Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 14. Nr. Juli 2014

Liebesphilosophie auf Nietzsches Grundlagen

Endre Kiss (Budapest) [BIO]

Email: andkiss@hu.inter.net

 

Motto: "Der Taschenspieler und sein Widerspiel. – Das Erstaunliche in der Wissenschaft ist dem Erstaunlichen in der Kunst des Taschenspielers entgegengesetzt. Denn dieser will uns dafür gewinnen, eine sehr einfache Causalität dort zu sehen, wo in Wahrheit eine sehr complicirte Causalität in Thätigkeit ist. Die Wissenschaft dagegen nöthigt uns, den Glauben an einfache Causalitäten gerade dort aufzugeben, wo Alles so leicht begreiflich scheint und wir die Narren des Augenscheins sind. Die "einfachsten" Dinge sind sehr complicirt, – man kann sich nicht genug darüber verwundern!"

 

Friedrich Nietzsches philosophische Revolutionen brechen in der liebesphilosophischen Thematik mit ganz besonderer Kraft durch. Die Neuinterpretation des Kritizismus (zu ihrer Zeit fast ohne Vorgaenger), die neue Bestimmung des philosophischen Gegenstandes und der philosophischen Gegenständlichkeit wie auch die neue positive Weltbeschreibung auf der Grundlage einer exzessiven Relativierung des radikalen Philosophierens erweisen sich alle als besonders fruchtbar in der Thematik der Liebe. Hier geschieht exakt das, was unser Motto formuliert hatte. Die einfachsten und die kompliziertesten Kausalitäten folgen ohne Unterbrechung aufeinander, sie gehen aber auch ineinander über und wo wir gerade im Begriffe waren, die einfachste Kausalität am Werke zu ertappen, gerade der komplexeste Kausalzusammenhang auf uns zurücklächelt. Es ist aber auch umgekehrt der Fall. Wo ein Problemzusammenhang eben schon mythologisch vielschichtig vorkommt, finden wir plötzlich eine transparente und verblüffend einfache Lösung.

Die Liebe als Gegenstand ist bei weitem nicht der einzige, so doch jedenfalls einer der ganz besonders geeigneten Themenkreise für die Anwendung der Errungenschaften dieser philosophischen Revolution. All das ist aber nicht nur von der Seite der Wert- (und Wertungs-) freiheit aus so, sondern auch wegen dessen gesamtmenschlicher, kultureller und zivilisatorischer Bedeutung. Absichtlich nannten wir diese Dimension nicht "existentiell" oder "glücksphilosophisch-eudaimonistisch", weil diese Perspektiven allein Nietzsche diesen Gegenstand noch nicht so wichtig aufscheinen liessen – was sie in seinen Augen so wichtig macht, ist vor allem die "objektive" Relevanz der Liebesphilosophie, mitsamt ihrer weitreichenden "ökumenischen" Dimension.

Ein gemeinsames Element der hier sich ereignenden Begegnung dieser philosophischen Revolution und dieses besonderen philosophischen Gegenstandes ist die Ent-grenzung (womit wir den Begriff von Ulrich Christians in Anspruch nehmen). Diese Begegnung führt uns dazu, dass wir nicht nach voluntaristischen, sondern nach analytischen überlegungen uns mit der Aufweichung der begrifflichen Rahmen konfrontiert sehen müssen. Die Aufweichung dieser begrifflichen Rahmen, das Aufkommen neuer Konfrontationen an der Stelle der bisherigen Grenzen und Diskurslinien lassen das anfangs Gesagte nun von einer anderen Richtung her bestätigen. Kraft der grenzüberschreitenden und grenzverlegenden Relativierungen werden stets immer feinere positive Gegenstände und Inhalte wahrnehmbar, die bald auch mit dem Anspruch von neuen Wahrheiten und Wirklichkeiten auftreten können. Die Relativierung ist keine Dekonstruktion, vielmehr eine neue Konstruktion.

Vielleicht den am meisten enigmatischen Satz seiner Philosophie schrieb Arthur Schopenhauer in der Einleitung seines Hauptwerkes Die Welt als Wille und Vorstellung. Er lautet so: "Die Wahrheit ist keine Hure, die sich Denen an den Hals wirft, welche ihrer nicht begehren: vielmehr ist sie so eine spröde Schöne, dass selbst wer ihr Alles opfert noch nicht ihrer Gunst gewiss sein darf." (I, XVIII.) Der junge Philosoph war sich all dessen kaum bewusst, in wie vielen Zusammenhängen, in wie vielen Facetten dieser Satz entscheidend für sein ganzes Schicksal später noch sein würde. Ob er die Wahrheit am Ende erreichte oder nicht, darüber lässt sich jederzeit beliebig lange streiten. So viel steht aber fest, dass Arthur Schopenhauer tatsächlich "alles" für die Wahrheit geopfert hat. Er ordnete alles in sprichwörtlichem Sinne seiner Werbung für die Hand der Wahrheit unter.

Dieser Vergleich zwischen "Wahrheit" und "Weib" assoziiert die Vorstellungen einer ersten Liebe und diese Assoziation lässt sich bei Schopenhauer auch biographisch nachweisen. Uns scheint, dass es auch solche biographischen Gründe dafür gibt, dass diese Metapher auch eine tatsächliche Bedeutung für die Rekonstruktion der Schopenhauerschen Philosophie hat. Dabei empfiehlt es sich, dass wir uns die Bestimmungen der Wahrheit in "beiden" Philosophien Schopenhauers (d.h. der Philosophie der Vorstellung und der Philosophie des Willens) heraufbeschwören.

Dieser Vergleich (Wahrheit – Weib) spielt aber auch bei einer letzten Interpretation der Schopenhauerschen Philosophie eine fundamentale Rolle. Wie darüber noch die Rede sein wird, entscheidet dieser Satz die letztlich von Schopenhauer ihm geliehene Botschaft über die letzte Ausrichtung der ganzen Philosophie selber. Immerhin, Schopenhauer formulierte eine Metapher, deren heuristischer Wert vor allem Nietzsche zufolge kaum hoch genug einzuschätzen ist. Auch ohne weitere Erklärungen ist es klar, dass Schopenhauer letztlich von der Entscheidung zurücktanzt, diese Metapher zu einer Grundlage seiner Philosophie zu machen. Bei Nietzsche geschieht es gerade umgekehrt, auch ohne eine sichtbare Absicht strahlt sich dieser Gedanke auf immer breitere Gebiete seines Denkens aus. Dieses Zurückweichen Schopenhauers dürfte aber nicht vergessen machen, dass das eindeutige Thematisieren dieser Metapher und die bis dahin unvorstellbar eindeutige Betonung derselben nicht nur eine bedeutende Leistung, sondern auch eine mutige Tat gewesen ist.

Dieselbe Metapher muss bei Friedrich Nietzsche schon aus dem Grunde sowohl einen völlig anderen Kontext als auch eine ganz andere Bedeutung haben, weil die Philosophie Friedrich Nietzsche's im strikten Gegensatz zu Arthur Schopenhauer grundsätzlich anti-metaphysisch ist. Die bei Arthur Schopenhauer auch hinter der Metapher "Wahrheit – Weib" stehende metaphysische Konzeption fällt deshalb bei Nietzsche ganz weg. Auf eine wirklich ironische Weise verdeckt gerade das alltägliche, von allen erlebbare Phänomen der Liebe, ihre auch im Alltag erlebbare existenziale Bedeutung den philosophischen Unterschied, wonach die Metapher bei Schopenhauer voll und ganz den Rahmen der Willensmetaphysik untergeordnet ist, während sie bei Nietzsche einen vollkommen antimetaphysischen und diesseitigen Charakter aufweist.

In dem liebesphilosophischen Paradigma Schopenhauers steht hinter dem Geschlecht die Natur und da hinter dem Geschlecht auch die Realität steht, steht deshalb hinter der Geschlechtlichkeit auf eine unmittelbare Weise auch die Wahrheit. Originell wird dieser Gedankengang durch seine letzte Ausrichtung, auf welcher diese Gedankenkette auch einen direkten epistemologischen Auslauf haben wird. Erotik und Erkenntnis, Erotik und Epistemologie bilden somit auch einen gemeinsamen Schnitt ab. Eine ungewollte Schock- und überraschungswirkung geht von dieser Gedankenkette auch in dem Sinne aus, dass die These auf der Oberfläche jener umgreifenden desanthropomorphisierenden Tendenz auch entgegensteuert, die die "Wahrheit" auf den Wegen zu erreichen schien, die von den menschlichen (anthropomorphen) Dimensionen immer weiter entfernt lokalisiert sind. Schematisch dargestellt, erschien die Wahrheit also immer weiter vom Menschen entfernt, während die Liebe immer romantischer und irrationaler aufscheinen musste.

Hier erscheint jenes eigentümliche semantische Problem, das sich bei der logischen und kategorisierenden Problematik des "Glückes" generiert. Solche Begriffe sind in keinem Sinne des Wortes diskursiv abzuleiten. An einer Stelle der Kritik der reinen Vernunft nennt Kant beispielsweise das Glück einen "usurpierten" Begriff: "Wir bedienen uns einer Menge empirischer Begriffe ohne jemandes Widerrede und halten uns auch ohne Deduction berechtigt, ihnen einen Sinn und eingebildete Bedeutung zuzueignen, weil wir jederzeit die Erfahrung bei der Hand haben, ihre objective Realität zu beweisen. Es gibt indessen auch usurpirte Begriffe (!), wie etwa Glück, Schicksal, die zwar mit fast allgemeiner Nachsicht herumlaufen... doch man alsdann wegen der Deduction derselben in nicht geringe Verlegenheit geräth, indem man keinen deutlichen Rechtsgrund weder aus der Erfahrung, noch der Vernunft anführen kann, dadurch die Befugniss ihres Gebrauchs deutlich würde."

Schopenhauer erklärt dieselbe Schwierigkeit durchaus korrekt, wenn nicht schulmeisterlich, immerhin fasst er einen Teil des Zusammenhanges deutlich zusammen: "Der Begriff, den das Wort Gefühl bezeichnet, hat durchaus nur einen negativen Inhalt, nämlich diesen, daß etwas, das im Bewußtseyn gegenwärtig ist, nicht Begriff, nicht abstrakte Erkenntniß der Vernunft sei: übrigens mag es seyn, was es will, es gehört unter den Begriff Gefühl, dessen unmäßig weite Sphäre daher die heterogensten Dinge begreift, von denen man nimmer einsieht, wie sie zusammenkommen, so lange man nicht erkannt hat, daß sie allein in dieser negativen Rücksicht, nicht abstrakte Begriffe zu seyn, übereinstimmen. Denn die verschiedensten, ja feindlichsten Elemente liegen ruhig neben einander in jenem Begriff, z.B. religiöses Gefühl, Gefühl der Wollust, moralisches Gefühl, körperliches Gefühl als Getast, als Schmerz, als Gefühl für Farben, für Töne und deren Harmonien und Disharmonien, Gefühl des Hasses, Abscheues, der Selbstzufriedenheit, der Ehre, der Schande, des Rechts, des Unrechts, Gefühl der Wahrheit, ästhetisches Gefühl, Gefühl von Kraft, Schwäche, Gesundheit, Freundschaft, Liebe u.s.w.... So lange man nun diesen Begriff Gefühl nicht aus dem rechten Gesichtspunkte betrachtet und nicht jenes eine negative Merkmal, welches allein ihm wesentlich ist, erkennt, muß derselbe, wegen der übermäßigen Weite seiner Sphäre und seines bloß negativen, ganz einseitig bestimmten und sehr geringen Gehaltes, beständig Anlaß zu Mißverständnissen und Streitigkeiten geben... Der Ursprung jenes gegen alle andern disproportionirten Begriffs Gefühl ist aber ohne Zweifel folgender. Alle Begriffe, und nur Begriffe sind es, welche Worte bezeichnen, sind nur für die Vernunft da, gehn von ihr aus: man steht mit ihnen also schon auf einem einseitigen Standpunkt. Aber von einem solchen aus erscheint das Nähere deutlich und wird als positiv gesetzt; das Fernere fließt zusammen und wird bald nur noch negativ berücksichtigt... Dieselbe Einseitigkeit..., lässt sich, so sonderbar es auch klingt, die Vernunft selbst zu Schulden kommen, indem sie unter den einen Begriff Gefühl jede Modifikation des Bewußtseyns befaßt, die nur nicht unmittelbar zu ihrer Vorstellungsweise gehört, d.h. nicht abstrakter Begriff ist. Sie hat dieses bisher, weil ihr eigenes Verfahren ihr nicht durch gründliche Selbstkenntniß deutlich geworden war, büßen müssen durch Mißverständnisse und Verirrungen auf ihrem eigenen Gebiet, da man sogar ein besonderes Gefühlsvermögen aufgestellt hat und nun Theorien desselben konstruirt." (WWV, I. 86-87. – Sperrungen im Original.)

