Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 14. Nr. Dezember 2002

Goethe und Plenzdorf aus heutiger Sicht. Zur Aktualität des Werther-Textes

Márta Harmat (Szeged)

 

"Es müßte schlimm sein, wenn nicht jeder in seinem Leben einmal eine Epoche haben sollte, wo ihm der Werther käme, als wäre er bloß für ihn geschrieben"(1) - betont Goethe selbst die gleichzeitige Zeitlosigkeit und Zeitbedingtheit seiner Werther-Figur in einem Brief an Eckermann (am 2. Januar 1824).

Die seit Jahrhunderten währende Aktualität der Werther-Narrativik (die allgemein-menschliche Seite ebenso wie die geschichtliche) möchte ich in meinem Vortrag mithilfe komparatistischer Textanalyse anhand von Goethes Die Leiden des jungen Werther und Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. schildern. Ich versuche, die Aktualität des Werther-Diskurses und seiner bravourösen intertextuellen Anwendung in Plenzdorfs Werk vor allem nicht durch die Erforschung der parallelen Lebenssituationen der Helden zu erschließen, sondern durch die Interpretation ihrer eigenen und ihrer Umwelt entstammenden Fragestellungen und durch die Schilderung ihrer Suche nach spezifischen Auswegmöglichkeiten aus ihrer Ausweglosigkeit. Die vergleichende Untersuchung hilft uns, die zeitliche und räumliche Grenzen überschreitenden Zusammenhänge der europäischen Literatur- und Kulturgeschichte zu entdecken und sie auch aus heutiger Sicht zu interpretieren.

"Mein Freund [...], der Mensch ist Mensch, und das bißchen Verstand, das einer haben mag, kommt wenig oder nicht in Anschlag, wenn Leidenschaft wütet und die Grenzen der Menschheit einen drängen"(2) - zitiert Plenzdorfs junger Held, Edgar Wibeau, halb pathetisch, halb ironisch die Worte von Goethes Werther(3) an einem entscheidenden Punkt seiner "Leidensgeschichte". Dieses Zitat - eines der zahlreichen intertextuellen Elemente des Romans Die neuen Leiden des jungen W. - lässt sich im Kontext des ganzen Werkes als entscheidendes Moment interpretieren. Es erscheint an einem wesentlichen Punkt auf der Handlungsebene: hier lernt man Edgars Geliebte, Charlie, und ihr Verhältnis zu Edgar sowie zu ihrem Bräutigam Dieter, aus ihrem Gespräch mit Edgars Vater nach dem tragischen Tod seines Sohnes kennen und damit parallel auch Edgars vom Jenseits kommende Kommentare zu dieser Dreiecksgeschichte. Andererseits bekommt dieses Werther-Zitat auch aus psychologischer und ideologischer Sicht besondere Bedeutung: es bezeichnet eine wichtige Station des Reifeprozesses des Haupthelden, die auch durch Form- und Funktionsveränderungen der intertextuellen Elemente signalisiert wird. Hier zitiert Edgar nämlich aus der auf dem Plumpsklo seiner Laube gefundenen Werther-Lektüre nicht mehr mit der Absicht, mit diesem Text, mit seiner "schärfsten Waffe" (NL 82) einen schockierenden Effekt zu erzielen, mit seiner provozierenden "Selbstäußerung" einen natürlichen Protest des "verkannten Genies" (NL 25) gegen die dogmatische "Ordnungswelt" auszudrücken und die "ordentlichen" DDR-Bürger mit diesem "unmöglichen Stil" (NL 19), mit diesem "Althochdeutsch" (NL 99) - ähnlich wie mit seinem übertriebenen Jugendjargon oder mit seinen "echten Bluejeans" - zu verblüffen, sondern weil er sich hier ganz spontan mit der Werther-Rolle zu identifizieren anfängt und "Old Werther" als "Leidensgefährten" verständnisvoll anzublinzeln beginnt. Die oben zitierte Werther-Passage mit der überraschenden Äußerung Edgars über "die Grenzen der Menschheit" steht als Meilenstein irgendwo in der Mitte seines langen Wegs. Dieser Weg beginnt mit dem "Reclamheft [...] auf dem ollen Klo" (NL 19), das "wirklich kein Schwein lesen konnte" (NL 36) und führt über einige positive Reaktionen auf Werther, wie z. B. "Langsam gewöhnte ich mich an diesen Werther"; "Ich mußte sofort an Old Werther denken" (NL 78), zu einer Schlussfolgerung, d. h. zu Edgars innerer Identifikation mit Werther: "Ich war jedenfalls so weit, daß ich Old Werther verstand" (NL 147).

