kausch: Kulturindustrie und Populärkultur. Frankfurt/M. 1988.

(25) Neil Postman: Technopoly. The Surrender of Culture to Technology. New York 1993.

(26) vgl. zum Begriff 'Wissensgesellschaft' (S. 26.ff) auch: Kulturwissenschaft - transdisziplinär, transnational, online. Hg.: Herbert Arlt. St. Ingbert 22001.

(27) Leslie Bodi hat in diesem Zusammenhang den engen Zusammenhang von Literatur, Öffentlichkeit, Modernisierung für das 18. Jahrhundert herausgearbeitet. Tauwetter in Wien. Frankfurt/M. 1977.

(28) Typisch ist der Versuch, zum Bespiel Religion in der Verfassung verankern zu wollen, seine Vorstellungen von Sexualität mittels Strafverfolgung durchzusetzen, die Möglichkeiten von Künsten, Wissenschaften und Forschungen einzuschränken.

(29) vgl. zur Verstädterung: Globale Trends 2002. Hg. Ingomar Hauchler/Dirk Messner/Franz Nuscheler. Frankfurt/M. 2001.

(30) Die Grundargumentation für den Einsatz basiert auf Quantität und Preis. Wie in allen anderen Fällen werden Risiken klein geredet. Andere Ansätze sind zum Beispiel enthalten in Kultur und Technik im 21. Jahrhundert. Hg. Gert Kaiser/Dirk Matejovski/Jutta Fedrowitz. Frankfurt/M. 1993 oder Neorworlds. Gehirn - Geist - Kultur. Hg Jutta Fedrowitz/Dirk Matejovski/Gert Kaiser. Frankfurt/M. 1994.

(31) Leslie Bodi: Literatur, Politik, Identität - Literature, Politics, Cultural Identity. St. Ingbert 2002; vgl. auch Anm. 27.

(32) Ein spannendes Beispiel in dieser Richtung ist das Buch Der Alpentourismus. Entwicklungspotenziale im Spannungsfeld von Kultur, Ökonomie und Ökologie. Hg. Kurt Luger/Franz Rest. Innsbruck 2002.

(33) vgl. Globale Trends. (s. Anm. 29). S. 73ff.

(34) Für die Selbstzerstörung im Angesicht des 'Feindes' verwendet Heiner Müller das Bild vom 'schwarzen Spiegel'.

(35) Amartya Sen findet in seinen Analysen weltweit Strukturen, die auf unterschiedliche Formen von Marktwirtschaft anwendbar sind und Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft ermöglichen sollen. Siehe Amartya Sen: D6konomie für den Menschen. München 2002.

(36) vgl. z.B. ebd. S. 27ff.

(37) Ulf Birbaumer: "Hilfe, das Volk kommt! Einige Anmerkungen zur theatralen Populärkultur". Jura Soyfer. Internationale Zeitschrift für Kulturwissenschaften. 10 (2001): S. 3ff.

(38) Zum komplexen Widerspruchsfeld: Our Creative Diversity. Report of the World Commission on Culture and Development. [Paris] 1995.

(39) Dass diese Erkenntnis sich durchsetzt, zeigt sich auch an den geänderten Förderungsprogrammen der EU.

(40) Globale Trends. (s. Anm. 29). S. 49ff.

(41) Zur Bedeutung der Vielsprachigkeit in heutigen kulturellen Prozessen vgl. TRANS 13. www.inst.at/trans/13Nr/inhalt13.htm.

(42) Eine exakte Darstellung von Herrschaft durch Instrumentalisierung der Sprache ist: Victor Klemperer: Notizbuch eines Philologen. Berlin 1947.

(43) Eine These, die von Marshall McLuhan in dem multimedialen Buch The Medium is the Message (1967) anschaulich vertreten wird.

(44) Jochen Hörisch: Der Sinn und die Sinne. Eine Geschichte der Medien. Frankfurt/M. 2001.

(45) Karl H. Müller: Symbole, Statistik, Computer, Design. Otto Neuraths Bildpädagogik im Computerzeitalter. Wien 1991.

