Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 14. Nr. | Jänner 2003 |
András F. Balogh (Budapest)
Die wissenschaftliche Problemstellung der Arbeit nimmt die Begrifflichkeit und die Forschungsmethoden ins Visier, die bei der Beschreibung und bei der Erforschung der deutschen Literaturen aus Südosteuropa eingesetzt werden. Damit wird versucht, ein Desiderat aufzuheben, denn häufig ist zu spüren, daß die Begriffe, die in der Beschreibung der deutschen Regionalliteraturen verwendet werden, den neuesten Anforderungen der Literaturwissenschaft nicht genügen. Diese Unsicherheit in der Verwendung der Begriffe entspringt größtenteils der Tatsache, daß sie aus dem Repertoire der Nationalliteraturen entstammen, also aus einem anderen wissenschaftlichen und kontextuellen Milieu. Dieses Milieu, das literarische und kulturelle Umfeld ist nationsspezifisch und bezieht sich somit nicht auf irgendeine kleinere geographische Region - wo aber unser Gegenstand angesiedelt ist. Wären die poetischen Inhalte in den Nationalliteraturen und in den Regionalliteraturen identisch, so würde die Diskrepanz zwischen den Beschreibungsmodalitäten kein Problem implizieren, aber dadurch, daß die deutschen Literaturen des Karpatenbeckens sehr oft spezielle Probleme behandeln und eine eigene Entwicklung durchmachten, klafft eine Kluft zwischen den poetischen Inhalten und dem Begriffsapparat, mit dem wir sie beschreiben und analysieren wollen. Die Begriffe decken nur teilweise die Inhalte, für die sie eigentlich vorgesehen worden sind, und damit Klartext geschrieben wird, sollten hier einige Beispiele stehen: Es sei hier nur ein Fall aus dem Kreis des Modernitätsdiskurses herangezogen, weil gerade hier am krassesten die Divergenzen zwischen theoretischem Ansatz und poetischer Realisation ans Tageslicht kommen. Meine Problemstellung ist also, daß Begriffe, wie zum Beispiel die Kategorie 'moderne Lyrik', welche aus der binnendeutschen Literatur stammt, etwas anderes in ihrem originalen Kontext bedeuten, als wofür sie in der Regionalliteratur stehen. Das gleiche läßt sich auch in der ungarischen Literatur feststellen, obwohl diese Begriffe scheinbar problemlos angewendet werden. Wenn man aber den Sachen auf den Grund geht, wird man entdecken können, daß manche Erscheinungen dieses Begriffsystem hinterfragen oder zumindest relativieren. Um bei dem Beispiel der 'modernen Lyrik' zu bleiben, scheint es angebracht, an der Poesie der bekanntesten ungarndeutschen Dichterin, der früh verstorbenen Valeria Koch, die Verwendbarkeit dieses Begriffs auszuprobieren. Valeria Kochs Poesie wurde durch ihre Kritiker, erinnert sei hier an János Szabó, in die Schublade der Moderne und Postmoderne gesteckt. Mit gewissem Recht, denn die Argumente schienen plausibel zu sein: Diese Poesie entspringt einer seit der Jahrhundertwende immer wieder thematisierten Sprachskepsis; Identitätsprobleme, besser gesagt Identitätsverluste drängen zur poetischen Ausformung, die die traditionelle Identitätsstruktur der deutschen Bevölkerung aus Südosteuropa in Frage stellt; das bewußt erlebte Frauendasein gibt der von der Männerwelt dominierten poetischen Sprache einen besonderen Touch; auf einer reflexiven Ebene ist bei Valeria Koch sogar die allgemeine Sprachphilosophie vorhanden, welche die Fähigkeit der Sprache, Inhalte genau auszudrücken, hinterfragt; die ludische Annäherung an die Welt ergibt eine postmoderne Weltdeutung, die zuletzt in eine Neuromantik abglitt; der Wechsel zwischen den Sprachen und Identitäten bei Valeria Koch beweist die Fähigkeit des modernen Menschen zur Selbstentwicklung.
Der 'moderne Mensch' von Valeria Koch kommt aber ohne Heimat und Dialekt nicht aus; diese beiden Begriffe wurden nicht nur von V. Koch, sondern auch von ihren Weggefährten in der Poesie als eine notwendige Basis, aber doch als einen zu engen Ausgangpunkt empfunden. Der Anspruch auf Modernität, auf eine europäische Geltung fühlte sich eingeengt von der Ausgangsbasis. Sie wollte sich und die ungarndeutsche Literatur im Kreislauf der Weltliteratur sehen und sah dabei die tragische Schwierigkeit, den Themen einer kleinen Gemeinschaft weltliterarische Geltung zu verschaffen. Sind der Wunsch nach Modernität, bzw. die ästhetischen Erwartungen am Ende des 20. Jahrhunderts mit den Kindheitserinnerungen, Heimaterlebnissen und bäuerlichen Geschichten zu vereinbaren, auf die diese Literatur thematisch aufbaut? Die als Dilemma erlebte Wahl täuscht wahrscheinlich: man kann in allen Themen Großes vollbringen, man braucht nur Glaube und Kraft, um die bekannten und unbekannten Grenzen zu überschreiten, und um schließlich in dem Land "Nirgendwo und Irgendwo" anzukommen:
Auch das Land Nirgendwo
liegt irgendwo
Vielleicht in den Wogen der See,
vielleicht auf dem Weg, den ich geh,
vielleicht hinterm Vorhang von Schnee.