Die gemeinsame Tragödie von Goethes Werther und Plenzdorfs Edgar Wibeau scheint eine allgemeine Erfahrung des europäischen Individuums von der Aufklärungszeit bis zum heutigen Tag zu sein. Diese Tragödie besteht darin, dass der Versuch des Menschen, die Grenzen des Daseins zu überschreiten oder aufzuheben und dadurch den Sinn des Lebens finden zu können, an bestimmten Hindernissen scheitert. Dem "klassischen" Goethe gelingt es - nach dem Beweis seiner Hymne Grenzen der Menschheit (1781) -, sein Sturm-und-Drang-Dilemma durch die Harmonievorstellung von der "Ring"-"Kette"-Dialektik zu lösen:

"Ein kleiner Ring
Begrenzt unser Leben,
Und viele Geschlechter
Reihen sich dauernd
An ihres Daseins
Unendliche Kette."(4)

In meinem Vortrag möchte ich aber jetzt nicht Goethes klassische Vision (jedes Individuum mit seiner begrenzten Existenz sei ein Teil der unendlichen "Menschheitskette") interpretieren und seine Lösung als Programm auch für unsere Zeit mit konkreten Inhalten aktualisieren, sondern ich versuche eher die andere Seite, die raum- und zeitbedingten "Grenzen" zu schildern: die geschichtlichen Umstände, die institutionalisierten Konventionen und ideologisierten Perspektiven, an denen der Mensch in seinen Bestrebungen immer wieder scheitern musste.

Goethes Werther, der junge Bürger des 18. Jahrhunderts, wird als Mensch sowohl durch die engstirnigen Philistereien der Zeitgenossen als auch durch seine eigenen Sturm-und-Drang-Hoffnungen und die Genie-Erwartungen des Zeitgeistes stark überfordert. Am Anfang seiner Geschichte vermag er noch als naiver "Seelenmensch", in der Natur, unter Kindern und einfachen Bauern einen "paradiesischen" Harmoniezustand zu erfahren und seine Seele für den "Spiegel des unendlichen Gottes" (W 9) zu halten. In diesem Weltbild ergänzen einander "Wiegengesang" und Homer "in seiner Fülle" (W 10), pantheistische und messianistische Begeisterung der Seele ganz natürlich. Am Anfang spürt Werther weder äußere noch innere Grenzen seines Daseins. Seine "allumfassende" Liebe und Freude beginnen aber zu schwinden, sobald ihn seine aufflammende Leidenschaft zu Lotte, zur Braut eines anderen, in eine moralisch fragliche Zwiespaltsituation stellt. Um so mehr, weil dieser andere, Albert, "der beste Mensch unter dem Himmel" (W 45) sei. Er ist ein guter Freund Werthers, dessen "Wahrheit" aber, sein gesunder Rationalismus, nicht nur deshalb unannehmbar für Werther ist, weil er dadurch Lottes empfindsame Seele und sein eigenes Glück gefährdet sieht, sondern auch deshalb, weil Alberts "nüchterne Weisheit" (W 4) für ihn keinen echten Wahrheitswert vertritt. In Werthers Idealvorstellungen erscheint die platonische Trias der Werte (Wahrheit, Schönheit und Güte) in einem natürlichen "kosmischen Einheitsgefühl". Werthers Sturm-und-Drang-Ich sehnt sich nach vollkommenem "Einswerden" mit dem ganzen Weltall.

