Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 14. Nr. April 2003

Österreichische Literatur in Aserbaidschan

Vilayet Hajiyev (Baku)

 

Eines der Paradoxe dieser Welt ist, dass die Menschen mehr und mehr voneinander wissen wollen, nachdem sie gewissermaßen durch sich selbst in Nationen, Religionen, Kontinenten eingeteilt wurden. Diese Unterschiedlichkeiten wären vielleicht auszuhalten, wenn dazu nicht noch die Mehrsprachigkeit käme, welche ihnen die Erkenntnis von verschiedenen Kulturen - das heißt von dem materiellen und geistigen Leben der ihnen unbekannten Nationen, Religionen - fast unmöglich macht. Dabei kommt der Übersetzung eine beispiellose Bedeutung zu, die das Unbekannte bekannt, das Unzugängliche zugänglich macht. Sehr oft ist das keine einfache Bekanntschaft und Zugänglichkeit, sondern vielmehr eine Erkenntnis der unterschiedlichen Erscheinungsformen und Identitäten der allgemein menschlichen oder eigentümlichen Werte, vielmehr das Verständnis einer fremden Denk- und Lebensweise und nicht nur ein einfaches Verständnis, sondern vielmehr eine Aneignung der ihm wichtig und bedeutungsvoll scheinenden Elemente, das heisst, die Bereicherung seiner eigenen Kultur, die Verständigung mit und die Annährung an andere Kulturen.

So soll auch die Existenz der österreichischen Literatur - österreichischer Kulturträger im weitesten Sinne des Wortes - im aserbaidschanischen Geistesleben von diesem Standpunkt aus aufgefasst werden. Also zwei Länder, die in Hinsicht ihrer territorialen Grösse und der Zahl der Einwohner einander gleichen, aber weit entfernt voneinander sind und verschiedene Religionen, verschiedene Arten und Weisen des Denkens, verschiedene Kulturen haben. Österreich ist im Zentrum der europäischen Zivilisation, Aserbaidschan aber an der Kreuzung Europas mit Asien, wo der Westen und der Orient um die Vorherrschaft im Kampf standen, nun aber endlich freundschaftlich nebeneinander existieren.

Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen diesen Ländern gehen zurück auf die alten Zeiten, in denen die aserbaidschanischen Teppiche, Seide, Juwelenschmuck durch Byzanz und Russland den Weg auf die europäischen Märkte fanden. Die ersten diplomatischen Beziehungen entstanden im XV. Jahrhundert, als im Jahre 1473 Uzun Hässän, der Herrscher der aserbaidschanischen Aghgojunlu-Staates, die Boten der österreichisch-ungarischen Monarchie empfing und später den venezianischen Dogen Nikolo Trono als Boten nach Wien schickte(1). Diese diplomatischen Beziehungen entwickelten sich regelmässig bis zur Teilung Aserbaidschans zwischen dem Iran und Russland. Von dieser Zeit bis zum Ausbruch des I. Weltkrieges wurden diese Beziehungen im von Russland annektierten nördlichen Teil Aserbaidschans - das heißt in Baku - auf der Ebene eines Konsulats fortgesetzt. Leider verfügen wir über keine Kunde von den kulturellen Beziehungen jener Zeit. Aber trotzdem ist nicht auszuschliessen, dass im Aserbaidschan des frühen XX Jahrhunderts, in dem zur Zeit des Erdölbooms der europäische Geist sich zu festigen begann und die erste Oper des Orients ("Leyli und Medschnun" von Üzeyir Hadschibekov) 1906 entstand, auch die Wiener Musik ihren Einfluß ausgeübt haben dürfte.

Die erste direkte Bekanntschaft des aserbaidschanischen Lesers mit der österreichischen Literatur fällt in die 30er Jahre, als neben B. Kellermann, A. Seghers und E.M. Remarques Romanen auch die Novelle "Die Angst" von Stefan Zweig erschien (1930).

