Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 14. Nr. Dezember 2002

Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der Aufklärung:
La Mettrie´s l´homme machine und der pietistische Gefühlskult

Anette Horn (Kapstadt)
[BIO]

 

In Die Ordnung der Dinge untersucht Foucault die Regeln und Gesetzmäßigkeiten, welche zu einer bestimmten Zeit ein epistemologisches Feld konstituieren. Im Gegensatz zu einer traditionellen Ideengeschichte, die mit den scheinbar objektiven Kriterien der Wahrheit und des Fortschritts der Wissenschaft operiert, beschreibt er seine Methode als eine archäologische: "Was wir an den Tag bringen wollen, ist das epistomologische Feld, die episteme, in der die Erkenntnisse, außerhalb jedes auf ihren rationalen Wert oder ihre objektiven Formen bezogenen Kriteriums betrachtet, ihre Positivität eingraben und so eine Geschichte manifestieren, die nicht die ihrer wachsenden Perfektion, sondern eher die der Bedingungen ist, durch die sie möglich werden. In diesem Bericht muß das erscheinen, was im Raum der Gelehrsamkeit die Konfigurationen sind, die den verschiedenen Formen der empirischen Erkenntnis Raum gegeben haben. Eher als um eine Geschichte im traditionellen Sinne des Wortes handelt es sich um eine 'Archäologie'."(1)

Daraus folgt die Diskontinuität der Geschichte, die durch Umschichtungen und Brüche analog geologischer Prozesse markiert ist. Er führt das anhand der zwei großen epistemologischen Brüche in den Humanwissenschaften im 17. und 19. Jahrhundert aus: "Nun hat aber diese archäologische Untersuchung zwei große Diskontinuitäten in der episteme der abendländischen Kultur freigelegt, die, die das klassische Zeitalter in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts einleitet, und die, die am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts die Schwelle unserer modernen Epoche bezeichnet. Die Ordnung, auf deren Hintergrund wir denken, hat nicht die gleiche Seinsweise wie die der Klassik."(2)

Eine weitere Folge dieser Archäologie des Wissens ist, daß es keine große umfassende Geschichtsschreibung mehr geben kann, die sogenannten grand récits, sondern nur noch mikrologische Beschreibungen von lokalen Ereignissen mit scharfumrissenen zeitlichen Grenzen.

Die alten Diskurse verschwinden jedoch nicht einfach, sondern können als Gegenbewegungen zu den dominanten Diskursen zu jeder Zeit wiederaufgegriffen und umfunktioniert werden. Es handelt sich um ein Wechselspiel zwischen gesellschaftlichen und historischen Faktoren und der Vielfalt der individuellen Reaktionen auf sie: "Diese Schichtungen und Spannungen mit ihren Übergängen sind es, die dem Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland die ungewöhnliche Trächtigkeit und Vielfalt des Nebeneinanders innerhalb seines geistigen und literarischen Lebens sicherten."(3) Wenn man Kants Philosophie, die diesen Bruch einleitete und theoretisch begründete, im Kontext des englischen Empirismus und der rousseauistischen Philosophie sieht, könnte man diese Perspektive auf Europa ausweiten. Das gilt als Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und macht die Komplexität einer Epoche wie z.B. der Aufklärung aus, die hier näher untersucht werden soll.

Die ungleichzeitigen episteme im Sinne Foucaults des l'homme machine des französischen Materialismus La Mettries, Helvetius' und Holbachs und des pietistischen Gefühlskults Hamanns, Klopstocks und Herders prägten gleichzeitig die Aufklärung. Der Pietismus kann einerseits als Reaktion auf das moralische Vakuum des Materialismus verstanden werden, der die Seele als Teil der Körpermaschine betrachtete und damit Gott den Platz in der Schöpfungsgeschichte streitig machte und andererseits auf den dogmatischen Glauben der Kirche in einem absolutistischen Staat, der sich in starren Ritualen äußerte.