Die Grundsituation beleuchtet auch das tiefste, wenn nicht das allertiefste philosophische, sogar existentielle Dilemma Schopenhauers. Hätte Schopenhauer die Wahrheit-Weib-These mitsamt ihrer immanenten Glückskomponenten aufs Ganze seines Konzeptes projiziert, so hätte diese Entscheidung die von uns bekannte endgültige Gestalt der Willens-Metaphysik grundlegend transformiert. Hätte er sich also an dieser These grundsätzlich festgehalten, so hätte das dieser These zugrunde liegende Glücksprinzip es einfach nicht erlaubt, dass der fenster- und horizontlose Weltschmerz unberührt weiter vorherrscht. Mit der notwendigen Vereinfachung gesagt, es ist der (in der Position des positiv metaphysischen Prinzips auftretende) Wille, der uns wegen der Unerfüllbarkeit unserer Willenswünsche mit Notwendigkeit unglücklich und die ganze Philosophie pessimistisch macht – in diesem Konzept fehlt es nicht viel dazu, dass der (in der Position des positiv metaphysischen Prinzips auftretende) Wille die Liebe, das Liebesglück in den Mittelpunkt stellt, wonach mit derselben Mechanik der positiven Metaphysik, unser Sein mit derselben Notwendigkeit ewig glücklich macht... Lässt Schopenhauer auch nur einen einzigen Strahl des irdischen und überirdischen Glücks ins trostlos-dunkle Gefängnis des metaphysischen Unglücks herein, verändert sich seine ganze Philosophie mit Notwendigkeit. So hebt auch Harald Höffding hervor, dass bei Schopenhauer "in einem einzigen Rahmen eine ganze Reihe verschiedener Probleme in gewisser Verknüpfung" auftreten. Noch vielsagender ist Ernst von Asters kurze Definiton über Schopenhauers Philosophie: "Die Welt, gesehen durch ein Temperament", in der man mit nicht geringem Erstaunen eine Paraphrase der Zolaschen Bestimmung des literarischen Naturalismus identifizieren darf. Dadurch befriedigt Schopenhauers Philosophie eine Forderung, die am klarsten Elias Canetti aufgestellt hat: "Zu den unheimlichsten Phänomenen menschlicher Geistesgeschichte gehört das Ausweichen vor dem Konkreten. Es besteht eine auffallende Tendenz, erst auf das Fernste loszugehen und alles zu übersehen, woran man sich in nächster Nähe unaufhörlich stösst."

Auch unter einem anderen Aspekt lässt sich jedoch dieser Satz über Wahrheit und Weib deuten. Schopenhauers ganze Philosophie, sein extrem frühes Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung ist auch wie eine erste Liebe. Es ist geradezu furchteinflössend, wie starr und fixiert, wie unbeweglich Schopenhauer an seinem ersten Hauptwerk festhält, wie er Zeit seines Lebens nichts anderes als seine Aufgabe ansieht, jede neue Erkenntnis, jede Modifizierung seiner Ansichten gleich in den magnum opus eingebaut zu haben.

Eine relevante Dimension der von Schopenhauer durchgeführten Verknüpfung von Liebesphilosophie, Weib, Wahrheit und Glücksphilosophie erscheint bei Georg Simmel. Er beurteilt die moderne Frauenbewegung so, dass diese als irrelevant abtut, was jenseits des Glücks, der Freiheit oder des sozialen Chancen der Einzelnen steht. Die Behauptung bezieht sich auf jede Frau, die man auch als die Gesamtheit der Frauen benennen dürfte. Es geht also stets um persönliche "Güter", die den überpersönlichen Gütern und Werten keinerlei Raum mehr übrig lassen. Die Behauptung unterstreicht also unter einem anderen Blickwinkel die Relevanz der glücksphilosophischen Komponente dieses Zusammenhanges, denn sie zeigt, wie das Glück aus der philosophischen Komponente auch zur politischen wird.

Als identifizierende Evidenz, zunächst auch noch mit dem Weglassen der zu diesem Ergebnis führenden analytischen Argumentation vereint Schopenhauer und nach ihm Nietzsche den Diskurs der Erkenntnis und den der Liebe. Selbst die Identifizierung wird bei den beiden Philosophen unterschiedlich. Bei Schopenhauer bedeutet "Erkenntnis" die der Wahrheit einer essentialistischen Metaphysik. Dasselbe wird bei Nietzsche mit dem modernen und kritizistischen Arsenal des kritischen Empirismus formuliert und ausgeführt. Um so auffallender ist, dass der integrierende Zug, das Zusammenfallen des Lust-Prinzips und des Realitätsprinzips in beiden Konzepten identisch ist.

Es ist mit der grössten Evidenz auszuschliessen, dass Nietzsche mit Schopenhauers tabu-brechenden und an einer äusserst auffallenden Stelle des Lebenswerkes formulierten Paradoxon nicht konfrontiert gewesen wäre, der ja auch sein tiefes existentielles Problem aussagte. Einen ganz konkreten, schulmässigen Hinweis kennen wir in Nietzsches Texten auch nicht. Diese Tatsache lässt sich aber ohne Schwierigkeiten erklären. In der ersten philosophischen Periode Nietzsches konnte dieses Moment rein aus thematischen Gründen nicht aufkommen. In der zweiten und dritten (über Schopenhauer längst hinausgehenden) philosophischen Periode erscheint Schopenhauer mehrheitlich bei der Deutung und Illustration des Phänomens der Metaphysik und des metaphysischen Denkens, während darin der Name Schopenhauers nicht selten verschwiegen wird, was auf den menschlichen Takt und die persönliche Loyalität Nietzsches Schopenhauer gegenüber zurückgeführt werden dürfte. In der Beschreibung werden die Umrisse des Denkens Schopenhauers sichtbar, der Name wird des öfteren nicht genannt. Eine deutliche Ausnahme bildet, wie es beispielsweise im Falle des Jenseits von Gut und Böse geschieht, dass die grundlegende Metapher in einer strukturell so relevanten Position angeführt wird, dass es bei dem gebildeten Leser den Namen Schopenhauers mit Notwendigkeit vergegenwärtigt.

Es ist eine entscheidende wissenschaftstheoretische und gleichzeitig philosophische Lehre, dass die Wahrheit-Weib-Konzeption tatsächlich entzaubernd auswirkt. Sie tut es sogar aus beiden Richtungen gleichzeitig. Es reicht aus, daran zu denken, dass sowohl die "Wahrheit" als auch die "Liebe" (als Synonym für Weib) von Anfang an durch die Optik von zahlreichen "verzauberten" Deutungen gesehen wird, was in der Alltagssprache auch als romantisch bezeichnet werden kann.

All das ist aber nur die eine Seite dieser Nietzsche so tief qualifizierenden Konsequenz. Die andere Seite besteht darin, dass der Philosoph an dieser Stelle in einem durchaus relevanten Zusammenhang demonstriert, was mit der tiefsten Orientation seiner eigenen Philosophie identisch ist. Seine Philosophie ist nämlich durchgehend Kritizismus (fassen wir hier die "entzaubernde" Orientation unter diesem Namen zusammen). Seine Philosophie ist aber zur selben Zeit eine Ankündigung neuer Werte (fassen wir hier seinen Anspruch unter diesem Namen zusammen, neue und nunmehr denkerisch legitime "Zauber" hervorzubringen).

Dadurch erschafft er anstatt den von der Kritik delegimierten Werten solche neue Werte, die sich mit den tiefsten humanen Intentionen wieder so tief und so organisch verbinden können, dass sie dann für kommende Generationen wieder als (nunmehr legitime) Zauber aktiv werden können. Die auf die Wahrheit-Weib-Metapher gegründete Liebesphilosophie entzaubert die Liebe, durch dieselbe Metapher erschafft sie aber auch die Möglichkeit, durch diese Identifizierung der Wahrheit und des Weibes die Liebe wieder mit einem neuen Zauber zu versehen.

Die Metapher Wahrheit-Weib ist ganz besonders geeignet, die durchgehende und gleichzeitig neuartige Kohärenz von Nietzsches Philosophie aufzuweisen. Wie genügend bekannt, lebte und lebt immer noch der Verdacht gegen Nietzsche, wegen oder auch unabhängig von der aphoristischen Struktur seiner Philosophie weitgehend inkohärent zu sein, was man umgangssprachlich nicht selten so formuliert, dass Nietzsche vieles sagt, er sage aber des öfteren auch das Gegenteil des einmal Gesagten. So eine weitverzweigte und in unerwartet zahlreiche Kontexte hineingeführte Metapher wirkt aber wie eine indirekte Möglichkeit, durch die einzelnen Gebräuche gleichzeitig auch die Kohärenz der hinter den Aussagen stehenden Denkweise problemlos aufzuzeigen. Mehr noch, diese Untersuchung kann aufweisen, dass Nietzsches Denken nicht einfach kohärent, sondern auch super- oder hyperkohärent ist. Diese Metapher reicht nicht nur durch die einzelnen schöpferischen Perioden des Denkers (von Dionysos bis zu der Wagner-Kritik der späten Jahre) hindurch, sie reicht aber auch in die Territorien der Erkenntnistheorie, der ästhetik, der Anthropologie oder auch der Ethik tief hinein. Die im Gebrauch nachweisbare Kohärenz wirkt unvermeidlich als ein Beweis dieser Hyperkohärenz, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil die hier sich zeigende unmöglich nur eine einzige bewusste Entscheidung gewesen sein dürfte, da es psychologisch unmöglich ist, eine so eindeutige Semantik bewusst durch so viele konkrete Texte und Kontexte hindurchzuführen.

Gerade die (wie es in der früheren Literatur der Theorie der Kunstanalyse und der Explikation des Textes ausgesagt wurde) "Wanderung" der Motive dürfte am eindeutigsten die Kohärenz eines dichterischen oder eines philosophischen Werkes aufweisen, denn, wie gesagt, die sich hier ergebende Kohärenz ist eindeutig von starker Beweiskraft, denn es bleibt hier immer ausgeschlossen, dass selbst die Wanderung eines Motives von einem zielgerichteten dichterischen oder philosophischen Willen geleitet werden konnte. Auf diese Weise wird von allein demonstriert, dass der Zusammenhang und die Kohärenz selbst vom Willen des Autors unabhängig, d.h. authentisch und für die Analyse von grosser Authentizität werden dürfte. Wir werden hier mit einer interessanten Dialektik konfrontiert – die Steigerung der Ungewissheit führt zur expliziten Verifizierung eines höheren Niveaus der Gewissheit.

Erkenntnis (Wahrheit) und Weib werden bei Georg Simmel, diesem von Nietzsche in so vieler Hinsicht abhängigen frühen Klassiker der Soziologie, in einem neuen und interessenten Kontext identifiziert. In Simmels Goethe-Interpretation wird die "urbildhafte" und organische Vollständigkeit und Ganzheit der Frau den spezifisch für die Männer charakteristischen "Zerspaltungen" gegenübergestellt, wobei der Mann durch seine sozial stark differenzierte Tätigkeit von seinem eigenen "Zentrum", von seinem eigenen "Urbild" immer weiter entfernt wird.

Wendet man diese Metapher auf die Wahrheit-Weib-Metaphorik an, so kann man sagen, dass eine Erkenntnis, die die Prinzipien des zur Liebe führenden richtigen Weges in ihrer Erkenntnisarbeit benützt, gleichzeitig auch dessen Weg, dass der Mann zu seinem eigentlichen Zentrum zurückkehrt, zu jenem Zentrum, das er in seiner konkreten sozialen Tätigkeit, die unter dem Zwang der funktionalen Differenzierung steht, stets von sich ausschliessen muss.

Der breitere Sinn der Liebesphilosophie gilt als ein unendlich reicher und differenzierter Diskurs von der Frau, der Liebe und – wie es bei einem eudaimonistischen Philosophen kaum anders ausfallen kann – auch vom Glück.

Die nunmehr im streng epistemologisch Sinne verstandene Metapher von Wahrheit und Weib gravitiert zunächst in der Richtung des Entwerfens einer richtigen Grundattitüde. Darin zeichnet sich zweifelsohne einer der grundlegendsten Einsichten dieser Liebesphilosophie ab.

Einerseits so, dass der zur Erkenntnis des Gegenstandes (und der Warheit!) führende richtige Weg demselben des Mannes zur Frau durchaus entsprechen kann. Die tiefe Analogie zwischen Erkenntnis und Liebe ist sonach die Gegenstandskonstitution selber! Die Erkenntnis wird zum Gegenstand (der Erkenntnis) und zur Erzielung des richtigen Ergebnisses mit ähnlicher Relation verbunden, mit welcher der Liebende mit dem Gegenstand seiner Liebe oder der denkende Mann mit der Welt verbunden ist. Eines der wichtigsten Beispiele, welches zwar ästhetisch orientiert ist, nichtsdestoweniger aber auch die universale Gegenstandskonstitution involviert, ist der folgende Text: "Vita femina. – Die letzten Schönheiten eines Werkes zu sehen – dazu reicht alles Wissen und aller guter Wille nicht aus; es bedarf der seltensten glücklichen Zufälle, damit einmal der Wolkenschleier von diesen Gipfeln für uns weiche und die Sonne auf ihnen glühe. Nicht nur müssen wir gerade an der rechten Stelle stehen, diess zu sehen: es muss gerade unsere Seele selber den Schleier von ihren Höhen weggezogen haben und eines äusseren Ausdruckes und Gleichnisses bedürftig sein, wie um einen Halt zu haben und ihrer selber mächtig zu bleiben. Diess Alles aber kommt so selten gleichzeitig zusammen, dass ich glauben möchte, die höchsten Höhen alles Guten, sei es Werk, That, Mensch, Natur, seien bisher für die Meisten und selbst für die Besten etwas Verborgenes und Verhülltes gewesen: – was sich aber uns enthüllt, das enthüllt sich uns Ein Mal! – Die Griechen beteten wohl: 'Zwei und drei Mal alles Schöne!' Ach, sie hatten da einen guten Grund, Götter anzurufen, denn die ungöttliche Wirklichkeit giebt uns das Schöne gar nicht oder Ein Mal! Ich will sagen, dass die Welt übervoll von schönen Dingen ist, aber trotzdem arm, sehr arm an schönen Augenblicken und Enthüllungen dieser Dinge. Aber vielleicht ist diess der stärkste Zauber des Lebens: es liegt ein golddurchwirkter Schleier von schönen Möglichkeiten über ihm, verheissend, widerstrebend, schamhaft, spöttisch, mitleidig, verführerisch. Ja, das Leben ist ein Weib!" (Fr. N. W. IV/§ 339.)