Erst 23 Jahre später erschien wieder der Name eines österreichischen Autors in einer aserbaidschanischen Zeitschrift. Es handelte sich um Ernst Fischer mit seinem "Friedenslied" ("Aserbaidschan", 1953, No 10). Aber es wäre ungerecht zu sagen, dass die österreichischen Autoren so lange Zeit in Vergessenheit geraten waren. Aserbaidschan war seit 1992 ein Teil der Sowjetunion, und die russische Sprache war - wie bei den anderen postsowjetischen Völkerschaften - beinahe zur zweiten Muttersprache geworden. So könnte man behaupten, dass die ins Russische übersetzte österreichische Literatur auch in Aserbaidschan gelesen wurde. Aber hauptsächlich von den Intellektuellen und zwar in der Hauptstadt, da in den Provinzen sehr wenige Russisch lesen konnten. Das sollte bedeuten, daß die österreichische Literatur und ihre bekannten Vertreter wie A. Schnitzler, St. Zweig, F. Kafka usw. in den Univorlesungen, den Interviews mit den Dichtern, den Hochschullehrbüchern - wenn auch sporadisch - erwähnt worden. Es soll auch nicht vergessen werden, dass etwa 70 Jahre lang in den sogenannten "selbständigen" Republiken nicht nur Wirtschaftspolitik, sondern auch die Kulturpolitik von Moskau bestimmt wurde. So war die Literatur als wichtiges Propagandamittel unter besonderer Aufsicht und zwar nicht nur die nationalen Literaturen selbst, sondern auch der Zugang zur Weltliteratur. So waren die ausländischen Autoren - vielmehr die europäischen -, in deren Werken es nach Freiheit, Demokratie und Wirklichkeit "roch", in "politische - unpolitische", "erwünschte - unerwünschte", "Freunde und Feinde der Sowjetunion" eingeteilt. Aus diesem Grund kann man sich vorstellen, warum außer E.Fischer kein anderer österreichischer Autor in einer sowjetaserbaidschanischen Zeitschrift veröffentlicht wurde.

Stefan Zweig war auch einer der österreichischen Autoren, der als ein Freund des Landes in den Sowjetrepubliken - darunter auch in Aserbaidschan - veröffentlicht oder herausgegeben wurde. Fast in allen in Aserbaidschan herausgegebenen Büchern von Stefan Zweig wurde im Vorwort hervorgehoben, dass er 1929 in die Sowjetunion gereist und ein Freund dieses Landes war. Dagegen war Franz Kafka als ein Vertreter der "dekadenten Literatur", als "Modernist" in der Sowjetunion ein "unerwünschter" Autor. Er war kein offiziell verbotener, sondern nur ein "unerwünschter" Autor, wurde nicht "gerne" gelesen, weil seine Weltauffassung, seine schriftstellerische Manier der herrschenden kommunistischen Ideologie und ihrer "Kunsttheorie" nicht entsprachen.

Nach 1930 erschien Stefan Zweigs nächster Novellenband in Aserbaidschan im Jahre 1974. Die beiden Novellen, "Brief einer Unbekannten" und "Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau" waren direkt aus dem Deutschen übersetzt worden. Bis dahin wurden alle Bücher ausländischer Autoren aus dem Russischen übersetzt. Das war einerseits damit verbunden, dass es in Aserbaidschan (auch in den anderen Republiken) keinen Fachübersetzer gab, andererseits war das ein regelrechtes "Aufsichtsmittel", das es nicht zuliess, dass die "unerwünschten" Autoren den Weg in die sogenannten "freien" Republiken finden sollten. In den 60 und 70er Jahren wuchs in Aserbaidschan eine neue Generation heran, das heißt junge Germanisten und Anglisten, die dichterisch begabt waren und versuchten, die Schranken der alten Traditionen zu überschreiten. Der Novellenband von Stefan Zweig war einer von diesen Versuchen und zwar ein erfolgreicher. Besonders gelungen war die Übersetzung der Novelle "Brief einer Unbekannten". Die Übersetzungen der Novellen wurden von einem ausführlichen Vorwort von Prof.Dr.A.Aghajew, einem guten Kenner der europäischen Literatur, begleitet. In diesem Vorwort wurde St.Zweigs Schaffen und seine dichterische Entwicklung im Zusammenhang mit den widerspruchsvollen historischen Ereignissen der Zeit gestellt, und Zweig wurde nicht nur als Autor psychologischer Novellen, sondern auch als Verfasser von zu jeder Zeit aktuellen historisch-biographischen Romanen, Essays vorgestellt. Der Grdanke, dass St.Zweig sich mehr für die Innenwelt, Psychologie und Begabung der historischen Persönlichkeiten interessierte und deshalb deren Rolle der historischen Entwicklung, sozial-politischen Situation vorzog, wurde in den Vordergrund gestellt.