Als radikale Antwort auf das Descartsche Problem des Verhältnisses von Körper und Seele, das sogenannte commercium mentis et corporis, steht das Modell des l'homme machine des Materialismus von La Mettrie, Helvetius und Holbach. Descartes trennte den Körper noch scharf von der Seele, die er allein der Rationalität und damit der Freiheit für fähig erachtete. Nur den Körper definierte er wie beim Tier als Maschine. Er postulierte somit keinen direkten Einfluß des Körpers auf Geist und Seele. La Mettrie scheint diesen Unterschied zwischen Körper und Seele aufheben zu wollen, indem er die Seele als Teil der körperlichen Maschine begreift.(4) Liest man seine Schrift jedoch genauer, ergibt sich keine so klare Abgrenzung von Descartes, dessen Rationalismus er als Voraussetzung seiner eigenen Theorie durchaus würdigt. Auch distanziert er sich von einer allzu raschen Identifikation mit den Atheisten. So sieht er den Menschen und die Seele als Teil der Natur an, in der sich ein höheres Wesen oder Gott offenbare. Diese Offenbarung sei jedoch durch die Vernunft verständlich. Die Seele begreift er als Triebfeder, die eine komplexe Maschine in Bewegung setzt: "Bedarf es noch mehr, [...] um zu erweisen, dass der Mensch nur ein Thier ist, oder eine Vereinigung von Triebfedern, welche sich durch gegenseitigen Einfluss verstärken, ohne dass man sagen kann, auf welchem Punkte des menschlichen Kreises die Natur angefangen hat. Wenn diese Triebfedern von einander abweichen, so geschieht dies nur nach Maassgabe der Körperstelle und vermöge einiger Abstufungen ihrer Kraftverhältnisse, und niemals vermöge der Verschiedenheit ihres eigentlichen Wesens; und folglich ist die Seele nur ein Bewegungsprincip, oder ein empfindlicher materieller Theil des Gehirns, den man, ohne einen Irrthum zu fürchten, von dem Gesichtspunkte betrachten darf, dass er eine Haupttriebfeder des ganzen Maschinenwerks ist, welche einen sichtlichen Einfluss auf alle anderen zu üben und sogar zuerst geschaffen worden zu sein scheint; so dass also alle anderen von ihr nur ein Ausfluss wären, wie man aus einigen Beobachtungen, welche ich bringen werde und welche an verschiedenen Embryonen gemacht worden sind, ersehen wird."(5)

La Mettrie benutzt das mechanistische Modell der Uhr, um den menschlichen Körper und die Seele zu beschreiben: "Der Körper ist nur eine Uhr, und der frische Chylus der Uhrmacher. Die erste Sorge der Natur, wenn er ins Blut tritt, ist die Erregung einer Art Fieber, welches die Chemiker, welche nur von Oefen träumen, für eine Gährung halten mussten. Dieses Fieber ruft eine grössere Klärung der Lebensgeister hervor, die maschinenmässig die Muskeln und das Herz, als ob sie auf Befehl des Willens zu ihnen geschickt worden wären, beleben."(6)

Es war die Zeit der technischen Erfindungen, die auf Jahrmärkten zur Schau gestellt und bestaunt wurden, so z.B. die von Kempelsche Schachmaschine, Vaucansons Ente, die das Korn, mit dem man sie fütterte, angeblich verdauen und ausscheiden konnte, und ein Flötenspieler. La Mettrie geht davon aus, daß ein noch größerer Künstler als Vaucanson auch einen Menschen herstellen könne: "Wenn man mehr Werkzeuge, mehr Räder, mehr Federn zur Bezeichnung der Planetenbewegungen bedurfte, als zur Bezeichnung der Wiederholung der Stunden; wenn Vaucanson grössere Kunst anwenden musste, seinen Flötenspieler zu machen als für seine Ente, so hätte er noch bei Weitem bedeutendere Kunst zeigen müssen, um ein sprechendes Gebilde hervorzurufen, was - besonders unter den Händen eines modernen Prometheus - nicht mehr als unmöglich erachtet werden kann."(7)

In den meisten Fällen jedoch, bei denen Maschinen eine tierische oder gar menschliche Fähigkeit zugeschrieben wurde, handelte es sich um Taschenspielertricks. Aber auch Erfindungen wie die magische Laterne, die das Kino vorwegnahm, und das Thermometer mit seinem beweglichen Quecksilber lösten das Staunen eines städtischen Massenpublikums aus und wurden oft für Zauberkünste statt für Wissenschaft gehalten. Das Potential dieser Erfindungen, die Massen zu unterhalten und zu verführen, wurde denn auch von Sozialkritikern als eine Bedrohung für die Ständeordnung angegriffen.