Mehrheitlich in der dritten philosophischen Phase Nietzsches wird aber das ganze Problem der Gegenstandskonstitution mit einem weiteren konkreten Sinn ergänzt, und zwar mit dem der Erscheinung des Gegenstandes, der Maske, der freiwilligen oder erzwungenen Modifizierung des Erscheinens des Gegenstandes. Nietzsche kommt mit erstaunlicher Konsequenz und mit erstaunlicher Logik auch auf diese Veränderung zurück. Der Erkennende ist wohl beraten, wenn er davon ausgeht, dass der Gegenstand oft hinter einer Maske, d.h. als eine Maske erscheint. Mit dieser Befindlichkeit kann er sich dann nur so auseinandersetzen, wenn er sich seinem Gegenstand mit der Strategie des Mannes nähert, mit der sich der Mann auf einer liebesphilosophisch richtigen Weise seiner Geliebten nähert.

Nicht weniger inventiös dehnt Nietzsche die nunmehr umfassende Analogie der Erkenntnis und der Liebe auch auf das Territorium der Kommunikation aus. Die sprachliche Formulierung der Liebe und der Erkenntnis, die in beiden Fällen mit einer Kommunikation mit der eigenen gegenständlichen Sphäre gleich ist, wobei zu dieser Kommunikation gerade wegen der heuristischen Dimension und der definitionsmässig involvierten Kreativität und Innovation keine bereits fertig da liegenden Klischees und Schablonen mit der Hoffnung der Effektivität eingesetzt werden können. Auf dieser Grundlage ist es dem Erkennenden wieder geboten, eine Kommunikation zu wählen, welche der inventiös Liebende zur Kommunikation mit seiner Geliebten auswählt, wie es auch dem Liebenden wieder einmal geboten wird, eine Kommunikation mit der Geliebten zu wählen, welche der methodisch vorgehende und kreative Erkennende mit seinem Gegenstand in Gang setzt.

Nietzsches Liebesphilosophie umfasst ausser der Wahrheit-Weib-Metaphorik auch noch weitere neun selbständige ganzheitliche Konzepte, die auch markante epistemologische Dimensionen aufweisen. Es wäre nicht zu leugnen, dass auch sie auf die Wahrheit-Weib-Metaphorik eigentlich zurückgehen, ohne mit ihr identisch zu sein. Die insgesamt zehn Liebesphilosophien Nietzsches unterscheiden sich jedoch in dem Punkt schon markant, dass ein Teil von ihnen als Realisationen von Nietzsches positiver Wesensschau und als von ihm unterstützten Positionen angesehen werden dürften, während ein anderer Teil von ihnen als Position von philosophischer Beschreibung und Analyse interpretiert werden muss, die in ihrem Reichtum gerade Nietzsches philosophischen Perspektivismus in seiner Produktivität illustrieren. Nicht alle zehn Liebesphilosophien sind also in dem Sinne Nietzsches Konzepte, dass er sie befördern und anderen vorschlagen würde, diese sind aber insofern doch Nietzsches Liebesphilosophien, dass es Nietzsche war, der sie theoretisch und begrifflich ausformulierte und sie als Schatz des diskursiven Denkens anderen geöffnet hat.

Diese von Nietzsche herausgeabeiteten (und auch im einzelnen sich historisch sehr produktiv erweisenden) Liebesphilosophien sind die folgenden: die "Weiningersche", die platonische, die Liebe intepretiert von der Position der "generellen Differenz" aus, die Schopenhauersche, die Liebe im Kontext der kompromittierenden Aufklärung, die "genealogisch", ferner die "methodologisch" interpretierte Liebe, sowohl die Liebe gesehen unter dem Aspekt der pansexuellen Residuen und des Christentums.

Diese liebesphilosophischen Ausgangspunkte unterscheiden sich deutlich voneinander (nicht zu vergessen, dass bei weitem nicht alle Nietzsches "eigene", von ihm affirmierte Liebesphilosophien sind), in letzter Sicht verbindet sie jedoch die Einsicht, dass die Wahrheit "Weib" ist, dass heisst die (wirkliche) Liebe mit dem Glück identisch und dadurch ihre Wahrheit für den Menschen den wichtigsten Beitrag für den Erfolg seines Schicksals ausmacht. Immerhin bleibt Nietzsches Ausgangspunkt in der Liebesphilosophie die Wahrheit-Weib-Metapher, seine wichtigste Gestalt Carmen, seine relevanteste Musik als Medium der Liebesphilosophie Bizet's Carmen, die für ihn genau die Rolle spielte, wie sie Mozart's Don Giovanni für Kierkegaard spielte.

Einerseits möchten wir klar unter Beweis stellen, in wie weit verbreiteten thematischen Kreisen Nietzsche diese Metapher anwendet, womit wir auch unsere frühere These beweisen möchten, dass – so unerwartet es auf den ersten Augenblick auch klingen mag – sie ist mit grosser Wahrscheinlichkeit Friedrich Nietzsches am häufigsten gebrauchtes Bild mit heuristischen Absichten ist. Andererseits möchten wir das Nachweisen dessen zumindest vorantreiben, dass durch die extrem häufige Anwendung dieser Metapher Nietzsches philosophisches Fragen nach der Realität eine konkrete Gestalt annimmt, die Nietzsches ganze Philosophie als ein Denken herausstellt, das man Glücksphilosophie, Eudaimonismus nennen sollte. In dieser Velleität erinnert Nietzsche durchaus schon an Freud, nach dessen Frageweise die menschliche Realität eine ganz konkrete Gestalt als Glücksphilosophie angenommen hat.

In der folgenden Kritik der Märtyrer-Rolle des Wissenschaftlers dachten und denken wir gewiss nicht daran, dass der Schlüssel dieser Attitüde von Nietzsche eben durch die Wahrheit-Weib-Metapher gegeben wird. Die aktualisierte Neuformulierung und Neuadaptation der Metapher erfolgt jedoch sehr exakt (JGB/25). Als die letzten Fragen der Wissenschaft und des wissenschaftlichen Verhaltens aufkommen, wird die Kritik an der selbstmythologisierenden Märtyrerrolle des Wissenschaftlers selber zum Inhalt. Für uns ist diese Stelle unter jenem Aspekt von der ausgezeichneten Bedeutung, weil hier sich die Grundrelation manifestiert: In dieser scheinbar wirklich unerwarteten Situation verwandelt sich die Erkenntnisrelation in eine Liebesrelation: "Nach einem so fröhlichen Eingang möchte ein ernstes Wort nicht überhört werden: es wendet sich an die Ernstesten. Seht euch vor, ihr Philosophen und Freunde der Erkenntniss, und hütet euch vor dem Märtyrium! Vor dem Leiden 'um der Wahrheit willen'! Selbst vor der eigenen Vertheidigung! Es verdirbt eurem Gewissen alle Unschuld und feine Neutralität, es macht euch halsstarrig gegen Einwände und rothe Tücher, es verdummt, verthiert und verstiert, wenn ihr im Kampfe mit Gefahr, Verlästerung, Verdächtigung, Ausstossung und noch gröberen Folgen der Feindschaft, zuletzt euch gar als Vertheidiger der Wahrheit auf Erden ausspielen müsst: – als ob 'die Wahrheit' eine so harmlose und täppische Person wäre, dass sie Vertheidiger nöthig hätte! und gerade euch, ihr Ritter von der traurigsten Gestalt, meine Herren Eckensteher und Spinneweber des Geistes!" Dieser Text von hoher Relevanz zeigt demonstrativ nicht nur Nietzsches kohärente Logik, sondern auch die Vitalität der Metapher, deren Gebrauch stets nur Wege vor der weiteren Reflexion eröffnet. Es ist nur eine unerahnte Steigerung des Erkenntniswertes dieser Metapher, dass sie auch in der Cervantes-Interpretation neue Zugänge ermöglichen kann. Diese Suggestion erhält die Möglichkeit, den Schlüssel zum Schicksal des traurigen Ritters möchten nicht Motive des inadäquaten Bewusstseins ("er las zu viele Ritterromane"), vielmehr die schlechten liebesphilosophischen Einstellungen selber liefern! Disziplinär konkretisiert heisst es, dass nicht das falsche Bewusstsein, sondern die falsch aufgefasste Liebesphilosophie der Grund ist, an welchem die Beziehung des Ritters zur Realität zerbricht.

Eine weitere relevante Dimension in der Anwendung ist Nietzsches auch in der Wissenschaft folgenreiche Gegenüberstellung zwischen Können und Wissen (JGB/253). Der schaffende Mensch ist freilich eher einer des Könnens, dessen Konfrontation mit dem Wissen auch die Anwendung der liebesphilosophischen Metapher mit neuen Aspekten bereichern kann.

"Alles, was tief ist, liebt die Maske", lesen wir an nicht wenigen Stellen bei Nietzsche (unter anderen: JGB/40). Alles, was man nur schwer erkennen kann, alles, was es sich nur wirklich lohnt, zu erkennen, verhält sich sonach dem Erkennenden gegenüber so, wie die Frau dem Mann gegenüber in Nietzsches Liebesphilosophie. Diese positive Empfehlung nimmt schon gegenständliche Gestalt an, sie erscheint schon als epistemologisch zu konkretisierende Analogie.

Die Wahrheit-Weib-Metapher hilft, die "Masken" der Gegenstände zu erschliessen (auch die Maske der Gegenstände in der Philosophie und Wissenschaft).

Die Produktivität dieser Metapher zeigt sich unter anderen darin, dass die Erkenntnis sich stets auf neue Gegenstände richtet, selbst wenn sie von "Routine" geleitet wird. Mit der Sprache unserer Metapher formuliert, es gibt keinen Gegenstand, der keine "Maske" tragen würde. Es gibt keinen von Anfang an erkannten Gegenstand, es gibt keinen Gegenstand ohne Maske. Es gibt keinen Gegenstand, mit dem man sich auseinandersetzen müsste, mit dem man nicht "kämpfen" müsste, wodurch der Inhalt der Metapher voll in Geltung kommen kann. Erwiese es sich als notwendig, so muss der Erkennende jenes Tabu brechen, das es aktuell verhindert, den Gegenstand zu erkennen, zur Tiefe des Gegenstandes zu gelangen, der es notwendig hatte, sich mit einer Maske zu verbergen.

Von der Maske kommt man notwendigerweise zum Tabu, vom Tabu zu der nur selten voll realisierten Einsicht: Jede Erkenntnis verändert die Wirklichkeit, ändert den status quo, wirft bestehende Verhältnisse um, revolutioniert Identitäten. Dies alles heisst, dass somit – natürlich im Prinzip – jede Erkenntnis Widerstand auslösen muss. Die "Maske" ist gleichzeitig auch eine Spielart des Scheins, wodurch die Erkenntnis bei Nietzsche gewiss ungewollt auch Hegelsche Formen annimmt.

Die Vorstellung der "Maske" verkörpert die Wahrheit-Weib-Metapher gegenständlich. Die richtige Hypothese der Gegenstandskonstitution ist demnach, dass jeder Gegenstand der Erkenntnis auch eine "Maske" trägt. Die Gegenstände zeigen ihr Wesen auf der Oberfläche nicht. Würde man experimentell auf diesem Faden noch weitergehen, so könnte man auch annehmen, dass die Gegenstände direkt das Gegenteil dessen zeigen, was sie sind. Und die Metapher verzweigt sich noch in immer weitere Richtungen. Was tief ist, kann freiwillig eine Maske tragen. Das Tiefe kann aber darüber hinaus auch noch zahlreiche weitere Gründe haben, Maske zu tragen (aus intellektueller Freiheit, aus Scham, aus Spiel, wegen Tabus oder auch noch aus vielen weiteren Gründen). Der "tiefe" Gegenstand entscheidet aber immer, ob er eine Maske trägt oder nicht. Masken entstehen aber auch unfreiwillig, sie entstehen "autopoietisch", aus falschen Bewusstseinsformen, aus Kommunikationsschwierigkeiten, aus Machtambitionen, wegen Propaganda, Feindbildbildung, wegen falschen Strategien und unzureichenden Instrumentarien der Erkenntnis. Auch gegen seinen eigenen Willen kann etwas sich anders zeigen, was wichtig ist. Dadurch gewinnt die Metapher "Maske" eine sozialontologische Dimension, die in der Erkenntnis schon mit Notwendigkeit zur Geltung kommt.

Einen weiteren Typ der Liebe, der Liebesphilosophie und der Anwendung der Metapher "Wahrheit-Weib" bedeutet das von Nietzsche erstaunlich früh wahrgenommene Phänomen der schlecht durchgeführten Emanzipation, die rückwirkend auch die Aufklärung selber kompromittieren kann. Die Beschreibung dieser kompromittierenden Aufklärung gilt auch als Volltrefferin von sozial-ontologischer Sicht. Die Emanzipation lässt sich im Banne von konstruktiven Werten organisieren, sie polarisiert, lässt eine Revolution ausbrechen und am Ende auch siegen. Nietzsche beschreibt als eine der Folgeerscheinungen dieses Prozesses, dass die bereits Siegreichen, die im Zeichen von emanzipativen und emanzipierenden Werten gesiegt haben, bald anfangen, diejenigen nachzuahmen, die bis dahin über ihnen standen (und konsequenterweise noch nicht im Zeichen von emanzipativen Werten diese Macht ausgeübt haben). Konkret kann es in der Liebesphilosophie auch heissen, dass die neu emanzipierten Frauen auch die schlechtesten Männereigenschaften nachahmen können, über die sie früher noch nicht verfügen konnten, darüber ganz zu schweigen, dass es Eigenschaften sind, die sich möglicherweise früher noch konkret gegen Frauen gerichtet haben mögen. So entsteht jene auf den ersten Augenblick paradoxe Situation, dass das, was Nietzsche in dieser konkreten Perspektive in den Frauen für positiv hält, eben ihre Natur ist und was er für negativ anschaut, das mag eben die frisch aufgesetzte emanzipative Maske sein. Nietzsche beschreibt dabei diesen Aspekt des universalen Emanzipationsvorganges so perfekt, dass es nicht mehr nur der Frau gilt, sondern vielmehr jedem sozialen Subjekt oder Akteur, die den Emanzipationsprozess durchmachen.