Seine Erwartungen müssen aber an der gar nicht so vollkommenen, halb bürgerlich und halb feudal, halb aufklärerisch und halb protestantisch geregelten Realität des deutschen Alltagslebens und auch an der Schwäche seiner eigenen menschlichen Natur scheitern. Die hoffnungslose (weil nicht "erlaubte" und nicht "legalisierte") Liebe kann ihm keine Inspiration mehr geben, er hört auch mit seiner früheren künstlerischen Aktivität auf. Seine Flucht ins Gesellschaftsleben, seine Bestrebung, etwas Großes und Nützliches (etwas "Prometheusisches") zu leisten, scheitert an seinem Bürgerdasein: die adelige Gesellschaft stößt ihn aus ihrem Kreis aus. Auch nach seiner Rückkehr zu Lotte kann er keine Rettung mehr finden. Er will die Ruhe der geliebten Frau, die für ihn als Verkörperung aller Werte erscheint, nicht stören, geschweige denn zerstören. Er erlebt seine Gefühlsausbrüche vor Lotte als moralische Niederlage. Mit seinem Genie-Bewusstsein will er aber nicht annehmen, dass er als Mensch und Bürger durch die inneren und äußeren Grenzen besiegt werden kann. Er will den Kampf für seine Ideale nicht aufgeben. Da seine individuelle Disharmonie seinem eigenen Idealbild nicht entspricht (seine Existenz hält er nämlich für den störenden Faktor in der großen Harmonie des Universums), fasst er seine letzte freie Entscheidung im Namen der Wiederherstellung der "kosmischen Ordnung": er begeht Selbstmord. So kann er für seine empfindsamen und geistig revoltierenden Zeitgenossen "ein gekreuzigter Prometheus"(5) - in der Terminologie von Lenz -, d. h. ein nachahmungswürdiges Ideal werden.

Der "klassische" Goethe lehnt bereits einige Jahre später die radikale Werthersche Lösung ab - wie anfangs erwähnt. Seine veränderte Position kommt nicht nur in seiner Lyrik der Weimarer Periode zum Ausdruck, sondern auch durch eine ganze Reihe seiner dramatischen und epischen Helden, (wie z. B. Tasso, Egmont, Wilhelm Meister oder die Protagonisten des Romans Die Wahlverwandtschaften.) Sie reagieren auf die Begrenztheitsproblematik des Menschen mit ihrem Versöhnungsakt - infolge der festen spätaufklärerischen Überzeugung ihres Verfassers, dass die inneren Werte, die Harmonie des Lebens vor den Mächten des Chaos noch gerettet werden können. Goethe selbst löst also einen Werther-Diskurs aus und greift ihn immer wieder mit solcher Intensität auf, dass auch der heutige Europa-Diskurs über innere und äußere Grenzen, über individuelle und kollektive Integrationsmöglichkeiten ohne ihn kaum zu verstehen wäre. In diesem Werther-Diskurs, wie schon angedeutet, verknüpfen sich widerspruchsvolle geistige Haltungen miteinander: Pathos und Skepsis des bürgerlichen Individuums auf seiner Suche nach einem wertvollen Dasein, erfolgreiche und gescheiterte Bestrebungen der Bürger Europas, im Namen der ganzen Menschheit etwas Wesentliches zu leisten, für die Menschheit (und für sich selbst) die "ewigen Werte" zu bewahren.

Im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts aber - nicht unabhängig von der raschen Entwicklung der technischen Zivilisation - beginnt eine neue Phase der europäischen Mentalitätsgeschichte: der Verlustsprozess des alten, traditionellen Wertesystems. Während früher der materielle Fortschritt der menschlichen Kultur diente, tritt jetzt die Technik selbst als Kultur auf - Technik, die ihrem Wesen nach die inneren Werte in Frage stellt.(6) Eben wegen dieser "Zivilisationsbeschädigung" wird der Goethe-Diskurs in der europäischen Literaturgeschichte immer wieder aufgenommen und dadurch erhält auch der Werther-Diskurs immer neue Formen und Funktionen: in ihm beginnen seine ironisch-skeptischen, sentimental-nostalgischen oder demagogisch-propagandistischen Komponenten zu dominieren.