Im Zuge von Lockes empiristischer Erklärung des Denkens, die die Sinneseindrücke vor dem Hintergrund eines Bildschirmes des Gedächtnisses sah, wurde der Verstand als eine Art magica laterna betrachtet, sodaß die Grenze zwischen dem Rationalen und dem Phantasmagorischen fließend wurde. Die Verbannung des Unheimlichen aus dem Bereich der Vernunft führte zu einer Vervielfältigung phantasmagorischer Erscheinungen in der Literatur. Terry Castle schreibt: "Translated into a metaphor for the imagery produced by the mind, the phantasmagoria retained this paradoxical effect. [...] But the word phantasmagoria, like the magic lantern itself, inevitably carried with it powerful atavistic associations with magic and the supernatural. To invoke the supposedly mechanistic analogy was subliminally to import the language of the uncanny into the realm of mental function. The mind became a phantom-zone--given over, at least potentially, to spectral presences and haunting obsessions. A new kind of daemonic possession became possible. And in the end, not so surprisingly, the original technological meaning of the term seemed to drop away altogether. 'Je suis maitre en fantasmagories,' wrote Arthur Rimbaud in Saison en enfer. By the end of the nineteenth century, ghosts had disappeared from everyday life, but as the poets intimated, human experience had become more ghost-ridden than ever. Through a strange process of rhetorical displacement, thought itself had become phantasmagorical."(8) So ist ein paradoxer Effekt der Aufklärung auch die Verschiebung der Grenze zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen nach innen, wo sie schließlich verschwimmt. In der Literatur schlug sich die Theorie des l'homme machine in der zugleich schreckenerregenden und faszinierenden Figur des Automaten nieder, etwa in E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann.

Jean Paul ließ sich von la Mettries These des l'homme machine zur Erfindung einer ganzen Reihe von technischen Apparaten inspirieren, in denen er diese Theorie satirisierte, "angefangen von einem Wecker, der zugleich Bett- und Fenstervorhänge aufzieht und Licht und Feuer macht, über eine Bartroßmühle, ein Beträdlein, eine Kau-, eine Rechen-, eine Sprach-, eine federschneidende, eine Schreibmaschine, ein Setzinstrument, einen Vaucansonschen Flötenisten, eine camera obscura zur Vervielfältigung der Lorrain bis hin zu einem Wiederholgerät, das in nichts anderem als einem alten Franzosen in der Bibliothek besteht, der die Diderotsche Enzyklopädie auswendig weiß und nach Bedarf hersagen kann. In einer prophetischen Rede, die Züge eines wahren Science-fiction-Stücks aufweist, malt sich der 'Maschinenmann' in seiner Begeisterung 'die höchste Stufe der Maschinenhaftigkeit' als eine Welt aus, die er ganz beherrschen würde."(9) Jean Paul kritisierte damit den Agnostizismus des französischen Materialismus, den er als Inbegriff der Philosophie des 18. Jahrhunderts verstand.

Zum Empirismus gehörte aber auch die Aufwertung der Sinne, vor allem des Auges. Das bedingte einen Perspektivismus, der sich optischer Instrumente wie des Mikro- und Teleskops bediente, um die dem bloßen Auge verschlossenen Bereiche des Mikro- und des Makrokosmos zu erschließen. In diesem Sinne schreibt Maupertius: "Das Mikroskop und das Teleskop haben uns sozusagen neue, über unsere Möglichkeiten gehende Sinne geschenkt; Sinne, wie sie höheren Intelligenzen eigen wären, Sinne, die unsere eigenen ständig des Irrtums überführen."(10)

Das kam der Infragestellung überkommener Meinungen entgegen. Die Vernunft in der Aufklärung hatte die politische Funktion, die Autorität des Adels in Frage zu stellen, wie Descartes forderte. "Den philosophischen Weg zum Angriff auf die Autorität der Religion hatte Descartes freigelegt. Der cartesianische Rationalismus, diese 'Philosophie der Respektlosigkeit', lieferte der Aufklärung die siegreiche Waffe für den Kampf gegen die Autorität: die Vernunft. Sie wird der Prüfstein für die Richtigkeit der überlieferten Urteile. Die Aufklärung wird den von Descartes geebneten Weg der Auflösung des Dogmas, des puren Glaubens, der Vorurteile und überlebten Traditionen auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens entschlossen beschreiten."(11)

