Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 12. Nr. Januar 2002

Tourismus, Kulturaustausch, Kulturseminare (1)

Peter Horn (Kapstadt/Berlin)
[BIO]

 

In The $30000 Bequest läßt Mark Twain die Bewohner der amerikanischen Stadt Elmira den Plan fassen, dem ersten Menschen, Adam, ein Monument zu errichten, das einzige auf dem gesamten Planeten, um zu verhüten, daß der Urvater der Menschheit wegen Darwins Evolutionstheorie vergessen wird. Es soll, was das Interesse und den Eindruck angeht, niemals einen Rivalen haben, es sei denn, daß jemand auf die Idee käme, der Milchstraße ein Denkmal zu setzten. Und, so träumen die Einwohner von Elmira, es würde Touristen in großer Zahl anziehen.(2)

Die Idee, Touristen mit Kultur in die eigene Stadt zu locken, ist also nicht sonderlich neu. Auch die Erkenntnis nicht, daß erst, wer aus seiner eigenen Stadt herauskommt, sein eigenes Land verläßt, sich auf Reisen in andere Kontinente einläßt, in der Lage ist, seine begrenzte Innensicht zu erweitern, und auch sein Zuhause richtig einzuschätzen. So steht er dann wie Voltaires Kandid staunend und "mit offenem Munde" in Eldorado und meint:

Hier geht es doch ganz anders zu, als in Westfalen und in dem Schlosse des Freiherrn. Hätte unser Freund Pangloß Eldorado gesehen, so würde er nicht länger behauptet haben, etwas Besseres, als das Schloß Thundertentronckh gebe es auf Erden nicht. Man muß reisen; das ist ausgemacht.(3)

Reisen, also Tourismus, meint Voltaire, erweitere den Horizont über Thundertentronck hinaus, zeige einem jenseits der eigenen Enge andere Sitten, andere Kulturen, andere Möglichkeiten zu leben. Die Beschränktheit dessen, der aus seinem kleinen Dorf nie herausgekommen ist, wird für Rousseau zum Zeichen von Zurückgebliebenheit: "Für einen Mann von guter Erziehung" so zeigt sich, ist es nicht ausreichend, nur seine Landsleute zu kennen. Es ist "für ihn von Wichtigkeit, sich allgemeine Menschenkenntnis zu erwerben". Und er folgert daher:

Für mich gilt es als eine ausgemachte Wahrheit, daß derjenige, welcher nur einem Volke bekannt ist, nicht Menschen im allgemeinen, sondern nur die Leute kennt, unter denen er gelebt hat.(4)

Die Reisebeschreibung ist eine Literaturgattung, die auch jenen, die sich Reisen nicht leisten konnten, zumindest die Ergebnisse der Reisen anderer nahebringen soll. Aber selbst die beste Reisebeschreibung - und das gilt auch für die modernen Formen der Reisebeschreibung, Diavortrag und Fernsehserie - kann die eigene Erfahrung nicht ersetzen. So beschwerte sich schon Descartes über schlechte Reisebeschreibungen:

Als ich das wenige, welches mir selbst zu beobachten möglich war, mit dem verglich, was ich gelesen hatte, hörte ich schließlich auf, mich ferner um Reisebeschreibung zu bekümmern, und bedauerte aufrichtig die Zeit, die ich zu meiner Belehrung auf ihre Lektüre verwandt hatte, da ich der festen Ueberzeugung war, daß, will man Beobachtungen irgendwelcher Art machen, man nicht lesen, sondern sehen muß.(5)

"Nicht lesen, sondern sehen" - Descartes begriff, daß man solides Wissen nicht aus zweiter Hand, sondern nur aus eigener Beobachtung erwerben könne:

Ich verlangte nur noch nach der Wissenschaft, die ich in mir selbst oder in dem grossen Buche der Natur finden würde, und benutzte den Rest meiner Jugend zu Reisen.(6)

Die Frage bleibt, warum im Zeitalter der Simultaninformation über Satellit, der Breitwandleinwand und der CineMax, des Fernsehers in jeder Stube und des Internet ein anderes Reisen als das virtuelle überhaupt notwendig ist. Aus den gleichen Gründen. Auch multimediale Reiseberichte sind nicht unbedingt zuverlässiger als geschriebene oder gedruckte. Die meisten Beschreibungen anderer Länder sind auch heute noch weder tiefschürfend noch oft einfach richtig, aber, so Rousseau:

Selbst wenn alle Reisenden aufrichtig wären, wenn sie nichts berichteten, als was sie mit eigenen Augen gesehen oder was sie für vollkommen wahr halten, und wenn sie die Wahrheit nur in den falschen Farben wiedergäben, welche dieselbe in ihrer Augen annimmt, selbst dann schon hätte meine obige Behauptung ihrer vollen Grund; um wie viel mehr aber erst, wenn man die Wahrheit noch aus ihren Lügen und absichtlichen Verdrehungen [herauslesen] muß.(7)

Bloß zu reisen, allerdings, merkt Descartes an, genügt nicht, und darum taugen auch die meisten Reisebeschreibungen wenig. Wer aus seinen eigenen Reisen oder den Beschreibungen anderer Nutzen gewinnen möchte, muß eben auf das achten, was nicht bereits Cliché ist. Die meisten Reisenden aber benutzen ihre Reise um das zu sehen, was alle sich ansehen, wenn sie nicht gar das Reisen ganz einfach zur bloßen Unterhaltung gebrauchen:

Aber erstaunlicherweise vergnügen sich die Menschen, während so viel Nützliches zu tun bleibt, fast immer nur mit dem, was schon getan ist, oder mit bloßem Unnützlichem oder wenigstens mit dem, was am unbedeutendsten ist. (8)

Kein Wunder also, daß es neben jenen, die dem Reisen Bildungswert zuschrieben, immer auch jene gab, die Reisen für verderblich hielten. So meint etwa derselbe Descartes:

Verwendet man aber zu viel Zeit auf das Reisen, so wird man zuletzt in seinem eigenen Vaterlande fremd, und bekümmert man sich zu sehr um das, was in vergangenen Jahrhunderten geschehen, so bleibt man meist sehr unwissend in dem, was in dem gegenwärtigen vorgeht.(9)

Noch schärfer verurteilt Pascal das Reisen als bloße Neugierde und Mode:

Die Neugierde ist nichts als Eitelkeit. Meistentheils will man nur wissen um davon zu sprechen. Man würde nicht eine Reise machen übers Meer um nie davon zu reden, einzig aus Vergnügen zu sehen, ohne Hoffnung sich je mit einem Menschen darüber zu unterhalten.(10)

Andererseits meint Rousseau:

Daraus aber, daß wir gewöhnlich ohne Vorteil reisen, nun schließen wollen, daß die Reisen überhaupt unnütz seien, hieße einen Trugschluß machen.(11)

Allerdings: "Wenn die Reisen als ein Teil der Erziehung gelten sollen, müssen sie ebenfalls an besondere Regeln geknüpft sein. Reisen, nur um zu reisen, heißt umherschweifen, heißt sich umhertreiben."(12)

Denn:

Ein oberflächliches Durchstreifen der Länder reicht nun aber zur Belehrung noch nicht hin; man muß zu reisen verstehen. Zum Beobachten muß man Augen haben und sie auf den Gegenstand richten, welchen man kennen zu lernen wünscht. Viele Leute lernen auf ihren Reisen noch weniger als aus ihren Büchern, weil ihnen die Kunst zu denken fremd ist, und weil bei der Lektüre ihr Geist wenigstens der Leitung des Schriftstellers folgt, während es ihnen auf ihren Reisen an der Fähigkeit fehlt, selbst Beobachtungen anzustellen. Andere unterrichten sich einfach deshalb nicht, weil sie nicht Lust haben, sich zu unterrichten.(13)