Warum wohl so ferne, so nah,
warum heißt das Dort niemals Da,
warum klingt Nein nie als Ja?(1)
Der 'moderne' Charakter der Kochschen Poesie läßt sich problemlos aus dem Spezifikum der Regionalliteratur ableiten, also hinter den poetischen Erscheinungen stehen oft Gründe und Motive, die nicht dem Main Stream der europäischen Literaturen entstammen, sondern dem Dasein der Sprachgemeinschaft. Diese Sprachskepsis kann auch als Angst vor dem Verlust der deutschen Muttersprache betrachtet werden - in Deutschland, in dem deutschen Sprachraum ist die Existenz der Sprache nicht gefährdet, daher wird dies auch nicht thematisiert, aber unter den Bedingungen des Sprachinseldaseins erscheint dies als eine reale Gefahr, sogar einige Mehrheitssprachen wie die ungarische lebte im 18. und19. Jahrhundert, teilweise auch sogar im 20. unter dem Druck der Angst des Sprachverlusts; die Identitätsprobleme bei Valeria Koch erklären sich auch vor diesem Hintergrund, nämlich vor der Assimilation der Ungarndeutschen. Ein Dichter oder eine Dichterin, die den Identitätsverlust thematisiert, spricht mimetisch sein/ihr eigenes Publikum an, denn ohne Publikum kann die Poesie letztendlich nicht existieren; das Frauendasein - das sehr oft als eine Art des modernen Lebensgefühls dargestellt wird, man denke nur an eine ganze Reihe von Autorinnen, ohne deren Wirken heute die deutsche Literatur nicht denkbar wäre - hat andere Komponenten in der südosteuropäischen Region, denn Poesie war jahrhundertelang ein politisches Instrument, das von Denkern und Intellektuellen in bedrängten Zeiten oder in den Zeiten der Ohnmacht verwendet worden ist - in diesem Kontext ist eine Frauenlyrik, die gleichzeitig politische Themen anspricht, eine Art Rebellion, aber nicht gegen eine Männerwelt, sondern gegen eine Welt der Diktatur. Die Sprachphilosophie kann auch als Skepsis gegenüber der herrschenden politischen Ideologie verstanden werden, eine nicht offene, sondern eine getarnte Negation marxistischer Thesen und Willkür; man denke nur daran, daß der Großteil des Schaffens von Valeria Koch in der lauwarmen Periode des Kádar-Regimes entstand, als es gerade Mode, sogar eine Art "künstlerische Pflicht" war, systemkritisch zu sein, was nicht leicht fiel, denn durch die engstirnigen Machthaber, die die Städte Pécs und Szeged, die Studienstädte von Koch, beherrschten, bestand die Gefahr einer Vergeltung. Die Rebellion gestaltete sich außerdem auch als Generationsrevolte und Generationswechsel, und nicht nur eine Durchsetzung Heideggerschen Gedankengutes, mit dem Valeria Koch in Briefwechsel stand. Die ludische Annäherung an die Welt, wie etwa die Nachdichtung des kleinen Prinzen, läßt sich als Neuromantik einstufen, die seit Paul de Man Bestandteil der Moderne ist. Wird also Valeria Koch wegen dieser Nachdichtung modern? Betrachtet man die Entstehungsgeschichte des Gedichtes im Jahre 1986(?), so kann man sehen, daß der Text eine verdeckte, verkappte Provokation gegenüber dem damals herrschenden politischen Diskurs darstellte. Und schließlich die Selbstentwicklung: Valeria Koch hatte den Ehrgeiz, gleichzeitig in zwei Literaturen gegenwärtig und schöpferisch zu sein - was kaum ein Dichter der Moderne geschafft hat.