Nicht die einzige, immerhin einer der wesentlichsten Anwendungen der Wahrheit-Weib-Metapher im breiten Kontext der kompromittierenden Aufklärung betrifft wieder das männliche Verhalten. In dem Männer – bewusst, aber auch unbewusst – die Frauen immer noch aus "verzauberte", "zauberhafte", immerhin mit dem Phänomen des diesseitigen Zaubers zutiefst verbundene Wesen anschauen und sie auch als solche ansprechen, nehmen sie auch an der ständigen Reproduktion der kompromittierenden Aufklärung teil, sie selber schaffen die Rahmen durch ihre Pflege des romantischen Frauenkults, dass unzeitgemässe und dadurch oft inadäquate Frauenrollen auf den Plan treten.

Die Wahrheit-Weib-Problematik, die Liebesphilosophie eröffnet neue Problemfelder auch in der Interpretation des Christentums. Aus Gründen, die aus der Logik der aufeinander folgenden Perioden in Nietzsches Lebenswerk unschwer verständlich sind, zeigt sich dieses Eindringen der Liebesphilosophie in die Interpretation des Christentums hauptsächlich in der dritten Periode Nietzsches. Indem hier die Moralgenealogie zur selbständigen Disziplin wird, erscheint an der psychologischen Seite der Moralgenealogie die Liebesphilosophie auf logische Weise an einer der allerersten Stellen.

Mehr noch: ungewollt wird Liebesphilosophie auch Ausgangspunkt. Christentum erscheint als eine Denk- und Lebensweise, die sich – als diesseitige Askese – gegen menschliche Primärimpulse richtet.

Während Nietzsche (AC/56) Manus Gesetzbuch als ein Werk bezeichnet, das der Frau so viel "liebe und gütige" Dinge sagt, wie kein anderes, stellt er an einer anderen Stelle (JGB/189) von den religiösen Neurosen fest, dass sie stets mit den drei gefährlichen "Diät-Vorschriften" zusammengehen (Einsamkeit, Fasten und geschlechtliche Enthaltsamkeit), ohne dass man hier unterscheiden könnte, was hier Grund und Ursache ist, oder überhaupt, ob hier eine kausale Beziehung überhaupt besteht (JGB/47). Die andere Dimension ist, dass er gerade wegen dieser Vorschriften auch lobend über das Christentum redet, weil sich eben dadurch der Geschlechtstrieb zur Liebe (amour-passion) sublimieren konnte.

Das durch das Leugnen des Willens zusammengehende "Heilige" machte aus Schopenhauer einen Philosophen: "Wie ist Willensverneinung möglich? wie ist der Heilige möglich? das scheint wirklich die Frage gewesen zu sein, bei der Schopenhauer zum Philosophen wurde und anfieng. Und so war es eine ächt Schopenhauerische Consequenz, dass sein überzeugtester Anhänger ... Richard Wagner, das eigene Lebenswerk gerade hier zu Ende brachte" (JGB/47). In Wagners Kundry meint Nietzsche den "letzten Ausbruch der religiösen Neurose" zu entdecken, "wo die Irrenärzte fast aller Länder Europa's einen Anlass hatten, ihn aus der Nähe zu studiren"...(ebda). Dies zeigt auch unter einem gewissen Aspekt, was Nietzsche unter "Dekadenz" verstanden hat. Und schon als eine Konsequenz des Eindringens der Liebesphilosophie in die Interpretation des Christentums hört sich Nietzsches folgende These an: "Das Christenthum gab dem Eros Gift zu trinken: – er starb zwar nicht daran, aber entartete, zum Laster." (JGB/168).

Der in jedem Zusammenhang sehr gründliche, geschulte und stets ausgeglichene Genealoge Nietzsche, versieht auch die Phäaenomenenwelt des Tabus und der Tabuisierung mit der Rekonstruktion ihrer wahren Genealogie ("Fast Alles, was wir 'höhere Cultur' nennen, beruht auf der Vergeistigung und Vertiefung der Grausamkeit" JGB/229).

Die Heraufbeschwörung der auch mit der Erotik verbundenen Tabus verknüpft sich auch mit neuen Einsichten der entlarvenden Psychologie. Selbst die sich gegen die Sinnlichkeit gerichteten Attitüden, die Welt-Zerstückelungen, die Bereinigungen der Welt von der Sinnlichkeit, der "Entsinnlichung, Entfleischung, Zerknirschung..., (der) ...Gewissens-Vivisektion und des Pascalischen sacrifizio dell'intelletto" sind sinnlich motiviert.

Nietzsche fasst zivilisationskritisch und geschichtsphilosophisch zum ersten Mal zusammen, was im späteren zur allgemeinen Einsicht geworden ist. Die religiöse Moral hat die Sexualität tabuisiert, deshalb ist die Sexualität zum wichtigsten und auch weit über sich selbst hinausweisenden Sammelbegriff (und Sammelphänomen!) aller tabuisierten Gegenstände geworden!

Dieser sich lang hinziehende Zustand der Tabuisierung und des Tabuisiertseins trägt später dazu bei, dass diese Metapher so überdurchschnittlich produktiv und kreativ wird, denn es war gerade die Tabuisierung, die die Anwendung dieser Metapher praktisch verboten hat, die Tabuisierung liess das Erkenntnispotential förmlich einfrieren. Je stärker eine Idee tabuisiert wird, desto mehr kreative Möglichkeiten werden im Augenblick der Befreiung vor der Tabuisierung erlebbar. Der abstrakte Begriff des geistigen Mutes gewinnt gerade angesichts der Tabuisierung ihre wahre Bedeutung. Tabuisierung bedeutet stets einen sozialen Befehl, einer Idee oder einer Erkenntnis nicht folgen zu dürfen. Der geistige Heroismus gewinnt seine Bedeutung im Alltag.

Wie angedeutet, die religiöse Moral tabuisierte die Sexualität, die Sexualität wurde aus diesem Grunde der wohl wichtigste und sichtbarste Sammelbegriff aller tabuisierten Objekte verschiedenster Provenienz (denke man dazu an dieser Stelle auch Schopenhauers Behauptung hinzu, wonach alles, woran wir nicht denken dürften, einen sexuellen Inhalt hat). Nietzsches Verdienste bei der Entdeckung und ersten Beschreibung von Tabu und Tabuisierung sind nicht zu übertreffen, doch lässt ihm auch an dieser Stelle Sigmund Freud volle Gerechtigkeit widerfahren, indem er in seiner Psychopathologie des Alltagslebens wie eine Enzyklopädie der Tabuisierung auf der Ebene des Alltagslebens und des Alltagsbewusstseins auf den Tag legt.

Die Vereinigung der Erkenntnis und der Liebesphilosophie ist auch die überwindung der bis dahin erzielten Komplexität der Philosophie (und als solche den modernen Entwicklungen des Nietzsche-Marxismus, des Freudo-Marxismus und des Hegel-Marxismus nicht ganz unähnlich).

Die Metapher "Wahrheit-Weib" wird aber auch auf umfassendere Entitäten hinausprojiziert. Sie kann das "Genie" von ganzen Völkern bestimmen. Bei der Beschreibung von der Geistigkeit und der Schöpferkraft von historischen Kulturvölkern wird die Grundbestimmung fast masslos hyperbolisiert (JGB/248).

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit konnten wir nunmehr zehn Arten der liebesphilosophischen Auffassung bei Nietzsche unterscheiden. Zuerst ist diese Zusammenstellung nicht vollständig, sie kann es auch nicht sein, weil man einerseits die zehn Typen sich in weitere Typen auflösen kann, aber andererseits auch andere Einsichten aus Nietzsches Texten neu als selbständiger Typ aufgebaut werden können. Gemeinsam ist diesen Typen, dass sie in irgend einem konkreten Bezug auf die Wahrheit-Weib-Metapher zurückgehen, während man nicht sagen kann, dass alles Typen von Nietzsche persönlich affirmiert und unterstützt gewesen wären, wie so oft in einer perspektivistischen Philosophie, manchmal wechseln Einsichten, die als die eigene Einsicht des Philosophen dürften aufgefasst werden mit anderen Einsichten, die mit beschreibendem Charakter analysieren, was ist. Trotz dieser Anzahl der liebesphilosophischen Typen darf man doch nicht von einheitlichen Liebesphilosophie bei Nietzsche reden. Würde man so eine Synthese herstellen, so wäre sicherlich die Wahrheit-Weib-Metapher der Schlüssel für sie.

Es gibt aber auch einen anderen Grund von einer anderen Provenienz, weshalb man in absehbarer Zeit keine zusammenhängende Liebesphilosophie Nietzsches rekonstruieren kann. Es ist das spezifische Nebeneinander zwischen Liebesphilosophie und Affektenlehre, das dies einstweilen verunmöglichen würde, obzwar vor allem aus dem von Spinoza vererbten Grunde, dass es in der Affektenlehre keinen systematischen Ort für Liebe und Liebesphilosophie existiert. Scheinbar kommt Nietzsche in seinen schöpferischen Jahren nicht mehr zu einem ganzheitlichen Aufeinanderbeziehen von Liebesphilosophie und Affektenlehre, in dieser gegebenen Situation sind wir einstweilen auf Spekulationen angewiesen. Immerhin haben diese beiden gewaltigen Imperien in Nietzsches Werk auch eine zeitliche Dynamik, gewiss war der (wohl nicht ganz bewusst) Schritt für Schritt vor sich gehende Aufbau der Liebesphilosophie der zeitlich erste Gedankenkreis, mitsamt seiner positiven Integrationskraft der positiven menschlichen Triebe und Energien, während die meistens die negativen Energien mobilisierende von Spinoza übernommene Affektenlehre gewiss auch der zeitlich spätere holistische Vorgang war, der immerhin in jener Eigenschaft exzellierte, dass er Nietzsches Sinn für Differenzen und Komplexität erheblich zurückwarf, was selbstverständlich nichts gegen die lange Reihe der Entdeckungen und Innovationen der dritten Periode aussagt.

Das richtige Ermessen der realen Relation zwischen Liebesphilosophie und Affektenlehre bei Nietzsche wird nicht gerade erleichtert dadurch, dass Spinoza selber es war, der die Liebesproblematik aus der Affektenlehre bewusst ausgesperrt hat. Diese Tatsache spricht direkt gegen die Erwartungen, und zwar sowohl bei Nietzsche als auch bei Spinoza selber. An einer Stelle (Et. III. 13.) betrachtet Spinoza – auf eine nicht gerade allzu spezifische Weise – die Liebe als ein Lust- und Freudensgefühl, das sich mit der Idee einer äusseren Ursache verbindet, in seinem grossen Werk ergänzt er dann diese Bestimmung nur dadurch, dass er dieses mit der Idee einer äusseren Ursache verbundenen Glücksgefühl als eine Art "Kitzeln"(titillatio) beschreibt (Et, IV, 44). Spinozas auffallendes Schweigen über das Phänomen "Liebe" kann seinerseits nur noch ergänzt werden, während die intellektuelle Liebe Gott gegenüber durchaus relevant ist und bleibt.

Nietzsches ganze Liebesphilosophie lässt sich demnach auch nur indirekt rekonstruieren, weil die umfassende perspektivistische Methode die Momente der Liebesphilosophie und der Affektenlehre den analysierten Phänomenen und Gegenständen entsprechend die beiden Themen abwechselnd thematisiert. In diesem Sinne spielt der Perspektivismus ohne Zweifel eine Brückenfunktion zwischen den beiden Bereichen.

Wir müssen wieder an jene Dualität erinnern, die zwischen Nietzsches ganzer (deskriptiver) Liebesphilosophie (alle zehn Aspekte zusammen) und seiner eigenen, von ihr positiv unterstützten und zur Option angebotenen Liebesphilosophie (die richtige Deutung der Wahrheit-Weib-Metapher, sozusagen als seine eigene liebesphilosophische Entdeckung) besteht.

Jetzt kann man es schon differenzierter formulieren. Während die erste Liebesphilosophie aus mehreren Gründen nicht einheitlich rekonstruiert werden kann, besteht durchaus die Chance, dass man Nietzsches eigene, positive, von ihm als das "richtige" liebesphilosophische Verhalten formulierte Liebesphilosophie ganzheitlich rekonstruiert.

Nietzsches eigene, "positive" Liebesphilosophie lässt sich als ein einheitliches Paradigma ausbauen. Der Holismus und die Durchschlagkraft dieses Paradigmas ist einmalig. Es gewinnt diesen holistischen Charakter nicht nur aus der mutigen Genialität seines positiven Gehaltes, sondern auch aus seiner polemischen Kraft von zivilisatorischer Tragweite, aus der Negativität einer Revolte gegen die positiven liebesphilosophischen Optionen der damaligen gesellschaftlichen Erwartungen. Diese Liebesphilosophie ist ein gewaltiges positives Werk, ihre Energie gewinnt sie aber nicht nur aus ihrer einmaligen Positivität, sondern auch aus seiner gigantischen Negativität. Es geht um eine Veränderung des Trieblebens inmitten der Zivilisation selber, um eine Revolution der Natur inmitten der Gesellschaft selber, und zwar eben vor und in einem zivilisatorischen Sprung der Moderne! Die Identität von Weib und Wahrheit gilt auch als Symbol einer möglichen und schon utopischen Einheit von Natur und modernster Zivilisation!