Der alte Diskurs über Mensch und Bürger, Individuum und Gesellschaft bzw. über Wertevorstellungen und Wirklichkeitserfahrungen des Menschen wird zweihundert Jahre nach der Geburt der Werther-Figur, in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, in Plenzdorfs Roman Die neuen Leiden des jungen W. ganz originell weitergeführt: In einem neuen politischen und gesellschaftlichen Kontext der DDR-Realität erscheinen die die Textkohärenz nicht störenden, brillant montierten (integrierten und parodisierten) Werther-Zitate und Allusionen. Plenzdorfs Held, Edgar Wibeau, ist keine bloße Kopie von Goethes Werther, er ist eher ein Anti-Werther: mit seinem Tod beginnt das Werk. Im Vergleich zu Werther wählt er - der zuerst selbstbewusste und musterhafte, später aber durch die Perspektivlosigkeit enttäuschte, junge ostdeutsche Bürger - nicht freiwillig den Tod. Er will sich nicht aufopfern, er will kein Prometheus sein, nicht nur, weil er diese ganze "olle Geschichte" wahrscheinlich nicht kennt, sondern weil "das Feuer", d. h. jede Menge von hohen technischen Errungenschaften der Zivilisation, die Elektroartikel sowie die "echten Blue Jeans", nicht mehr nur für die Westbürger drüben, sondern auch diesseits im Osten zu erreichen sind (wenn auch schwieriger und komplizierter und nicht immer von derselben Qualität). Es ist eine Ironie des Schicksals, dass Plenzdorfs Held, "der Arbeitscheue, der Halbmaler, der Spinner" (NL 71), "ein verkanntes Genie" - wie Edgar sich nennt (NL 74), d. h. ein Gegenpol des Prometheus, als nach eigenen Plänen, aus eigener Kraft, isoliert von seinem Arbeiterkollektiv etwas Originelles leisten will und den elektrischen Strom für sein "nebelloses Farbspritzgerät" besorgen möchte, durch einen elektrischen "Blitzschlag" ins Jenseits gelangt. Von dort kommentiert er Vergangenes und Gegenwärtiges mit Ironie und Selbstironie, jetzt schon ganz frei von aller Beschränktheit. Jenseits der irdischen (gesellschaftlich-politischen) Grenzen erreicht er ganz unbewusst den Höhepunkt seines "Bildungsprozesses", dort ist er zum einheitlichen Individuum geworden. Ganz zufällig wird er also zum Repräsentanten eines menschlichen Daseinzustands, nach dem Goethes Werther ganz bewusst strebte und in dessen Namen er freiwillig lieber den Tod wählte.