Heute, im Zeitalter des Massentourismus, gibt es mehr und mehr Menschen, die von einem Urlaub in einem fremden Land und einem fremden Kontinent mehr erwarten als bloß schöne Strände, Sonne und Meer und ein Luxushotel. Man sucht ganz gezielt eben das, was man zu Hause nicht findet, sei es die fremde Natur in verschiedenen Formen des Öko-Tourismus, sei es die fremde Kultur. Damit werden aber Einrichtungen und Menschen gefragt, die über ihre Tourismus-Erfahrung hinaus Spezialkenntnisse, sei es in der Ökologie der Region oder der Kultur des Landes haben, und die in der Lage sind, diese Informationen den Touristen auch so zu vermitteln, daß diese tatsächlich mit dem Gefühl nach Hause gehen, zumindest eine repräsentative Auswahl der Erscheinungen kennengelernt zu haben, die für das fremde Land charakteristisch sind. Bei aller Vielfalt, die sich bei einer solchen Begegnung mit einem fremden Land zwangsläufig vermittelt, sollten doch klare Schwerpunkte gesetzt werden und so ein scharf umrissenes Bild entstehen.

Kultur ist immer auch durch Geschichte geprägt. Die kulturellen Verhaltensweisen der heutigen Bewohner der Kapprovinz in Südafrika zum Beispiel kann man nicht verstehen, ohne zu wissen, daß es einerseits Zeugen einer kontinuierlichen Besiedlung Südafrikas seit mehr als 3 Millionen Jahren gibt, und daß gerade im Kap die ältesten Fußstapfen eines "modernen" Menschen bei Saldanha gefunden wurden. Sie sind 115 000 Jahre alt. Die KhoiSan, in Deutschland auch als "Buschmänner" bekannt, lassen sich seit 40 000 Jahren in der Kapprovinz nachweisen, ihre ersten Kulturzeugnisse, vor allem ihre Malerei, sind älter als 28 000 Jahre. Heute ist von dieser Kultur fast nichts mehr vorhanden als eine ziemlich zweifelhafte Touristenshow auf einer Farm nördlich von Kapstadt, und die charakteristischen Klick-Konsonanten der KhoiSan [Buschmann-] und KhoiKhoi [Hottentottensprachen], die als nomadische Viehhirten etwa vor 2000 Jahren in südwestliche Afrika kamen, sind beinahe völlig ausgestorben und leben nur noch als Reste in einigen Bantusprachen (Xhosa und Zulu) weiter.

Solche Informationen sind nun aber in einem Kulturseminar nicht als trockene Geschichte, sondern, das macht den Reiz eines solchen Seminars aus, anhand der authentischen Artefakte und Dokumente vorzustellen.

Kulturseminare erlauben auch, die inneren Spannungen und Widersprüche einer Kultur zu Worte kommen zu lassen, sowohl die, die zwischen verschiedenen sozialen oder kulturell geprägten Gruppen in einem Lande bestehen, als auch Widersprüche im Gefüge der Kultur zwischen Wissen, Erkenntnis, Ethik und Ästhetik. Bei einem Besuch in Kapstadt bietet sich zum Beispiel an, nicht nur die Widersprüche zwischen Weiß und Schwarz, sondern auch die, die durch die Geschichte der Ausrottung und Versklavung der KhoiSan und KhoiKhoi entstanden sind, oder die, die durch die Geschichte der Sklaverei bis heute noch fortwirken.

Die Geschichte Kapstadts ist aber auch direkt Teil zum Beispiel einer europäischen Geschichte der sogenannten Entdeckungen, und Besucher aus Europa erfahren sich hier als Nachfahren einer Entwicklung, durch die fünf Jahrhunderte lang die sogenannte Dritte Welt, meist gegen deren Willen, kolonisiert, "zivilisiert" und unterdrückt wurde: Bartolomeo Diaz umrundet 1487 das "Kap der Stürme"; Vasco da Gama im Jahre 1497, Saldanha landet 1503 in der Tafelbucht, die er "Saldanha Bucht" nennt, und besteigt Tafelberg; Sir Francis Drake umrundet 1580 sein "Fairest Cape". Im Jahre 1605 landet die Vereenigde Oostindische Compagnie zum erstenmal in der Tafelbucht, und am 6.April 1652 kommt van Riebeeck an Land, um hier einer Versorgungsstation zu gründen, den ersten bescheidenen Anfang einer Besiedlung durch Weiße, aber schon der Ursprung der Konflikte, die in Südafrika bis heute nicht ganz gelöst sind.