Uns ist, die Philosophie der Wahrheit=Weib sei die bisher formulierte tiefste liebesphilosophische Konzeption. Diese (wie gesagt, die von Nietzsche vertretene positive Liebesphilosophie, die von den anderen, beschreibenden Perspektiven der Liebesphilosophie nur ergänzt wird, obwohl diese Typen letztlich auch auf die Wahrheit=Weib-Metapher zurückgehen) kann in explizitem Sinne auch nicht ganz vollständig sein, dazu ist die Erscheinungswelt der Liebe in Geschichte, Gegenwart und in den verschiedenen Zivilisationen allzu vielfach und variationsreich. Trotzdem würden wir uns überhaupt keinen zweiten oder dritten Grundgedanken vorstellen, deren heuristische Kapazität mit derselben dieser Metapher ebenbürtig werden dürfte.

Ihre philosophische Kraft gewinnt diese These – ausser den bis jetzt schon herausgearbeiteten Momenten – daraus, dass sie eine Differenz-Relation auf eine unerwartete und mehrfache, vielschichtige Weise in eine Identitäts-Relation verwandelt. Diese auch logisch gültige Identität gilt offensichtlich als Endergebnis, während diese Gegenständlichkeit positiv in der empirischen Sphäre begründet wird. Hier wird aber auch das klar, dass in diesem Zusammenhang die Begründung der gegenständlichen Sphäre alles andere als "normalwissenschaftlich" ist. Letzte menschliche Erfahrungen, essentielle Wahrheiten ganzer Kulturen vermischen sich in ihr mit alten und neuen Einsichten der methodischen und rationalen Erkenntnis, Irrationales vermischt sich mit Rationalem, Analyse mit Intuition, Bewusstes mit Unbewusstem (dessen letzte Residuen nie ganz auf die Höhe der Diskutierbarkeit erhoben werden können). All dies markiert den zur Identität hinführenden Prozess der sich positiv stets bewährenden Differenz.

Die neue Identität bewahrt noch lange ihren überraschenden, dekonstruierenden, wenn nicht schockierenden Charakter, ihre Aussage verlangt noch immer eine gewisse Zeit, damit ihr Wahrheitsgehalt zunächst nachvollzogen und dann auch noch anerkannt wird. Wegen dieses immer noch besonderen Prozesses des Nachvollziehens dieser These geschieht es, dass sie nie ganz so sich bewahrheitet, wie andere Thesen der Identität, ihre Bewahrheitung mobilisiert auch psychologische, physiologische, emotionale und eudaimonistische Dimensionen des Aufnehmenden. Es ist geradezu eine wohl einzige und einmalige Ausnahme, dass eine letztlich als philosophisch-wissenschaftlich gedachte These in ihrer eigenen Form auch als eine Katharsis gelesen und erlebt werden muss, denn die wirkliche Einsicht in diese Identität (Wahrheit=Weib) legt es in jedem Fall nahe, dass man auch über die Veränderung seines Lebens auch nachdenke.

Es entsteht also aus einer als bestimmend und grundlegend gedachten Differenz-Relation eine ganz besonders komplexe Identitätssynthese, die ihre Wahrheit wieder nicht primär analytisch oder diskursiv zeigt, sondern in einem komplexen Lebens-Raum, wo sie sich als Evidenz deklariert! Die "Wirklichkeit", wenn sie in diesem Zusammenhang auch personifiziert gedacht werden kann, muss über unsere analytischen Anstrengungen zweifellos lächeln, denn was in der Wahrheit-Weib-Metapher in der Lebenspraxis als evident, wenn nicht eben als selbstverständlich erscheint, setzt der analytischen Arbeit kaum zu überwindende Hindernisse!

Genau dieselben für die Analyse nur sehr schwer zugänglichen analytischen Gegenständlichkeiten erfüllen auch den Raum des Unbewussten, zumindest was aus der methodisch gestärkten Analyse auf die Oberfläche des diskursiven Bewusstseins hochkommt, ist weitgehend mit Glück und Sinnlichkeit verbunden, was ohne Zwang mit dem Kreis identifiziert werden kann, was Nietzsche mit der Wahrheit-Weib-Metapher umfasst. Dem Schein nach leben diese Inhalte in der Lebenspraxis und im Unbewussten, ganz wenig aber im Bewussten und Analytischen.

Die Wahrheit-Weib-Metapher schockiert die bewusste Erkenntnis, sie trifft aber die Lebenspraxis voll und ganz. Unter diesem Aspekt kann man Nietzsches gedanklichen Mut nur noch höher einzuschätzen, er war in dieser Situation wie gezwungen, einen direkten Sprung vom Denken zur Lebenspraxis zu wagen und erst nach dessen Erfolg wieder zur diskursiven Erkenntnis zurückzukommen. Mit diesem Weg und Umweg wiederholt er die Eigenart der philosophischen Auseinandersetzungen mit der Begrifflichkeit des menschlichen Glücks, auf die wir früher schon kurz eingegangen sind.

Der Wahrheit-Weib-Ansatz begreift die Liebe in ihrer grundsätzlichen Manifestation, ausser weiteren Grundzusammenhängen fragt er aber nicht auch, warum wir gerade in jene konkrete Person verliebt sind, die wir eben lieben. So komisch diese Frage in der Alltagswelt auch erscheinen mag, ebenso konsequent wäre sie in einer Philosophie der Liebe. Wir schicken voraus, dass die Qualität der Beantwortung dieser Frage an der essentialistischen Rationalität der Wahrheit-Weib-Fragestellung nichts ändert, trotzdem signalisiert sie, dass in die gerade jetzt erschaffene Rationalität der Fragestellung wieder (legitime oder illegitime) möglicherweise irrationale Momente hineinkommen. Denn das Grossartige der Wahrheit-Weib-Fragestellung bestand gerade darin, dass sie eine essentielle, sich in der Praxis bestätigende Ordnung und Logik in dieses (uns allen natürlich existentiell sehr entscheidende) Problem bringen konnte.

Diese Liebesphilosophie umfasst sowohl bei Nietzsche, wie auch schon bei Schopenhauer und den früheren Denkern (wie etwa bei Mandeville) die ganze Erscheinungswelt der Sexualität. Schopenhauer deutet in diesem Zusammenhang ohne das kleinste Zeichen der Verlegenheit das Phänomen der Päderastie, wie Nietzsche in diesem Rahmen den Geschlechtsakt als einen Durchbruch und Ausschuss von Energien, die sich lange anhäuften aber zu keinem Ausbruch kommen konnten.

Das Qualitative der Wahrheit-Weib-Fragestellung und das Quantitativ-Energetische der Sexualität ähneln und ergänzen einander in der Mut der Fragestellung, sie sind aber auch gegensätzlich, denn die Wahrheit-Weib-Fragestellung macht so einen Schritt nach vorne im Qualitativen, dass man in dieser Richtung auch noch weiter gehen möchte (zum Beispiel in der Fragestellung nach der Person der Wahl).

Dieser neue qualitative Anspruch der Wahrheit-Weib-Fragestellung will die Logik der Liebeswahl erklären. Zu einem gewissen Teil verwirklicht sie ihn auch. Dass qualitative Aspirationen in der Liebesphilosophie eher die Ausnahme sind, muss als ein Grund aufgefasst werden, dass wir dieses Konzept noch stärker würdigen.

Um diesen Fortschritt adäquat würdigen zu können, muss man sich vergegenwärftigen, dass das Quantitativ-Energetische in der Liebesphilosophie bzw. der Philosophie der Sexualität in der Regel nicht nur ohne qualitative, sondern auch ohne individuelle oder persönliche Momente auskommt. Es ist amüsant, wie bei allen Verdiensten Wilhelm Reich über sexuelle Energien und Orgone doziert, ohne daran zu denken, dass dem Menschen das Qualitative in der Liebe existentiell deutlich wichtiger als das Quantitative ist.

Nietzsche macht durch die Wahrheit-Weib-Logik einen grossen Schritt im Qualitativen voran, sein Fortschritt im Qualitativen dehnt sich aber auf die Person der Liebeswahl nicht aus. Auf dieser von Nietzsche bereits eingefahrenen Linie ist also überraschend, dass die Wahrheit-Weib-Logik das Weib in ihrer möglichen Person nicht thematisiert, wiewohl das richtige und das natürliche weibliche Verhalten zumindest indirekt (durch die Perspektive des Mannes) stets gegenwärtig ist. Nie haben wir zwar das Gefühl, dass es in einem konkreten Kontext die Frau unterbeleuchtet und verschwommen ist, dies alles ist aber noch keine Antwort auf die Frage, wie die persönlichen Beziehungen zwischen Mann und Frau gestaltet sind, wie sich in der umfassenden sozialen und biologischen Rollen konkrete Personen und Individuen aneinander geraten. Aus diesem Grunde scheint sich der Lieblingsspruch des jungen Lukács und seines philosophischen Zirkels zu bewahrheiten, "ich liebe dich, was hast Du damit zu tun..."

An diesem Punkt wird aber wieder klar, dass die Stellung dieser Frage überhaupt ein methodisches Problem darstellt, denn wir definierten im Anfang Liebe (wie auch Glück und andere umfassende und ganzheitliche Grundbefindlichkeiten) als analytisch im üblichen Sinne unerschliessbar, während wir jetzt einen weiteren Schritt in die qualitative Erschliessung der Liebe fordern, der etwas davon verwirklichen sollte, was wir andererseits als unmöglich erklärt haben. Warum die ganze Fragestellung philosophisch nicht ganz sinnlos ist (über ihre emotionale oder praktische Seite brauchen wir uns nicht zu äussern), ermöglichen nur die eher unsichtbar arbeitenden Kräfte der Kultur und der Zivilisation, die feinen Fähigkeiten der Intuition, die in uns auf unsichtbare Weise wirkenden inneren Fähigkeiten, die zumindest den Anspruch auf eine Frage nach den konkreten Individualitäten ermöglichen.

Es ist die ins Qualitative hinüberschlagende Perspektive, von welcher aus Platons Eros in die Analyse aufgenommen werden kann. Er schliesst jene theoretische Lehre, die sich hier auftut. Eros tut es freilich nicht theoretisch, er tut es praktisch, mit der Logik, sogar auch mit der Macht der Taten. Mit Ironie könnten wir jedoch sagen, dass vieles aus dieser ausgezeichneten Lösung des Problems dadurch zurückgenommen wird, dass Eros bei Platon eben ein Dämon ist. Was man mit der Setzung eines Dämons nämlich lösen kann, löst nicht, verschiebt vielleicht nur das Problem auf eine andere Ebene. Dieser besondere Aktor, eben als Dämon, erweist sich als fähig, durch die Faktizität seiner Fähigkeiten und Kräfte zu erklären, was in Nietzsches Liebesphilosophie fehlte. So sehr wir diese Lösung metaphorisch und prinzipiell zu akzeptieren auch geneigt sind, ebensowenig hilft sie uns heute, den bei Nietzsche angestimmten qualitativen Ansatz in der Liebesphilosophie weiter fortzusetzen.

Platon erklärt, was Nietzsches Ansatz nicht erklärt, der Preis dessen ist aber die Arbeit eines Dämons, die auf eine so evidente Weise "eigengesetzlich" ist, dass sie für die Liebesphilosophie nur wenig hergeben kann, es ist aber wieder eine andere Frage, dass die Logik eines Dämons von der Alltagswirklichkeit der Liebe so fern doch nicht steht.

Die Logik dieses Dämons Eros ist jedenfalls alles andere als dieselbe der späteren idealistischen und idealisierenden Liebesphilosophie, die wir "platonisch" nennen. Eros begründet, im wahren Sinne des Wortes "schafft" das Geradesosein der Liebe. Seine Logik erscheint als eine intensive Mischung von idealen, realen, sinnlichen, zufälligen und an der Brutalität realer Lebenskämpfe grenzenden Elemente. Mit ihrer charismatischen und "dämonischen" Evidenz erinnert sie an Nietzsches Wahrheit-Weib-Logik, auch wenn, wie schon öfters hervorgehoben worden, die Richtung derselben eine andere als die von Nietzsches Metapher ist.

Die Logik des Dämons Eros lässt sich am vollständigsten aus der Beschreibung seiner Gestalt bei Platon entnehmen: "Das ist weitläufiger auseinanderzusetzen; indessen will ich es dir trotzdem mitteilen. Als nämlich Aphrodite geboren war, hielten die Götter einen Schmaus, und mit den anderen auch Poros (Erwerb, Betrieb), der Sohn der Metis (Weisheit). Als sie aber gespeist hatten, da kam Penia (Armut), um sich etwas zu erbetteln, da es ja festlich herging, und stand an der Türe. Poros nun begab sich, trunken vom Nektar – denn Wein gab es damals noch nicht –, in den Garten des Zeus und schlief in schwerem Rausche ein. Da macht Penia ihrer Bedürftigkeit wegen den Anschlag, ein Kind vom Poros zu bekommen: sie legt sich also zu ihm hin und empfing den Eros. Deshalb ist Eros der Begleiter und Diener der Aphrodite, weil er an ihrem Geburtsfeste erzeugt ward und zugleich von Natur ein Liebhaber des Schönen ist, da ja auch Aphrodite schön ist. Als Sohn des Poros und der Penia nun ist dem Eros folgendes Los zuteil geworden: Erstens ist er beständig arm, und viel fehlt daran, daß er zart und schön wäre, wie die meisten glauben, sondern er ist rauh und nachlässig im äußern, barfuß und obdachlos, und ohne Decken schläft er auf der bloßen Erde, indem er vor den Türen und auf den Straßen unter freiem Himmel übernachtet, gemäß der Natur seiner Mutter stets der Dürftigkeit Genosse. Von seinem Vater her aber stellt er wiederum dem Schönen und Guten nach, ist mannhaft, verwegen und beharrlich, ein gewaltiger Jäger und unaufhörlicher Ränkeschmied, der stets nach der Wahrheit trachtet und sie sich auch zu erwerben versteht, ein Philosoph sein ganzes Leben hindurch, ein gewaltiger Zauberer, Giftmischer und Sophist; und weder wie ein Unsterblicher ist er geartet noch wie ein Sterblicher, sondern an demselben Tage bald blüht er und gedeiht, wenn er die Fülle des Erstrebten erlangt hat, bald stirbt er dahin; immer aber erwacht er wieder zum Leben vermöge der Natur seines Vaters; das Gewonnene jedoch rinnt ihm immer wieder von dannen, so daß Eros weder Mangel leidet noch auch Reichtum besitzt und also vielmehr zwischen Weisheit und Unwissenheit in der Mitte steht." (Sperrungen – E.K.)