(46) Ursula Hentschläger/Zelko Wiener: Webdramaturgie. Das audio-visuelle Gesamtereignis. München 2002.

(47) Ein Begriff von Marshall McLuhan, vgl. Anm. 43.

(48) Schon früh erschienen grundlegende Bücher zu maßgeblichen Trends. Vgl. z.B.: Peter Fleissner: Technologie und Arbeitswelt. Trends bis zur Jahrtausendwende. Wien 1987. Bd. 1-4. Ausgespart bleiben hier die kulturellen Implikationen. Nicht anders ist es aber heute zum Beispiel in verschiedenen Bereichen der Telekommunikation, des Computers.

(49) vgl. Leslie Bodi. (s. Anm. 31).

(50) Ein Beispiel für Bildung als kanonisierte 'Information' ist: Dietrich Schwanitz: Bildung. Alles, was man wissen muss. München 2002.

(51) Paco Asensio: Häuser der Welt. Köln 2000.

(52) Hobson-Jobson: The Anglo-Indian Dictionary. Hertfordshire 1996.

(53) Elias Canetti: Masse und Macht. Frankfurt/M. 1980. S. 43.

(54) vgl. zum Beispiel dazu die Beiträge von Otto Kronsteiner u.a.: Die Berge der Umgebung. Realität und Virtualität der Berge. Hg. Herbert Arlt. St. Ingbert 2002.

(55) Salman Rushdie: Imaginary Homelands. Essays and Criticism 1981-1991. London 1991.

(56) Die Marginalisierung spiegelt sich hervorragend in dem Stück Die Minderleister von Peter Turrini (Wien 1988) wieder.

(57) Zur 'Arbeit' heute vergleiche das Schwerpunktheft: Jura Soyfer. Internationale Zeitschrift für Kulturwissenschaften. 10 (2001). Nr. 3 mit BeitrE4gen von Rainer Noltenius, Alfred Grausgruber u.a.

(58) Jürgen Habermas spricht zum Beispiel in einem Vorwort zum berühmten Buch Strukturwandel der Öffentlichkeit (Frankfurt/M. 1990) von einer 'Fernsehrevolution' in Osteuropa. Tatsächlich waren aber andere Öffentlichkeitsstrukturen wesentlich wirksamer.

(59) In Visions for Europe (Wien 2002) fehlt der kulturelle Ansatz fast vollständig. Im Vordergrund stehen Sicherheit und politische Strukturen.

(60) Ausnahmen sind Bücher wie von Gernot Heiß u.a.: Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938-1945. Wien 1989.

(61) Ein zentraler Begriff in Canettis Masse und Macht. (s. Anm. 53).

(62) David Simo: Kultur und 'Entsprechungen' in der Sprache ghom'ala.. Im Internet siehe unter www.inst.at/ausstellung/enzy/kultur/ghomala_simo.htm.

(63) Zum Begriff 'Steinzeit' wird zum Beispiel in folgendem Buch eine völlig andere Position eingenommen: RuthGroh/Dieter Groh: Weltbild. (s. Anm. 14). Das entspricht auch den Forschungsergebnissen der Anthropologie und anderer Disziplinen.

(64) Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Frankfurt/M. 1986.

(65) s. dazu die Beiträge zum Begriff 'Kultur' in der Enzyklopädie vielsprachiger Kulturwissenschaft. www.inst.at/ausstellung/enzy/kultur/kultur.htm.

(66) Dramatik, 'Global Towns', Jura Soyfer. Hg. Herbert Arlt. St. Ingbert 2000.

(67) Globale Trends. (s. Anm. 29). S.93.

(68) Ein Beispiel einer solchen Entwicklung ist: Boris M. Gombac: Trieste - Trst. Zwei Namen, eine Identität: Spaziergang durch die Historiographie der Stadt Triest 1719-1980. St. Ingbert 2002. Die Besonderheit ist die Reflexion der Rolle der Geschichtswissenschaften.


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