Die vom Jenseits geäußerte Selbstverwirklichung, dieses Plenzdorfsche Paradoxon, kann aber von uns als Metapher der ganzen widerspruchsvollen geschichtlichen Situation, als "laut schreiende" literarische Kritik am DDR-Dasein interpretiert werden. Im Staat, wo Edgar Wibeau zum "mündigen Bürger" heranwachsen sollte, wurde im "Jugendgesetz" in zahlreichen Paragraphen vorgeschrieben, wie die Jugendlichen zu "sozialistischen Persönlichkeiten" herangebildet werden sollen. Sogar die Freizeit musste, wie es in der DDR-Verfassung hieß, "sinnvoll und effektiv" verwendet werden.(7) Kein Wunder, dass Edgar, der kluge und empfindliche, aber durch die "gesellschaftlichen Erfordernisse" frustrierte junge DDR-Bürger, ganz unerwartet zu rebellieren beginnt und die Flucht wählt. Er flieht nicht in die "freie Natur" wie Werther, sondern in die Großstadt Berlin (Ostberlin) vor der Bevormundung der Mutter, einer emanzipierten "Karrierefrau", Vertreterin der Anpassung, Leistung und Ordnung, die als "alleinerziehende Mutter" nach ihrer gescheiterten Ehe beweisen will, dass "man einen Jungen auch ohne Vater sehr gut erziehen" (NL 23) und aus ihm ein "Musterkind" produzieren kann. Edgar flieht ebenso vor dem grenzenlosen autoritären Geist seiner Fachschule, wo das technische Niveau für ihn unerträglich begrenzt ist. Seine Autonomiebestrebungen können aber auch in Berlin nicht verwirklicht werden, auch hier begegnet er zahlreichen Formen der Bevormundung - sowohl im Privatleben (in der Liebe zu Charlie) als auch in der Malerbrigade. Auch seine künstlerischen "Ausbruchsversuche" bleiben ohne Erfolg: die Kunstakademie gibt ihm, dem "verkannten Genie", keine Möglichkeit, sein Talent beweisen zu können und seine Suche nach Vater Wibeau, nach einem verlumpten, alten Künstler mit aristokratischem Familiennamen und adeligem Hugenottenblut, scheitert an der Realität: Während eines geheimen Besuchs bei seinem Vater begegnet Edgar einem "normalen" Bürger in einem Blockhaus ohne jegliche Spuren künstlerischer Tätigkeit (sogar ohne Bilder an der Wand), aber mit einer jungen Frau in seinem Bett. So bietet sich für Edgar auch hier, beim Vater, der ihn nicht einmal erkennt, keine Identifikationsmöglichkeit. Eben deshalb liebt und verehrt er dagegen vom ersten Moment an den alten Arbeiterkollegen Zaremba - vielleicht als eine Art "Ersatzvater", der durch ihn "wie durch Glas" sieht (NL 97), den er als den einzigen Menschen mit seinen Werther-Zitaten "nicht aus dem Sattel warf" (NL 99), der mit seiner natürlichen Menschlichkeit, Weisheit und Vitalität für ihn etwas Wertvolles verkörpert. So kann man Edgars halb ironische, halb pathetische Reaktion auf die ihn lobende "Grabrede" verstehen: "Ich und ein wertvoller Mensch. Schiller und Goethe und die, das waren vielleicht wertvolle Menschen. Oder Zaremba." (NL 87).

Während Werther, der Sohn der Aufklärungszeit, die alten Idealvorstellungen noch kennt und eben für die Rettung dieser Werte nicht besiegt werden will, sondern lieber den Tod wählt, lebt der arme, "verspätete" Idealist Wibeau in einer Welt, die dem Talmiglanz von Quasiwerten huldigt, seien sie "das sozialistische Erziehungsprogramm" oder "echte Bluejeans". Deshalb kann man Edgars Selbstironie - "Ich Idiot wollte immer der Sieger sein" (NL 147) - und sein Verständnis für Werther - "Ich war jedenfalls so weit, daß ich Old Werther verstand" (NL 147) - nicht als Widerspruch eines unreifen Denkens, sondern als logische Konsequenz eines individuellen Überschreitungsversuchs von Grenzen interpretieren. Das Ergebnis dieses Versuchs wird aber vom Verfasser dadurch relativiert, dass zwar die Grenzen auch hier - wie in Goethes Werther-Roman - durch den Tod verschwinden, hier aber nicht aus freier Entscheidung des Menschen, des reifen Bürgers, sondern durch einen "transzendenten Trick" des Verstorbenen, der "bei Basteleien unsachgemäß mit elektrischem Strom umgegangen war" - wie die Notiz in der "Berliner Zeitung" am Anfang des Romans mitteilt.