Die Kochsche Poesie, aber generell die deutsche Regionalliteratur, die der Modernität zugeschrieben werden sollte, steht vor einem Problem, nämlich daß sowohl in Deutschland als auch in Ungarn ein Modernitätsdiskurs geführt wird. Die Inhalte, die dabei thematisiert werden, haben einen völlig anderen Charakter, als die, die in der modernen Regionalliteratur zu finden sind, so läuft diese Poesie Gefahr, in den Diskurs nicht aufgenommen zu werden. Worüber wird diskutiert? Wenn man mit Paul de Man der Moderne nachgeht, dann findet man außer der Neuromantik eine Definition und Beschreibung, die solche Elemente enthält, wie Dekomposition der Realität, Erlebnis des leeren Idealismus. Die Selbstreferenzialität der Lyrik nimmt auch bei Hugo Friedrich(2) einen bedeutenden Platz ein, man kann aber weitere Charakterzüge aufzählen, wie die betonte poetische Funktion der Sprache, die Verdoppelung der Referenzialität, oder sogar die "totale Selbstreferenzialität",(3) die nichts anderes bedeutet, als daß die poetischen und selbstreferenziellen Funktionen der Poesie in der Moderne zusammenfallen. Zum wichtigsten Ausdrucksmittel - wenn überhaupt noch etwas auszudrücken ist, behauptet der zitierte Diskurs - wird die Metapher: Die Metapher der sprachlichen Selbstreferenzialität wird der Spiegel, der verkleinert. (Z. Kulcsár-Szabó) Es wird im ungarischen literaturwissenschaftlichen Diskurs oft behauptet, daß z.B. die "Literatur von der Realität primär unabhängig ist" etc. Solche Inhalte und Merkmale sind kaum in der deutschen Regionalliteratur zu finden, denn sie nimmt andere poetische Aufgaben (wie Identitätsfindung zwischen zwei Sprachen, Betonung der Bedeutung der Muttersprache und der kleineren Sprachgemeinschaft) wahr. Die Modernität einer Valeria Koch beinhaltet andere Aspekte, als diejenigen, welche im literaturtheoretischen Diskurs in Ungarn hervorgehoben werden, so kommt man leicht zum Schluß, daß man es mit entgegengesetzten Positionen zu tun hat. Die Gegensätze sind die folgenden: die moderne Gegenwartsliteratur erscheint im Spiegel des regionalen Diskurses als realitätsreferenziell (versus selbstreferenziell, wie das im literaturwissenschaftlichen Diskurs hervorgehoben wird); die Gegenwartsliteratur ist primär kommunikativ (versus metakommunikativ), mit Beispielen und Topoi beladen (versus metapherbedingt), revoltierend (versus ichbezogen), gemeinschaftlich (versus selbstbezogen), identitätskritisch (versus identitätsunsicher). Der gleiche Begriff der Moderne oder auch der Postmoderne bekommt in der ungarischen Nationalliteratur eine andere Bedeutungen, als die zeitlich parallel laufende deutsche regionale Gegenwartsliteratur in sich trägt.
Wegen dieser Prämissen hat die deutsche Regionalpoesie kaum Chancen, wahrgenommen zu werden. In der ungarischen Literatur vielleicht noch weniger, als in der deutschen, denn die genannten Charakterzüge sind in Ungarn mit viel größerer Vehemenz proklamiert und von der Poesie abverlangt, als in Deutschland. Die Folge ist, daß abgesehen von einigen Autoren wie Herta Müller und Paul Celan, weitere Autoren aus Südosteuropa nicht "in" sind. Auch die beiden genannten verdanken ihre Reputation nicht dem südosteuropäischen Raum, sondern dem Stellenwert, den sie in einer gesamteuropäischen Entwicklung einnehmen konnten. Celan läßt sich nämlich leicht als Gewissen der deutschen Literatur auslegen und lesen, H. Müller als Kritikerin eines dörflich-kleinbürgerlichen Milieus, das wegen seiner Enge abscheuliche Diktaturen produziert.
Erfreuliche Entwicklungen sind aber auch zu verzeichnen. In der ungarischen Literaturwissenschaft mehren sich die Zeichen dafür, daß das ungarische Publikum, aber auch die Literaturwissenschaft, die deutsche Regionalliteratur wahrnimmt und ihr sogar immer mehr Aufmerksamkeit schenkt. Diese Aufmerksamkeit gilt der kritischen Stimme und dem besonderen Blickwinkel, denn die deutschen Autoren Ungarns standen ständig in unmittelbarem Kontakt mit der ungarischen Literatur und reflektierten darüber als Kenner aus einer fremdsprachlichen Basis. Diese Funktion würdigt man heute und möglicherweise werden auch solche Meinungen angehört, die behaupten, daß die ungarische Literatur mit der Hilfe der deutschen Regionalliteratur effizienter und besser zu lesen und zu verstehen ist.
© András F. Balogh (Budapest)
Inhalt / Table of Contents / Contenu: No.14
(1) Valeria Koch: Das Land Nirgendwo. Siehe in: Texte ungarndeutscher Gegenwartsautoren, Hg. v. János Szabó. Budapest: Germanistisches Institut der Eötvös-Loránd-Universität 1994 (= ELTE-Chrestomathie; 5.), S.91.
(2) Friedrich, Hugo: Die Struktur der modernen Lyrik. Hamburg: 1985.
(3) These von Zoltán Kulcsár-Szabó ausgeführt im Aufsatz: Önreflexió, szimbólum és modernség a poetológiai diskurzusban. [Selbstreflexion, Symbole und Modernität im poetologischen Diskurs] - In: Alföld 52 (2001), H. 4, S.66-92.
For quotation purposes - Zitierempfehlung:
András F. Balogh (Budapest): Begriffsbildung zwischen zwei
Nationalliteraturen. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für
Kulturwissenschaften. No. 14/2002.
WWW: http://www.inst.at/trans/14Nr/balogh14.htm.