Das dritte Buch von St.Zweig - "Joseph Fouché, Bildnis eines politischen Menschen" - erschien in aserbaidschanischer Sprache 1990, als das Land von politischen und sozialen Widersprüchen "wimmelte". Das war die Zeit des Versuchs, Aserbaidschan von den schon verrosteten Ketten des Sowjetreiches zu befreien. Entspechend dem Geist der Zeit entstanden neue Parteien, Bewegungen und Gruppen, deren Führer in der politischen Arena den Thron besteigen wollten. So sollte der "in Stefan Zweigs Darstellung zu einem bewegten, vielfarbigen und faszinierenden Bild"(2) gewordene Joseph Fouche' und sein Aufstieg und innerlicher Vorfall, seine Rolle in der Entwicklung der historischen Ereignisse der Zeit den noch von Irrtümern und Zweifeln geplagten Aserbaidschanern bei der Entscheidung ihrer politischen Zukunft behilflich sein. Obwohl das Buch aus dem Russischen übersetzt wurde, hatte sich der Übersetzer - wie er selbst im Vorwort behauptete - in Fragen der Sprache und des Stils von St.Zweig von dem Germanistikprofessor J.Chalilow, dem ehemaligen Lehrstuhlinhaber für Germanistik der Sprachenuniversität, leiten lassen. Das Buch wurde in 25.000 Exemplaren herausgegeben und war sofort ausverkauft.

Stefan Zweig ist auch der einzige österreichische Autor, dem die Wochenzeitung "Literatur und Kunst", das damals sehr renommierte Organ des Schriftstellerverbandes, zum 90. Jahrestag einen Beitrag gewidmet hatte.(3) Der Autor des Beitrages, Doktor der Philologie V. Haciyev, versuchte sein Schaffen - wenn auch vom Standpunkt des sogenannten sozialistischen Realismus aus - in allen Aspekten zu analysieren. Trotz der Vorwürfe, dass "Zweig unter dem Einfluss der Dekadenz stand und sich der Volksmasse nicht nähern konnte", wurde er von ihm "ungeachtet der Einschränkungen und Widersprüche in seiner Weltanschauung" als ein meisterhafter Novellist, "als Sprachrohr der seelischen Freiheit und der Humanität" vorgestellt.

Auch später erschienen in verschiedenen Zeitschriften Novellen von Stefan Zweig ("Der Amokläufer" - "Aserbaidschan",1983, N6, "Buchmendel" -Chäsär,1992, N5-6, "Schachnovelle" - Schachzeitung, 1966) wurden von den aserbaidschanischen Lesern gerne gelesen.

Franz Kafka tauchte in der aserbaidschanischen Literatur erst 1966 mit seiner Novelle "Die Verwandlung" in der zu jeder Zeit populären Zeitschrift "Aserbaidschan" auf. Was für jene Zeit nicht üblich war: der Novelle folgte direkt ein umfangreicher Beitrag "Franz Kafka und die Fragen des Modernismus" von einem aserbaidschanischen Literaturkritiker. Gewöhnlich wurden solche Übersetzungen mit einem kurzen Vorwort, das die Schilderung von Biographie und Schaffensweg des Verfassers enthielt, veröffentlicht. Schon am Anfang des Beitrages stellte der Autor fest, dass in der heutigen Welt zwei Ideologien - die kommunistische und die bürgerliche - in einem harten Kampf gegeneinander stehen, und die Partei und der Staat vor allen die Aufgabe gestellt haben, sich mit jeglichen Erscheinungsformen der bürgerlichen Ideologie auseinanderzusetzen. Nach kurzer Darstellung der Diskurse der europäischen und amerikanischen Literaturwissenschaftler und der schonungslosen Kritik an diesen, ging der Autor zu Kafka über. Heute könnte man vielleicht sagen, dass es ein kluger Schachzug war, um den wahren Franz Kafka, "einen der grössten und widerspruchsvollsten Schriftsteller der Weltliteratur" dem aserbaidschanischen Leser vorzustellen. Nach der eingehenden Lektüre des Beitrages stellt sich heraus, dass der Autor den Lebens - und Schaffensweg F.Kafkas gut gekannt, seine drei Romane, fast alle bekannten Novellen, Fragmente einer - wenn auch kurzen - Analyse unterzogen hat. Bei der weiteren Entwicklung des Beitrages vergisst der Autor beinahe die ihm am Anfang "von der Partei und dem Staat vorgestellte Aufgabe" und vertieft sich in die geheimnisvolle und zauberhafte Schaffenswelt F.Kafkas. Wir sind natürlich weit vom Gedanken entfernt, dass dieser Beitrag Kafkas Schaffen völlig umfasste, aber glauben, dass er die wichtigsten Elemente seiner Weltauffassung und der Wiedergabe in künstlerischer Form dem aserbaidschanischen Leser, dem F.Kafka bis dahin fast unbekannt war, verdeutlichen konnte.

"Die Verwandlung" wurde drei Jahre später in das Buch "Novellen und Erzählungen der ausländischen Schriftsteller" aufgenommen (1969).