Platons Strategie lässt sich auch in der Distanz von Jahrtausenden rekonstruieren, auch wenn nicht mit dem Anspruch der Vollständigkeit und Verifizierbarkeit. Einerseits situiert und positioniert er die Liebe ebenso auf die höchsten Dimensionen des menschlichen Lebens, wie es Nietzsche vielleicht noch expliziter tut. Hier erscheint die Identität Eros' als eines Dämons nun von der umgekehrten Richtung, anstatt die Vollständigkeit seiner Interessen in die niederen und gemeinen Lebenssphären zu betonen, erscheint Eros hier als jemand, der direkt mit den Göttern kommuniziert: "Dolmetsch und Bote ... von den Menschen bei den Göttern und von den Göttern bei den Menschen, von den einen für ihre Gebete und Opfer, von den andern für ihre Befehle und ihre Vergeltungen der Opfer, und so die Kluft zwischen beiden auszufüllen, so daß durch seine Vermittlung das All sich mit sich selber zusammenbindet. Und dadurch hat auch die gesamte Weissagekunst ihren Fortgang und die Kunst der Priester in bezug auf Opfer und Weihungen und Besprechungen, und die gesamte Wahrsagerei und Zauberei. Nämlich nicht unmittelbar tritt die Gottheit mit dem Menschen in Berührung, sondern durch seine Vermittlung geht aller Verkehr und alle Zwiesprache der Götter mit den Menschen im Wachen wie im Schlafe. Und wer dieser Dinge kundig ist, der ist ein dämonenbeseelter (und daher dem Höheren zustrebender), wer aber irgend eines anderen in Künsten oder Gewerben kundig ist, der ist bloß ein handwerksmäßiger Mann."

Eros' Qualität als Dämon gerade in dem soeben beschriebenen Sinn hilft Platon, die Liebesphilosophie auch noch unter einem anderen Aspekt in jene treffsichere Wesensschau zu erheben, mit der wir uns im Falle Nietzsches konfrontiert sehen. Es ist eben nicht der personifizierende Zug in der Gestalt von Eros in der reinen Form, es ist die hinter der Personifizierung möglich werdende Chance, die Phänomenenwelt der Liebe in vollständiger und stets erlebbarer Einheit dazustellen. Es ist wieder eine sehr starke Ähnlichkeit mit Nietzsche (und Schopenhauer) und verfügt wegen der Natur der Liebe über einen extrem hohen heuristischen Wert.

Die Personifikation löst also das qualitative Problem der Liebeswahl, ohne Nietzsches Wahrheit-Weib-Metapher wirklich weiter entwickeln zu können, sie löst aber auch weitere Probleme. Ihr Mangel ist aber auch klar, ihr grösster Vorteil lässt sich jedoch mit Nietzsche vereinen: Die Personifikation ermöglicht die einheitliche Sicht der ganzen Erscheinungswelt der Liebe, ohne welche dieser Gegenstand kaum wirklichkeitsgerecht zum Gegenstand der Reflexion hätte gemacht werden können. Mit Eros ist alles klar, ohne Eros ist es nicht – der Satz drückt aber nicht nur einen negativen Befund aus.

An diesem Punkt ist es C.G. Jung, der mit dem Nietzscheschen Faden weiter als Nietzsche selber zu kommen scheint. Die anima-animus-Theorie gibt Antwort auf die Frage der konkreten Liebeswahl. Jung transformiert Nietzsches Konzeption in mehreren Richtungen. Die Reflexion Nietzsches bei Jung erreicht eine gigantische Grössenordnung, seine Nietzsche-Rezeption lässt sich in dieser Arbeit nicht unterbringen.

Jung zunächst bestätigt die Wahrheit-Weib-Auffassung, denn die anima in der Position der Liebe ist identisch damit, was bei Nietzsche die Frau mit der Wahrheit identifiziert. Die anima wird die geliebte Person, die in der Liebesbeziehung die Wahrheit trägt. Es fällt schon jetzt auf, dass hier die anima-animus-Beziehung grenzenlos verallgemeinert wird, in jeder existierenden Liebesbeziehung realisiert sich also diese Beziehung. Dies bringt einen, immerhin nur sehr feinen Unterschied zu Nietzsche, denn in der Realisierung einer Liebe aufgrund einer Wahrheit-Weib-Relation stets auch ein einmaliger, individueller Charakter dieser Begegnung erhalten bleibt, wiewohl jedoch seitens Nietzsche nie gesagt wird, dass diese einmalige und individuelle Beziehung auch in dem Sinne einmalig oder individuell wäre, dass sie auch nicht in zahllosen Fällen eingetreten sein dürfte. Er schliesst also auch niemanden aus dem Glück der Wahrheit-Weib-Relation aus. Immerhin erscheint also dieser individuelle Charakter als ein "natürliches" Hindernis, wenn man die Wahrheit-Weib-Relation in dem generellen, beinahe statistischen Allgemeinheit denken sollte, wie Jung es im Falle der anima-animus-Beziehung auch tatsächlich permanent tut.

Ein weiterer Unterschied ist, dass Jung die anima-animus-Theorie auch in der psychologischen Praxis weit und breit angewandt hat. Nietzsche tat es nicht, nicht nur, weil er kein praktizierender Psychologe war, sondern auch als Philosoph machte er keinen Hinweis auf eine mögliche bewusste therapische Dimension, abgesehen selbstverständlich davon, dass die Wahrheit-Weib-Metapher in ihren tausendfachen Variationen auf den Leser als intellektueller Gehalt ihre Wirkung auf das menschliche Handeln ausüben dürfte.

Wir wir sahen, erkennt, formuliert und lehrt Nietzsche die Wahrheit-Weib-Metapher, ohne sie zu beweisen, ohne auf den Weg hinzuweisen, auf welche Weise diese Erkenntnis entstand. Ganz anders erscheint aber das Problem des Beweisens für Jung. Er gebraucht die anima-animus-Theorie als eine fertige Theorie, er gebraucht ihre anthropologisch verallgemeinerte Form und wendet sie weitgehend auch in der Praxis an. Die einzige Art, wie sich diese Theorie bewahrheiten kann, kann nicht als wissenschaftslogisch ganz korrektes Beweisen aufgefasst werden. Diese Art wäre, dass Jung und nach ihm zahlreiche praktizierende Psychiater die orthodoxe Jungsche Auffassung die anima-animus-Theorie in ihrer Praxis anwenden und nach einer Zeit gemeinschaftlich feststellen, dass diese Auffassung in ihrer identifizierbaren orthodoxen Form sich in der Praxis bewährt und aufgrund der allgemeinen Bewährung auch ein indirekter Nachweis der Bestätigung der Wahrheit der Theorie erbracht werden kann. Es ist klar, dass die Konsequenzen dieses langen Prozesses nicht mit einem normativ durchgeführten Prozess des wissenschaftlichen Beweisens identifiziert werden könnten.

Damit kommt Jung zunächst in Platons Nähe (was Platon mit einem Dämon löste, konnte Jung auch nicht durch einen "Beweis" lösen), dann verschwindet auch die Differenz auf der unmittelbaren Ebene zwischen Jung und Nietzsche, denn der kathartischen Evidenz Nietzsches konnte Jung in der qualitativen Ausdehnung der Liebesphilosophie keinen "wissensschaftlichen" Nachweis hinzufügen. Man vergisst dabei natürlich die Möglichkeit der zirkelhaften Bestätigung der anima-animus-Theorie durch die Stellungnahmen der praktizierenden Analytiker nicht.

Wenn Jungs Konzept sich erst im nachhinein bewahrheiten kann, so ist dies auch im Falle Nietzsches. Auch die Wahrheit-Weib-Metapher bewahrheitet sich erst im nachhinein in der Reflexion menschlicher Schicksalsprobleme. Das Entscheidene in der Produktivität dieser Metapher besteht auch noch darin, dass sie – obwohl sie das Persönliche, das Private und das Intime betrifft – nie das nur Private anspricht, ihre Verwirklichung involviert das wohl allerwichtigste Terrain der gemeinsamen Berührungsfläche zwischen Gesellschaft und Individuum in der Moderne, und zwar die gesamte Problematik der Individualisation.

Die Wahrheit-Weib-Metapher realisiert sich in einer spezifischen Praxis. Sucht man ein klassisches Beispiel für sie, so findet man sie in der Oper Carmen, sowohl in ihrem Sujet als auch in ihrer Musik. Von dieser Warte her kann man erst richtig einschätzen, wie es für Nietzsche eine Selbstverständlichkeit ist, diese eine Oper von Bizet mit dem ganzen Werk von Richard Wagner nicht nur zu vergleichen, sondern sie auch deutlich über Wagners Gesamtwerk zu erheben.

Jung, wie angedeutet, beantwortet unter seinen konkreten heuristischen Bedingungen durch die anima-animus-Theorie die erweiterte Frage des qualitativen Ansatzes nach der Wahl der konkreten anderen Person in der Liebesbeziehung. Diese Antwort erhielt die Grundlage ihrer eigenen Bestimmung aber nur indirekt, keineswegs in jener Unmittelbarkeit, die man als "wissenschaftliche" Antwort erwarten würde.

Scheinbar ist es nicht so, weil die anima-animus-Theorie auf eine transparente Weise auf Jungs Theorie über die Archetypen aufgebaut ist, und diese Theorie gilt als die umfassendste Innovation von Jung. Auf der Ebene der Archetypen reproduziert sich aber all jene Problematik, mit der wir einmal auf der Ebene anima-animus-Theorie bereits konfrontiert worden sind. Beide sind einander darin ähnlich, dass sie theoretische Konzepte deskriptiver Natur sind, die darauf angewiesen sind, von den professionellen Benutzern dieser Theorie im nachhinein anerkannt und dadurch legitimiert zu werden. Dieses Sich-Bewahrheiten kann aber nicht stark genug sein, diese Theorien als Konzepte anzusehen, die im vorhinein die qualitative Dimension der Liebesphilosophie mit einem konkreten Schritt erweitern können.

Dadurch müssen wir aber auch Nietzsches Wahrheit-Weib-Metapher wieder in einem anderen Licht sehen. Die Tatsache, dass er letztlich keinen Versuch unternommen hat, innerhalb der Wahrheit-Weib-Theorie auch die Frage nach der Logik der Personenwahl zu stellen, erweist sich in philosophischer Sicht als durchaus akzeptabel.

Nietzsche charakterisiert Liebe, wie auch Erkenntnis als einen langen Weg. Auch die Wahl der Liebesperson gilt als langer Weg, work in progress, Dialog und Kommunikation. In diesem work in progress sollen die Bestimmungen sich realisieren, von denen bereits im Rahmen der Wahrheit-Weib-Metapher die Rede war: Jene Kommunikation und jenes Verhalten, die (das) zur wahren Analogie der epistemologischen Attitüde werden konnte, der Mut, Tabus zu brechen und die Maske zu erkennen und zu entfernen. In dieser beiderseitigen Kommunikation sieht Nietzsche den Mann in der eher benachteiligten und die Frau in der eher vorteilhaften Position. Die annehmbare Differenz in den Triebstrukturen und intellektuellen Fähigkeiten in der Kommunikation lässt sich in mehreren Weisen hypothetisch erklären.

Bei Nietzsche gilt also die Liebeswahl als Ergebnis einer kommunikativen Handlung, eines Prozesses, der zur befreienden Wirkung der Liebe hinführen kann. Die Länge und Komplexität dieser Liebeskommunikation lässt die Frage nach der konkreten Person der Liebeswahl in den Hintergrund geraten, die immer neuen Eigenschaften, die sich erst im Kommunikationsprozess erschliessen, erscheinen als bestimmender als die statischen oder als statisch erscheinenden Eigenschaften der anderen Person.

Die Wahrheit-Weib-Metapher bestimmt also die Grundlagen der Liebesphilosophie grundsätzlich, sie strahlt aber auch auf die mit ihr verbundenen Gegenstände aus. Sie stellt neue Fragen, früher gestellte Fragen werden neu beleuchtet. So ist beispielsweise das Problem des Leibes (das ähnlich wie in der Liebesphilosophie das Weib, selber auch "die grosse Wahrheit" in Zarathustra ist), es ist unvorstellbar, dass diese Auffassung des Leibes nicht durch die Vermittlung der Liebesphilosophie entstanden wäre.

Für die Geschichtsschreibung der Philosophie verursachte es immer grosse Probleme, wie sie Schopenhauer und Nietzsche in dem breiten historischen Fluss der Philosophie unterbringen. Bei dieser Aufgabe fand sie mehr als nur ein grosses Problem, auf welche wir nicht im Detail eingehen können. So herrschte lange Jahrzehnte die doppelte Etikettierung vor, in welcher als zwei "Lebensphilosophen" der Pessimismus Schopenhauers von dem Optimismus Nietzsches abgelöst worden ist. Obwohl wir mit dieser Etikettierung grundsätzlich nicht einverstanden sind, müssen wir in dem liebesphilosophischen Kontext doch darauf hinweisen, dass diese Zweiheit die Struktur der grundsätzlichen liebesphilosophischen Positionen der beiden Denker in aller Klarheit abbildet. Dies zeigt, dass die liebesphilosophische Botschaft, wenn auch nicht direkt, so doch auch das äussere Bild der beiden Philosophen bestimmen konnte.