Peter Horn schreibt, daß das mechanistische Denken La Mettries nicht nur eine neue episteme darstellte, sondern auch die Grundlage eines neuen Machtdispositivs bildete, das sich in der Schule, der Armee, dem Krankenhaus, Irrenhaus und Gefängnis des 18. Jahrhunderts manifestierte: "Die neuen Anforderungen, denen diese Disziplin entsprechen muß, sind: eine Maschine zu konstruieren, deren Effekt maximal die Elementarteile artikuliert, aus denen sie zusammengesetzt ist. Disziplin dient dazu, eine effiziente Maschine zu produzieren. Die effizienteste Maschine ist die 'selbst'-gesteuerte, die 'selbst'-motivierte, die kybernetische: wobei allerdings paradoxerweise dieses 'Selbst' nicht das Selbst des Begehrens des Individuums ist, sondern eben jene 'Seele', jenes gesellschaftliche 'Über-Ich'[...]."(12)

Doch gleichzeitig gab es auch Gegenströmungen, die auf frühere christlich-mystische Traditionen zurückgriffen, wie etwa der pietistische Gefühlskult, der aus einer Unzufriedenheit mit den atheistischen Implikationen des englischen Empirismus und des französischen Materialismus einerseits und dem orthodoxen Glauben der Kirche in einem absolutistischen Staat andererseits hervorging, die nicht nur ein moralisches, sondern auch ein emotionales Vakuum hinterließen. Mit der Leugnung einer göttlichen Offenbarung entfiel auch die transzendentale Grundlage der Moral. Der englische Empirismus versuchte allerdings, die Moral auf die Grundlage des Gefühls und vor allem der Sympathie zu stellen, anstatt sie von einem rationalistischen System abzuleiten. So konnte innerhalb dieser Tradition auch mystisches und christliches Gedankengut weitertransportiert werden, wie von Herder, Hamann und Klopstock, das sich im Pietismus niederschlug. Herder war durch die vom Pietismus und Klopstock herkommenden religiösen und emotionalen Kräfte eher geprägt als von Rousseau.(13)

In dem Streit gegen den Idealismus Kants und den Materialismus Spinozas vertrat Herder eine geschichtsphilosophische Position, die Gott in der Geschichte walten sah. Er postulierte: "Jeder Forscher könne Gott in jedem 'gefundene[n] wahre[n] Naturgesetz' als einer 'gefundene[n] Regel des göttlichen Verstandes' entdecken. Als 'Urgrund aller Wirklichkeit' geht Gott damit im Begriff eines vernünftig geordneten 'Daseyns' auf, und die Unabweisbarkeit dieser Ordnung, die nicht erst von einem transzendentalen Ich auf die Welt projiziert werde, ist wiederum die 'Demonstration' - so Herder in einer Wendung gegen Kant - und der Beweis seiner Existenz."(14)

Philipp Jakob Spener (1635-1705) gründete gegen "die erstarrte und dem Glaubensverlangen nicht mehr genügende Orthodoxie der Kirche" in Frankfurt a.M. seit 1670 seine collegia pietatis als Heilsversammlungen außerhalb der Kirche; ihm folgte in Leipzig und Halle A. H. Francke (1663-1727). Man traf sich nun in privaten Kreisen, was auch Folgen für die Einstellung zum Glauben hatte. Der Pietismus suchte "Gott und die Erfahrung des Ewigen in dem persönlichen Erleben, in der eigenen Brust des nach ihm verlangenden Menschen" und leitete damit einen "Individualismus der ganz persönlichen Gefühlserschütterung" ein, der auch für die Dichtung ungemein fruchtbar wurde. "Bis zur Gefühlsekstase, zum schmerzlich-wollüstigen Selbstgenuß steigerte sich diese ganz aus der persönlichen Innerlichkeit heraus lebende Frömmigkeit." Graf Ludwig von Zinzendorf (1700-1760), der Gründer von Herrenhut und Wanderprediger von Schwaben bis nach Nordamerika, schrieb seine "mystisch-empfindsamen, erotisch-todessüchtigen religiösen Lieder". J. Gottfried Arnolds (1666-1714) Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie (1699/1700) betrachtete jede Verkirchlichung der Religion als eine "Entartung des Glaubens und feierte, zum Urchristentum zurücklenkend, gerade die Ketzer als die Zeugen der Wahrheit und die Träger unmittelbarer Erleuchtungen".(15) Noch in Goethes "Faust" klingt der Einfluß dieses kühnen Werkes nach.