Viele Jahre später erschienen noch zwei Erzählungen von F.Kafka in der aserbaidschanischen Sprache: "Der Traum" im Sammelband "Dünja" ("Die Welt") 1990, und "Das Urteil" in der Zeitschrift "Chäsär" (1993).

Das erste Kafka - Buch in aserbaidschanischer Sprache erschien erst 1996. In dieses umfangreiche fünfhundertdreissigseitige Buch wurden die Novellen "Das Urteil", "Die Verwandlung", "Ein Landarzt", "Ein Bericht für eine Akademie", "Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse", "Eine kleine Frau", 15 Fragmente, seine Tagebücher, Gespräche und schliesslich sein Roman "Das Schloss" aufgenommen. Das Kafka-Buch erschien etwa 8 Jahre nach Erringung der Selbständigkeit und man brauchte "einen der grössten Schriftsteller der Welt aller Zeiten" nicht nach einer bestimmten Ideologie vorzustellen und ihm die Zugehörigkeit zum Expressionismus oder Modernismus vorzuwerfen, sondern als Schriftsteller mit einer ungewöhnlichen Weltauffassung, mit einer merkwürdigen Art und Weise der Darstellung der Lebenswirklichkeit mit all ihren Wiedersprüchen, als ein Schriftsteller, der manchmal danach strebte, in der Nähe der Menschen zu sein, aber auch sehr oft sich nach der Einsamkeit sehnte. Mahir Garajev, ein junger Literraturwissenschaftler und Übersetzer, der viele Novellen von Kafka übersetzt hat, hat in seinem kurzen Vorwort "Kafka der Welt und die Welt von F.Kafka" Kafka und Welt-Verhältnisse so charakterisiert: "Kafka schien von einer Glaswand umgeben zu sein. Die Welt schien ihm offen zu sein, er selbst war aber dieser Welt völlig verschlossen"(4).

Die Novellen, Fragmente, Tagebücher, Gespräche sind aus dem Russischen, aber der Roman "Das Schloss" direkt aus dem Deutschen übersetzt und zwar von einem Germanistikprofessor, dem heutigen Lehrstuhlinhaber für deutsche Lexikologie und Stilistik an der Sprachenuniversität Tscherkes Gurbanly. Übrigens erweckte die Übersetzung des Romans grosses Interesse, und der Übersetzer bekam dafür 1998 eine Auszeichnung von der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Aserbaidschan und zwei Jahre später eine Auszeichnung der österreichischen Regierung.

Was in diesem Kafka-Buch auffällt, ist, dass jedem Werk ausser den Fragmenten ein kurzes Vorwort hinzugefügt ist, das sozusagen als Schlüssel zum Verständnis der Kafka-Texte dienen sollte. Diese Erklärungstexte sind aber keine subjektiven Interpretationen, sondern vielmehr Darstellungen, die sich auf die historische Wirklichkeit beziehen.

Natürlich ist das nur ein kurzer Überblick über die Vermittlung der österreichischen Literatur in Aserbaidschan, in dem die Autoren in den Vordergrund gestellt wurden, die nicht sporadisch, sondern in einem gewissen Umfang den aserbaidschanischen Lesern vorgestellt worden sind. Weiterhin gab und gibt es österreichische Autoren, die auch in verschiedenen aserbaidschanischen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht sind, wie zum Beispiel R.M.Rilke, Paul Celan, Ingeborg Bachmann usw.

Abschliessend könnte man sagen, dass die österreichische Literatur, obwohl sie in Aserbaidschan nicht den Verbreitungsgrad der französischen, deutschen oder amerikanischen Literatur hat, einen nicht unbedeutenden Platz in der literarischen Rezeption einnimmt.

© Vilayet Hajiyev (Baku)

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ANMERKUNGEN

(1) Avropa vä Amerika tarixi (deutsch: Die Geschichte von Europa und Amerika). Baku, 2000.

(2) Joachim Schreck. Nachwort zum Buch "Joseph Fouche'", Verlag der Nation, Berlin 1983.

(3) Zeitung: "Ädäbiyyat ve indschesenet" (deutsch: "Literatur und Kunst") 1971, 27. November.

(4) Franz Kafka, "Das Schloss" und Novellen, Fragmente, Gespräche, Tagebücher (aserbaidschanische Übersetzung), Baku, 1996.


For quotation purposes - Zitierempfehlung:
Vilayet Hajiyev (Baku): Österreichische Literatur in Aserbaidschan. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 14/2002.
WWW: http://www.inst.at/trans/14Nr/hajiyev14.htm.


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