Die Wahrheit=Weib-Strategie, nunmehr auch als holistische epistemologische Option in literarischer Sprache lässt sich unter den folgenden Aspekten zusammenfassen:

a) Motivation
b) Grundattitüde
c) Gegenstandskonstituion
d) sprachliche Artikulation, mitsamt der generellen Problematik der Sprachlichkeit in der Erkenntnis.

Die wichtigste Dimension der Liebesphilosophie ist also die epistemologische, in welcher eine Eindeutigkeit und Transparenz erscheint, welche in derselben Qualität selbst auf zwei Gebieten dieselbe optimale Einstellung bedeuten. Als optimale Einstellung, erweist sich die richtige liebesphilosophische Haltung auch als Ausschlussfaktor, die Eindeutigkeit der richtigen Einstellung verhindert nämlich auch, dass jemand zur selben Zeit dasselbe Liebesverhältnis auch zu zwei oder mehreren Personen erleben kann.

Auf dieser Ebene ist die Liebe eine besondere Fixation, die durch ihre Wahrheit die "Wahr"-heit des Gegenstandes bestätigt, während rückwirkend die (auch epistemologisch zu deutende) Wahr-heit des Gegenstandes die Wahrheit des Verfahrens, d.h. der Liebesbeziehung und der Liebeskommunikation legtimiert. Die so interpretierte Liebe ist also Vermittlung in gegenständlicher Form, eine permanente Brücke, in welcher die Tatsache der Anziehung und die Beschaffenheit des "Gegenstandes" einander stets wechselseitig legitimieren, ihre gegenseitige positive Legitimierung bedeutet demnach den natürlichen Ausschluss anderer Liebesbeziehungen. Unter diesem Aspekt erscheint die scheinbar weniger determinierte Auffassung des work in progress Nietzsches im Vorteil der scheinbar stärker bestimmten Jungschen Lösung gegenüber.

Das Erreichen der Wahrheit macht die Wahrheit und die Legitimierbarkeit des zum Gegenstand führenden Weges möglich, während dies als Analogie auch im Komplex der Liebe besteht. Das auf dem richtigen Wege erreichte Ergebnis bestätigt im nachhinein die Legitimität des Weges, aber auch das abstrakt-ideale Ziel der Suche nach der Wahrheit (und der Frau). Die Vollständigkeit dieser Analogie ist ein besonderer Wert in Nietzsches Liebesphilosophie. Ergänzt man diesen Zusammenhang noch mit dem Phänomen des Tabus und dem mit ihm spezifisch zusammenhängenden Erkenntnisinteresse, so ist eindeutig klar, dass während die Entsprechung der Liebe und der Erkenntnis deutlich mit dem Anspruch der Vollständigkeit besteht, auch noch – auf der Linie des Erkenntnisinteresses – die Erkenntnistheorie mit der Wissenssoziologie stets ergänzt wird.

In der durchaus singulären Thematik der Liebesphilosophie kommt also eine neue Beziehung zwischen Erkenntnistheorie und Wissenssoziologie auf, wobei die selbstverständliche Seinsgebundenheit in der Liebesphilosophie eindeutig klar macht, dass auch die Wahrheitssuche (in der Erkenntnistheorie) über gewisse Seinsgebundenheit verfügt. So weit reicht also die Wahrheit-Weib-Metapher...

Es ist nicht der erste Fall, dass Nietzsche im Prozess seines Erkennens auch mehrere Wege gleichzeitig vorwärtsgeht und an einem Punkt zwei Richtungen auf seine eigene Weise verbindet oder zumindest zwei oder mehrere Ansätze gemeinsam anwendet. Das relevanteste Beispiel für diese einmalige Eigenschaft in Nietzsches Philosophie ist seine spezifische Vereinigung der Aufklärung der zweiten Periode mit der von Spinoza übernommenen Affektenlehre der dritten.

So wird die Tabu-Thematik, die in der Liebe und Sexualität eine Selbstverständlichkeit ist, Schritt für Schritt in der Erkenntnistheorie und in der sozialen und mentalen Praxis der Erkenntnis aufgewertet. Durch das Hinzukommen des wissenssoziologischen Stranges verstärkt sich die in derselben Richtung ausgeführte Arbeit der beiden Ansätze. Sie schliessen sich aufeinander immer positiv zurück.

Hierbei entlarvt sich aber im weiteren auch eine andere Gewohnheit unserer Einstellung (man könnte sogar sagen, dass dadurch auch ein neues Tabu angerüttelt wird). Scheinbar bedeutet eher die Tabuisierung der Liebe und der Sexualität die tiefere, bedeutendere und für viele mit Recht sogar auch die mutigere Fragestellung. In diesem Prozess des Wahrheit=Weib-Denkens wird auch aber die Umkehrung dieser Relation sichtbar. Die aufeinander folgenden Perspektiven zeigen mit zwingender Kraft auf, dass auch die Suche der Wahrheit, die Erkenntnis ebenso Tabus bricht, jede neue Wahrheit bricht das Tabu der bis dahin herrschenden Wahrheit, jede neue Wahrheit bricht die tabuisierte Macht der Vertreter der bis dahin vorherrschenden Wahrheit, die philosophische, die ideologische und die politische Macht wird relativiert.

Die immer wieder von neuen Seiten erschaffene gemeinsame Schnittmenge zwischen Wahrheitssuche und Liebe, Erkenntnistheorie und Liebesphilosophie wird somit von Nietzsches Erkenntnistheorie stets vergrössert. Die optimale Grundattitüde hier realisiert sich nicht in theoretisch formulierten theoretischen Thesen, vielmehr in der richtig durchgeführten philosophischen Gegenstandskonstitution selber. Führen wir die Gegenstandskonstitution richtig durch, so realisieren wir die richtige epistemologische Attitüde, die aber gleichzeitig auch die richtige liebesphilosophische Attitüde ist und führt noch weiter in der Richtung der wahren Ethik, der wahren Lebensführung, aber auch der Lebensreform.

Für uns repräsentiert in diesem Versuch diese Gegenstandskonstitution aus Nietzsches Sprache die Maske, wiewohl man auch andere Begriffe oder Bilder zu diesem Zweck hätte auswählen können.

Bei der Vergegenwärtigung der These über die richtige Gegenstandskonstitution wird die liebesphilosophische Parallele ganz besonders lebendig: Die Gegenstände zeigen nicht ihr wahres Wesen, sie tragen auch "ihre Masken", wir können uns selbst das noch vorstellen, dass sie eben das Gegenteil dessen dem Erkennenden vorzeigen, was sie gerade sind. Alles, was tief ist, entscheidet nicht nur, ob es eine Maske trägt oder nicht, darin sind Frauen und Objekte der Erkenntnis einander gleich. In der wirklichen Lebenswelt, wie auch in der wirklichen Wissenschaft kann es aber auch vorkommen, dass Masken "spontan" entstehen, und zwar aus Missverständnissen, falschen Einschätzungen, halbem Wissen, aus den Phänomenen des Scheins und aus vielen weiteren Konsequenzen der verborgenen Dimensionen. Masken sind aber weder in der Liebesphilosophie, noch in der Erkenntnistheorie nur klare und willentlich hervorgearbeitete Objekte, sie können auch autopoietisch entstehen, was aber nichts daran verändert, dass der Erkennende und der Liebende hinter die Maske schauen muss, wenn er seine Ziele erreichen will.

In der sich dem Zentrum hin zusammenschliessenden Metaphysik Arthur Schopenhauers wird die Liebe zum letzten Erklärungsprinzip, sie wird es aber zum Erklärungsprinzip eines geschlossenen Systems. Innerhalb dieser Kategorie der geschlossenen Systeme wird Liebe als Prinzip einer diesseitigen positiven Metaphysik zwar eines der "offenen" Momente, die Offenheit von nur einem Grundprinzip macht jedoch ein in seiner Systematik geschlossenes System noch keineswegs ganzheitlich offen. Nietzsches perspektivistischer Kritizismus ist eine bis ins Extreme offene Systematisation. Bei Schopenhauer führt jeder Weg zur im Mittelpunkt der Willensmetaphysik dahinvegetierenden Blauen Blume zurück. Nietzsche geht von den entscheidenden Positionen der Liebesphilosophie aus, von denen in allen Richtungen noch weitere Wege weiter beschritten werden können.

Die Vereinigung der Diskurse der Liebe und der Erkenntnis erscheint nunmehr in zahlreichen konkreten Zusammenhängen mit immer selbständigerer heuristischer Kraft. Es heisst, dass auch die Vereinigung der beiden Momente immer intensiver zur selbständigen schöpferischen Kraft wird. Wie auch etwa die "Lust" auf die gleiche Weise im Zusammenhang der Erkenntnis und der Liebesphilosophie zur Geltung kommt, so lässt sich auch "Macht" in beiden gegenständlichen Sphären interpretieren.

Diese stets ineinander übergehende Vereinigung der beiden Diskurse bedeutet einerseits ständige Entzauberungen (der eine Diskurs "entzaubert" den anderen in konkreten Zusammenhängen und umgekehrt), diese Vereinigung strahlt aber auch auf andere Subsysteme und Problemzusammenhänge aus. Es ist beispielsweise offensichtlich, dass sich die materiale Ethik nach der Akzeptierung der Wahrheit-Weib-Metapher ändern, indem sie die Erkenntnis Wahrheit=Weib in die bestimmenden Werte (und Güter) einer solchen Ethik aufnehmen muss. Auf eine andere Weise muss sich auch die formale Ethik modifizieren, in der die neue Erkenntnis in jene Prinzipien aufgenommen werden muss, die die ethische Tat im Prozess der ethischen Urteilsbildung prägen.

Die Wahrheit-Weib-Metapher lässt die Dimensionen menschlichen Seins neu konstituieren, sie schafft neue Normen und Zielvorstellungen, die aber auch ihre soziale Realisierung finden muss. Die Wahrheit-Weib-Metapher entwirft die Rahmen des idealen Seins, des Glücks in der diesseitigen Existenz, während man hier die ständigen Einseitigkeiten des Alltagsdenkens stets korrigieren und konterkarieren muss – es geht beispielsweise darum, dass die Tabus nicht nur der Liebesphilosophie, sondern auch der Erkenntnis beseitigt werden müssen oder dass nicht nur die "Wahrheit" zündet eine neue Lampe in der Interpretation der Liebe, sondern auch die neue Sicht auf die "Liebe" die Problematik der Erkenntnis ins neue Licht stellen muss.

Auch in diesem Themenbereich bewahrheitet sich die grundsätzliche Differenz zwischen Schopenhauer und Nietzsche. Schopenhauer betrachtet die Liebesphilosophie einerseits als philosophisches Ergebnis und andererseits als einen Endpunkt in der Geschichte des menschlichen Wesens. Nietzsche betrachtet sie auch als ein philosophisches Ergebnis und als solches, sieht er in ihm schon den Ausgangspunkt für zahlreiche neue Fragestellungen.

Die einmalige Bedeutung von Nietzsches Liebesphilosophie wird dadurch noch weiter erklärt, dass es nicht nur die Diskurse der Liebe und der Erkenntnis in ihr sich zusammenschliessen, sondern auch dieser neue Diskurs auch noch das gesamte Problemfeld der Individuation mit in sich aufnimmt, so dass die "Liebesphilosophie" auf diese Weise zur Philosophie der optimalen Individualität und des in der Gesellschaft sich realisierenden Glücks wird – mehr noch, die Individualisierung als Forderung und condition humaine der modernen Gesellschaft wird letztlich zu einem noch umfassenderen Feld als der vereinigte Diskurs von Liebe und Erkenntnis – allerdings so, dass sie strikt und unveränderbar – auf diese beiden aufgebaut bleibt.

Die Ausgangsform lieferte hierbei Schopenhauer durch sein Aufgreifen des Problems des principium individuationis, das der junge Nietzsche nicht nur übernahm, sondern auch wieder in die Rahmen der griechischen Philosophie, namentlich in seiner Auffassung des Dionysos stellte. Wir können nicht lange bei dieser Phase verweilen, weil sie ein selbständiges Ganzes darstellt, das Nietzsche in seiner Zweiten Periode überwindet. Zu bemerken bleibt aber, dass es hier auch eine sehr tiefe Beziehung zwischen Liebe, Erkenntnis und Individuation besteht. Der Durchbruch des principium individuationis meint auch in dieser Konstruktion Glück (Liebe) und optimale Erkenntnis der Wahrheit. Scheinbar erinnert diese Konstruktion sehr intensiv an die spätere. Durchaus lehrreich ist es aber, dass die Vorzeichen jedoch gerade umgekehrt sind. In diesem früheren Konzept wird Glück/Liebe und Erkenntnis gerade durch den Durchbruch, praktisch durch das Aufgeben der Individualität (principium individuationis) erzielt, während in dem neuen Konzept ist es geradezu umgekehrt: Glück (Liebe) und optimale Erkenntnis der Wahrheit führen zu einer Individualität (allerdings neuer Art). Diese neue Ordnung der Probleme ist es, worauf wir hindeuteten, die Vereinigung von Liebe und Erkenntnis führt zum Kern der spezifisch neuen Problematik der Moderne, wird also historisch auch entscheidend.

Die Individualisation (bei Nietzsche "Individuation") wird zum zentralen Problem und zur tiefsten Herausforderung der Moderne überhaupt. In dieser Hinsicht ist es zweitrangig, dass Nietzsche es am frühesten in der klassischen Form wahrnahm und auch abreagierte, die Relevanz der Individuationsproblematik ist ein umfassender historischer Prozess, der auch von Nietzsche unabhängig verlief.