An die Stelle des hierarchischen Unterschieds zwischen den Gläubigen und Gott trat nun die persönliche Beziehung zwischen Gott und der Gemeinde und zwischen den einzelnen Gläubigen, die eine ganz neue Gefühlssprache hervorbrachte, die sich auch auf andere Gebiete wie Liebe und Freundschaft erstreckte. Diese Sprache fand in der epistolarischen Form den ihr angemessenen Ausdruck. So begründete z.B. Klopstock in seinen Briefen an Fanny die Ehe erstmals als ein gleichberechtigtes intellektuelles und emotionales Bündnis. In dem Briefwechsel zwischen Spener und Francke geht es dagegen um die Einrichtung von Anstalten für die Armen, die in einem herzlichen, brüderlichen Ton artikuliert wird.(16)

Die Sensibilität ist ein Mittel, mit dessen Hilfe sich das bürgerliche Individuum vom zynischen Adel absetzt. Es ist eine Eigenschaft, "die in unterschiedlichen Abstufungen auftritt und die nicht alle Menschen in gleichem Maße besitzen. In jedem Falle aber gilt sie als Ausdruck wahrer Menschlichkeit und äußert sich in Empfindungen wie Mitleid, Zartgefühl, Großmut, Sorge. Sie ist Quelle der Tugend und somit Richtschnur fürs Leben."(17) Das Laster resultiert gerade aus der Unterdrückung der Sensibilität, die ebensosehr heroische Gefühle ausschließt wie sie sich in der Literatur in Tränenergüssen äußert, die sie aus heutiger Perspektive nur schwer erträglich erscheinen läßt. Diese Bewegung kann als Reaktion auf den dogmatischen Glauben einerseits und auf den Materialismus des Adels andererseits verstanden werden. Sie hatte somit durchaus eine emanzipatorische Komponente.

Aus der Betonung der individuellen Gefühlsbewegungen entwickelte sich der "Sinn für die Psychologie der Einzelseele und die Fähigkeit zu ihrer genauen Beobachtung und Analyse". Das Ich lernte, sich "selbst bis in die innersten Erregungen hinein zu studieren."(18) In diese pietistische Tradition gehörte auch Schuberts romantische Naturphilosophie, die den Weg zur Psychologie ebnete. Die "Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft", die an Hamann, Herder und Goethe anknüpfen, kommen 1807/1808 heraus und sind ein Beispiel einer sich entwickelnden Seelenkunde. Sie beschäftigen sich mit solchen Phänomenen wie dem Fernfühlen, Hellsehen und dem Lebensmagnetismus und "erstrecken ihren Einfluß über Carl Gustav Carus und sein seelenkundliches Hauptwerk 'Psyche' bis in neuere und neueste Zeit, weil schon sie von der Überzeugung ausgehen, daß der Schlüssel zur Erkenntnis vom Wesen des bewußten Seelenlebens in der Region des Unbewußten liege".(19)

Aber auch für die Dichtung war die pietistische Gefühlssprache außerordentlich fruchtbar. In seinem Messias suchte Klopstock den Anschluß an das christliche Epos und die reimlose antike Ode: "Das religiöse und das dichterische Erlebnis wurde in seinem 'Messias' zur Einheit; es steigerte sich zu einer jubelnden Vision, zu dem unerhörten Strom des sich frei in das Grenzenlose ergießenden Gefühls, das sich eine brausende und tönende, von feierlichem seelischem Pathos erfüllte Sprache schafft. In der vom Pietismus angeregten reimlosen Lyrik von Jacob J. Pyra (1715-1744) und Samuel Gotthold Lange (1711-1781), die zusammen Thyrsis und Damons freundschaftliche Lieder 1745 herausgaben, waren schüchterne Anregungen zum christlichen Epos und zur reimlosen antiken Ode gegeben -- an Klopstock wurde offenbar, zu welcher dichterischer Befreiung die Gefühlslockerung des Pietismus führen konnte."(20)

Der Pietismus in seiner verweltlichten Form führte zu einer ganz neuen dichterischen Formsprache, die nun weicher, geschmeidiger und musikalischer wurde: "Die Gefühlsekstase des Pietismus wurde um die Mitte des Jahrhunderts zur sanften und idyllischen Schwärmerei verweltlicht, zu einer zarten und weichen Empfindsamkeit. Auch darin lag ein Gewinn für die Sprache: sie wurde locker, geschmeidig, zu tänzerischer Musik und vieldeutiger, verhüllender Schalkhaftigkeit erzogen. Sie wurde sinnlich heiter und zart in Geist und Melodie."(21)