"Mensch" und "Bürger" sowie ihre "Wertevorstellungen" sind also die Schlüsselbegriffe, denen Werthers Aktualität zu verdanken ist. Diese Aktualität besteht für uns heutige und zukünftige "Europabürger" nicht nur in der allgemeinmenschlichen Problematik ("Gehindertes Glück, gehemmte Tätigkeit, unbefriedigte Wünsche sind nicht Gebrechen einer besonderen Zeit, sondern jedes einzelnen Menschen"(8)) des beschränkten individuellen Daseins. Für die Bürger Europas bedeuten die noch nicht verschwundenen alten Grenzen immer wieder neue Herausforderungen, nicht mehr die Standesgrenzen (wie in der Aufklärungszeit) oder die politischen Grenzen zwischen Ost und West (wie zur Zeit des Kalten Krieges), sondern Grenzen, die offiziell deklariert gar nicht existieren oder nicht mehr existieren sollten, die sich aber aus finanziell-ökonomischen, religiös-ideologischen oder national-geschichtlichen Gründen stärker bewahren als z. B. die Mauer in Berlin oder der Eiserne Vorhang an der Grenze von Österreich und Ungarn.

Wie lässt sich also der Werther-Diskurs weiterführen und nicht nur für Plenzdorfs DDR-Realität, sondern auch für das heutige Europa "aktualisieren"? Ganz allgemein formuliert: wenn alle Menschen in Europa als Bürger, oder umgekehrt, wenn alle Bürger Europas als Menschen leben (denken und fühlen) und ihre Existenz für wertvoll halten können, ganz unabhängig davon, wann die Einzelnationen offizielle Mitglieder der Europäischen Union werden, erst dann kann man auf den Willen zur Bewahrung der von Goethe vertretenen menschlichen Werte hoffen und erst dann könnte der Werther-Diskurs für die Zukunft Europas seine politisch-geschichtliche Aktualität paradoxerweise endlich verlieren.

© Márta Harmat (Szeged)

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ANMERKUNGEN

(1) Zitiert nach Peter Wapnewski: Zweihundert Jahre Werthers Leiden oder: Dem war nicht zu helfen. In: Plenzdorfs "Neue Leiden des jungen W.". Materialien, von Peter J. Brenner herausgegeben, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1982, S.340.

(2) Ulrich Plenzdorf: Die neuen Leiden des jungen W. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1973, S. 82. - Künftig wird mit der Sigle NL und Seitenzahl zitiert.

(3) Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werther. 11. Auflage. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1991, S. 50. - Künftig wird mit der Sigle W und Seitenzahl zitiert.

(4) Johann Wolfgang Goethe: Grenzen der Menschheit. In: Goethes Werke in zwei Bänden. Erster Band. München: Droemersche Verlagsanstalt 1953, S. 117.

(5) So nennt ihn Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792). - Vgl. Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts. Zweiter Band: Interpretation und Dokumentation. München: Wilhelm Fink Verlag 1979, S. 313.

(6) Vgl. Márta Harmat: Eisenbahnen - Zivilisationskritik und Kulturskepsis in Anna Karenina und Effi Briest. In: Wulf Segebrecht (Hrsg.): Europavisionen im 19. Jahrhundert. Vorstellungen von Europa in Literatur und Kunst, Geschichte und Philosophie. Würzburg: Ergon Verlag 1999, S. 190-198.

(7) Zitiert nach Manfred Eisenbeis: Lektürhilfen Ulrich Plenzdorf "Die neuen Leiden des jungen W.". 6. Auflage. Stuttgart Düsseldorf Leipzig: Ernst Klett Verlag 1997, S.60.

(8) Zitiert nach Peter Wapnewski: a. a. O., S. 327.


For quotation purposes - Zitierempfehlung:
Márta Harmat (Szeged): oethe und Plenzdorf aus heutiger Sicht. Zur Aktualität des Werther-Textes. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 14/2002. WWW: http://www.inst.at/trans/14Nr/harmat14.htm.

TRANS     Webmeister: Peter R. Horn     last change: 23.12.2002     INST