In einer solchen Situation kann und sollte eigentlich dann das eintreten, was eigentlich der Zweck solcher interkultureller Begegnungen sein sollte: das uns Selbstverständliche, das was unseren eigenen Zwecksetzungen unausgesprochen zugrundeliegt, wird erkannt, als das, was zwar im Kommunikationszusammenhang der eigenen Kultur fraglos funktioniert, aber nicht im Zusammenhang einer anderen Kultur. Jede Gesellschaft ist im Wesentlichen ein selbstreferentielles, mit Kommunikation auf Kommunikation hinweisendes System, mit dem eine Gesellschaft über sich selbst kommunizieren kann.(14) Über dieses selbstreferentielle System hinauszuspringen, ist seinerseits wieder nur durch Kommunikation möglich, allerdings einer, die das Unausgesprochene zum Sprechen bringt, die das nur Mitgedachte offen formuliert.

Man erfährt, daß die eigene Art und Weise seine Suppe zu kochen nicht die einzig mögliche ist, ebenso wie die eigene Art zu denken und zu urteilen. Man entdeckt, wie Descartes, daß auch andere Menschen Menschen sind:

Ich bemerkte ferner auf meinen Reisen, dass selbst die, welche in ihren Ansichten von den meinigen ganz abwichen, deshalb noch keine Barbaren oder Wilde waren, sondern oft ihren Verstand ebensogut oder besser als ich gebrauchen konnten.(15)

© Peter Horn (Kapstadt/Berlin)

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ANMERKUNGEN

(1) Dieser Vortragstext basiert z.T. auf folgender Publikation: Anette und Peter Horn: Tourismus, Kulturaustausch, (Kultur-)Politik. In: Jura Soyfer. Internationale Zeitschrift für Kulturwissenschaften. 9.Jg./Nr.1/2000. S.16-19.

(2) Twain, Mark: The $30000 Bequest. In: Classic Library 500 (CD-ROM). Kaarst: bhv Verlag, 1988.

(3) [Voltaire, d.i. Francois-Marie Arouet]: Kandid oder die beste Welt. Von Voltaire. Deutsch mit Einleitung und Anmerkungen von A. Ellissen. Leipzig: Otto Wigand, 1844, S. 103.

(4) Rousseau, Jean-Jacques: Emil oder Über die Erziehung. Frei aus dem Französischen übersetzt von Hermann Denhardt. Neue Ausgabe, Band 1 und 2, Leipzig: Philipp Reclam jun., o. J. Bd. 2, S. 529.

(5) Rousseau: Emil, Bd. 2, a.a.O., S. 528.

(6) Descartes, René: Abhandlung über die Methode, richtig zu denken und Wahrheit in den Wissenschaften zu suchen, René Descartes' philosophische Werke. Übersetzt, erläutert und mit einer Lebensbeschreibung des Descartes versehen von J. H. von Kirchmann, Abteilung I-III, Berlin: L. Heimann, 1870 (Philosophische Bibliothek, Bd. 25/26). Abt. 1, S. 25.

(7) Rousseau: Emil, a.a.O., Bd. 2, S. 528.

(8) Descartes: Abhandlung über die Methode, a.a.O., Abt. 1, S. 30.

(9) Descartes: Abhandlung über die Methode, a.a.O., Abt. 1, S. 23-24

(10) [Pascal, Blaise:] Pascal's Gedanken über die Religion und einige andere Gegenstände. Aus dem Französischen übersetzt von Karl Adolf Blech. Mit einem Vorwort von August Neander, Berlin: Wilhelm Besser, 1840. , S. 129.

(11) Rousseau: Emil, a.a.O., Bd. 2, S. 536.

(12) Rousseau: Emil, a.a.O., Bd. 2, S. 530.

(13) Rousseau: Emil, a.a.O., Bd. 2, S. 530.

(14) Luhmann Niklas: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993: Bd. 2 S. 16.

(15) Descartes: Abhandlung über die Methode, richtig zu denken und Wahrheit in den Wissenschaften zu suchen. A.a.O., Abt. 1, S. 30.


Zitierempfehlung:
Peter Horn: Tourismus, Kulturaustausch, Kulturseminare. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. Nr. 12/2002. WWW: http://www.inst.at/trans/12Nr/phorn12.htm.

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