Die empirische Naturwissenschaft ist also nicht mit dem Materialismus gleichzusetzen, denn sie enthält mystische Züge, die bis zur Romantik reichen.(22) Während der Materialismus des l'homme machine einer technisch-wissenschaftlichen Entwicklung Vorschub leistete, die nicht unbedingt zu einer Befreiung von den moralischen Zwängen der christlichen Religion führte oder neue Zwänge an ihre Stelle setzte, enthielt die scheinbar irrationale Gegenbewegung des Pietismus durch die Erkundung des Innenlebens auch Momente einer sich neu etablierenden Psychologie und somit Elemente eines neuen Machtdispositivs. Damit schlägt das befreiende Potential einer neuen episteme an den Anfängen aber bereits in sein Gegenteil um, indem es zu einer neuen Konfiguration von Machtverhältnissen wird.

© Anette Horn (Kapstadt)

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ANMERKUNGEN

(1) Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1971, S. 24f.

(2) Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 25.

(3) Franz Schultz, Klassik und Romantik der Deutschen. II. Teil. Wesen und Form der Klassisch-Romantischen Literatur. Stuttgart: Metzler MCMLII, S. 5.

(4) Vgl. Peter Horn, Der mechanistische Materialismus und die Sinnlosigkeit der Welt in Büchners Leonce und Lena. In: Acta Germanica, Bd. 14, 1981, S. 84.

(5) La Mettrie, Der Mensch eine Maschine. Übersetzt, erläutert und mit einer Einleitung versehen von Adolf Ritter. Berlin: Erich Koschny, 1875 (Philosophische Bibliothek, Bd. 67), S. 66-67.

(6) La Mettrie, Der Mensch eine Maschine, S. 67.

(7) La Mettrie, Der Mensch eine Maschine, S. 71.

(8) Terry Castle, The Female Thermometer. Eighteenth-Century Culture and the Invention of the Uncanny. New York, Oxford: Oxford University Press 1995, S. 144.

(9) Geneviève Espagne, Jean Pauls Palingenesien, oder: Hat das Schreibspiel ein Ende? In: Geneviève Espagne, Christian Helmreich, Schrift- und Schreibspiele. Jean Pauls Arbeit am Text. Würzburg: Königshausen und Neumann 2002, S. 48.

(10) Zit. nach Französische Aufklärung. Bürgerliche Emanzipation, Literatur und Bewußtseinsbildung. Hrsg. v. Winfried Schröder u.a. Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig 1974, S. 178.

(11) Französische Aufklärung, S. 29.

(12) Peter Horn, Die Herstellung gefügiger Körper. Die Schule als Disziplin. Unveröffentlichte Vorlesungsnotizen, Universität Kapstadt, S. 1.

(13) Franz Schultz, Klassik und Romantik I, S. 25.

(14) Ralf Berhorst, Anamorphosen der Zeit. Jean Pauls Romanästhetik und Geschichtsphilosophie. Tübingen: Niemeyer 2002, S. 232f.

(15) Fritz Martini, Deutsche Literaturgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 1951, S. 167.

(16) Siehe Philipp Jacob Spener an Francke, In: Die deutsche Literatur vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert. Bd. IV, 18. Jahrhundert, S. 573-575.

(17) Französische Aufklärung, S. 519.

(18) Fritz Martini, Deutsche Literaturgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 1951, S. 167.

(19) Franz Schultz, Klassik und Romantik II, S. 91.

(20) Fritz Martini, Deutsche Literaturgeschichte, S. 182.

(21) Fritz Martini, Deutsche Literaturgeschichte, S. 175.

(22) Siehe Maxmilian Rankl, Jean Paul und die Naturwissenschaft. Frankfurt a. M.: Peter Lang 1987, S. 20.


For quotation purposes - Zitierempfehlung:
Anette Horn (Kapstadt): Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der Auf-klärung: La Mettrie´s l´homme machine und der pietistische Gefühlskult. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 14/2002. WWW: http://www.inst.at/trans/14Nr/ahorn14.htm.

TRANS     Webmeister: Peter R. Horn     last change: 23.12.2002     INST