In der real werdenden Moderne erschient die Individuation als eine Aufgabe vor dem Einzelnen, als ein existentieller Sprung und als Lebensziel, ohne welche er kein legitimer Bürger der modernen Zivilisation werden konnte. In dieser Notwendigkeit einer qualitativen Veränderung der Persönlichkeit haben sich bewusste (rationale, aufgeklärte, diskursive) und unbewusste (affektuelle, etc.) Momente praktisch vollkommen miteinander vereint. Die Individuation – und das war uns ist nur scheinbar paradox – galt nicht nur als individuelle Aufgabe und Herausforderung (obwohl sie in der Praxis voll und ganz dem Einzelnen auferlegt worden ist), sondern auch als soziale, sogar als gesamtgesellschaftliche Notwendigkeit. Es war so, weil das Schicksal der auf moderner Emanzipation aufbauenden Zivilisation geradezu davon abhängt, was für ein grosser Anteil dieser Gesellschaften den realen Prozess der Zivilisation durchgemacht hat und daher wie grosser Anteil dieser Gesellschaften in historischer und emanzipativer Hinsicht "erwachsen" wurde.

Die Liebesphilosophie Nietzsches traf also auf einem langen Weg der Vermittlungen auf eine wirklich neue Gesellschaft, deren tiefste Erwartungen sie erfüllen konnte. Denn die Individuation ist eine innere Notwendigkeit auf der Linie der Liebesphilosophie und der Erkenntnis, sie ist aber auch eine Erwartung. Es ist eine sehr besondere Erwartung, denn es wird erwartet, dass man glücklich, effektiv und emanzipiert wird. Wir können die Frage allgemein kaum stellen, ob diese Erwartung in einer abstrakten Weise eine grosse oder eben eine kleine ist. Die Praxis zeigt auch, dass diesen Erwartungen doch viele nicht entsprechen konnten und es war immer klar, dass von dem Anteil der erfolgreichen Individuationen das gesamte Schicksal der modernen Gesellschaft abhängig war. Dadurch wird Nietzsches Liebesphilosophie totalisiert, durch Vermittlungen, die wir vorhin darzustellen suchten, wächst sie in die Position der entscheidenden und letzten Instanz moderner Gesellschaften als Realphänomene hinein.

Denn der Einzelne, der die Höhe der erfolgreichen Individuation nicht schafft, wird zum Gegner der Zivilisation, er wird von dem unwiderstehlichen Leiden des Ressentiments ergriffen. Denn das Nicht-Schaffen der sowohl notwendigen als auch erwarteten Individuation sperrt sie in einem universalem Ausmass von Gesellschaft und Zivilisation aus. Die erfolgreiche Individuation ist das "gewachsene" Leben. Dieser Sinn der Individuation ist mit dem Verhalten nicht identisch, das von all den Konsequenzen der Wahrheit-Weib-Metapher folgt, sie bedingen einander gegenseitig aber so stark, dass sie ohne einander vollkommen unvorstellbar sind. Die richtige Attitüde nach dem vereinigten Diskurs von Liebesphilosophie und Erkenntnis ist ohne markante Individuation ebenso unvorstellbar, wie umgekehrt die erfolgreiche Individuation ohne die adäquate Attitüde der Wahrheit-Weib-Metapher möglich ist.

Die erfolgreiche Individuation erfordert einen existentiellen Mut, weil unter soziologisch und kulturell jetzt nicht weiter zu konkretisierenden Umständen das wirkliche Individuum durch eine bewusste und gleichzeitig unbewusste Reorganisation der Persönlichkeit sich selber schafft und eine der wichtigsten Komponenten dieser Konstruktion gerade dessen Notwendigkeit ist, von alten Traditionen, Vorurteilen, Tabus (!) loszuwerden. Dieser existentielle Mut ist einmalig, sie hat eine im wahren Sinne des Wortes vitale Funktion. Sie ist in der aktuellen Situation ein Sprung ins Nichts, ohne sie kann man über Individuation überhaupt nicht sprechen. Das "gefährliche Leben" Nietzsches ist mit diesem Tatbestand in dem grössten Masse verbunden.

Die zur erfolgreichen Individuation unerlässlichen Grundattitüden bewegen sich in einem komplexen Raum der Positivität, der auch wenn er auf dem richtigen Bewusstsein gründet und somit auch mit der Aufklärung zu tun hat, selber nie ganz ein Phänomen von kognitiver, intellektueller oder ideologischer Art ist. Dieser Raum weist darauf hin, was die ältere Tradition Schicksal genannt hat, der Existentialismus als die Macht der Wahl im Leben bezeichnete, Hegel auch als "List der Vernunft" ansah, indem man immer wählen muss, nur weiss man nicht, was daraus einmal hervorgeht. Am nächsten zu dieser existentialen Situation des existentiellen Mutes stehen diese Gedankengänge, die man vor allem im neunzehnten Jahrhundert von der Natur des Tragischen herausgearbeitet hatte. Man muss sich selber wählen, man muss sich individualisieren, man muss den Sprung ins Nichts wagen, dieser Sprung ist aber weder ausschliesslich theoretisch, noch ethisch, es ist ein realer Sprung unter realen Koordinaten, am Ende dessen das Individuum erscheint.

Zumindest von Nietzsches Zeitalter an ist Individuation von der Seite des Individuums eine Pflicht, wenn das konkrete Individuum den Anspruch auf die wahre Mündigkeit und die emanzipative Erwachsenheit nicht aufgibt. Wie gesagt, ist die Individuation von der Seite der Gesellschaft der modernen Zivilisation ebenfalls eine Grundforderung, dies auf seine Weise zu betonen, ist ein kaum richtig einzuschätzendes Verdienst von Nietzsche. Zunächst, weil es vor ihm kaum betont worden ist. Andererseits aber auch strukturell und funktionell, denn ohne diese Betonung der ökumenisch-gesamtmenschlichen Seite bleibt jegliche Forderung der Individuation einseitiger Idealismus, den man nur mit der grössten Mühe mit der normalen Lebenswelt in Einklang bringen kann. Dies ist so auch ein Beispiel für jenen unglaublich breiten Prozess, in dem jegliche Forderung der Emanzipation zu einem blassen bildungsbürgerlichen Humanismus wird, dessen Identität und Ziele vor denen überhaupt nicht verstanden werden, von denen man ein Befolgen dieser Ziele erwarten würde.

Individuation führt aber auch in die Gesellschaft auch hinein, denn die Gesellschaft der Individuen auch eine Gesellschaft ist. Es ist eben eine andere, eine moderne, eine individualisierte Gesellschaft. An dieser Stelle wird Individuation direkt gesellschaftlich, denn diese Gesellschaft, will sie den Luxus der erfolgreichen Individuation und der erfolgreichen Moderne länger geniessen, kommt ohne eine massive Hegemonie der durchgeführten Individuation nicht aus. Die umfassende soziale Relevanz der Individuation wird aber gleich geschichtsphilosophisch, wenn man daran denkt, dass eine Gesellschaft mit weitgehend erfolgreicher Individuation selten und nur als Ergebnis einer langen historischen Entwicklung gedacht werden kann, eine Art "Ende der Geschichte" im positiven Sinne des Wortes. Unsere Vermittlungskette ist wieder mit einem Glied länger geworden – von der Wahrheit-Weib-Metapher kamen wir in eine durchaus konkret aufgefasste Geschichtsphilosophie.

Kein Zweifel, die Individuation ist ein schwer definierbarer Begriff und eine schwer rekonstruierbare Erscheinung – trotz ihrer unvergleichlichen Relevanz – darin erinnert sie an den Kreis der Begriffe, die mit Glück philosophisch in Verbindung stehen.

Trotz der Relevanz und wegen der Schwierigkeit der Definierbarkeit fand also die Individuation immer noch nicht ihre akzeptable Einbettung ins Alltagsdenken und in den wissenschaftlichen Diskurs. Es ist vor vielen nicht klar, dass Individuation kein Egoismus ist, die im Zeichen der Individuation vor sich gehende Selbstverwirklichung ist keine Bestialisation, keine übertriebene Ambition, der geistige Heroismus keine ärmliche Imitation fremder kultureller Ideale.

Eine schicksalhafte Station der sozialen Existenz der Individuation ist aber das Phänomen, dass Individuation sich auch permenent politisiert. Dies ist sicherlich unbegründet, denn Emanzipation und existentieller Mut gehören funktional und theoretisch nicht ins politische Subsystem. Unsere Hypothese kann nur sein, dass die politische Entwicklung der europäischen Moderne schon vor den regelrechten totalitären Zeiten sich totalisierte und Schritt für Schritt die ganze soziale Lebenswelt eroberte. Heute schon kann man mit ruhigem Gewissen sagen, dass die Politisierung, die Zweiteilung der Gesellschaft an der Linie der Emanzipation und der Individuation eine katastrophale Entwicklung war und sicherlich sehr intensiv an jener Entwicklung beitrug, in welcher Individuation bis heute ihre optimale Einbettung in einer Gesellschaft immer noch nicht fand, welche diesen Prozess aber sehr notwendig hätte.

Mit Recht feiert die kulturelle Erinnerung Sigmund Freud wegen seiner Erschliessung des Unbewussten. Uns scheint, mit Nietzsche (und vor ihm Schopenhauer und den anderen) würde diese Anerkennung zumindest auf der Höhe Freuds auch verdienen, und zwar wegen seiner einmaligen Exponierung des Problems der Individuation, die unter anderen auch in der Liebesphilosophie eine Bedeutung hat, die sich mit Freuds bestimmenden Unbewussten durchaus vergleichen lässt.

Es ist nur eine, aber durchaus wichtige Konsequenz der Einführung der Begrifflichkeit der Individuation, dass dadurch auch eine neue Psychologie entstanden ist. Es geht nicht so sehr um eine neue Wissenschaft mit neuen Methoden (was auch nicht ausgeschlossen ist), es geht vielmehr um einen neuen Gegenstandsbereich, der durch die Individuation nicht nur vergrössert worden ist, sondern vielleicht auch durch sie in der Struktur und in den Schwerpunkten auch geändert worden war.

Es ist in grossem Teil das Hinzukommen der gesamten Problematik der Individuation zu den Problemen der Liebesphilosophie und der Erkenntnis, das die Psychologie so aufwertet. Nietzsche selber sieht es vollkommen klar: "Psychologie ist nunmehr wieder der Weg zu den Grundproblemen".

Die Individuation ist also eine der relevantesten Ausdehnungen von Nietzsches Konzept der Emanzipation, die aber ihrerseits ohne die Liebesphilosophie und dahinter die Wahrheit-Weib-Metapher unvorstellbar ist. Vorhin haben wir unterstrichen, dass die Individuation auch ein mehrfach soziales Phaenomen ist. Wie die Problematik der Individuation aus ihren eigenen Energien zum sozialen Phänomen wurde, zeigt am besten die mit Nietzsche auch mit vielen anderen Fäden verbundene Lebensreform-Bewegung.

In der Lebensreform steht das "Leben" im Zeichen der "Wahrheit", unbedingt aber auch "der Wahrheit der Liebe" (die Sinnlichkeit auch miteinbegriffen). Es gibt keine Lebensreform ohne den Gedanken der Wahrheit-Weib-Metapher. Die Wahrheit des "Lebens" vereint sich hier auch mit der "Wahrheit der Liebe".

Die so entstehende Emanzipativität der Lebensreform wird zur Praxis und als solche, wird sie zum organischen Bestandteil von Säkularisation, Modernisation und Entzauberung. Gerade durch ihren primären Inhalt trägt sie zum Diesseitigwerden der jenseitigen Werte deutlich bei. Zur Praxis geworden führt dieser Inhalt zu den Kernintentionen der Lebensreform selber und die sind die Sakralisierung und die ästhetisierung des Alltags. Dadurch wird Lebensreform selber zum Teil des grossen Prozesses, womit die spezifische Stuktur dieses ganzen Umwälzungsvorgangs wieder von einer neuen Seite aus beleuchtet werden kann. All die einzelnen Momente sind also einerseits Teil des umfassenden Diesseitigwerdens der jenseitigen Wertsetzungen, während dieser Gesamtprozess durch alle diese Teilvorgänge sich restlos vollziehen kann. Dadurch wird Lebensreform integranter Teil der Entzauberung, womit aus ihr weitere Formen der sozialen Praxis, vor allem natürlich die Pädagogik hervorwachsen können.

Begreift man den Individualisierungs- und den Moderniserungsprozess (und die Lebensreform) als ein Diesseitigwerden jenseitiger Wertsetzungen, wird man sich gleich gewahr, dass dadurch auch ein Funktionswandel der universalen Werte angesprochen wird. Jenseitige Wertsetzungen sind per definitionem universal, während universale Werte nicht unbedingt nur jenseitig werden können. In diesem Zusammenhang wird es klar, dass die Emanzipativität, auch die in der Lebensreform, nichts anderes als ein Universalismus der Diesseitigkeit, ein diesseitiger Universalismus ist. Dies versieht Emanzipation und Lebensreform mit weitreichenden historischen Zielsetzungen, die aber kein einmal zu verwirklichendes Ziel, vielmehr einen stets auszuführenden Prozess mit der ständigen und relevanten Beteiligung von Alltagsaktivitäten darstellen.

Diese emanzipativ vielschichtige Zeitgemässheit der Lebensreform verursacht es auch, dass die Lebensreform kein geschlossenes System und keine geschlossene Philosophie, vielmehr ein prozessartige Herausforderung ist, die in der Richtung auswirkt, die Modernisierung nicht ohne eine anti- oder unemanzipative Form weiter auszuführen. Die Lebensreform ist also kein System, mehr noch, die Lebensreform erscheint in den seltensten Fällen als Trägerin oder als Gegenstand, deren (dessen) ausschliesslicher Inhalt gerade die Lebensreform gewesen wäre.

Der diesseitige Universalismus bringt es mit sich, dass die Lebensreform stets eudaimonistisch, also glücksorientiert ist. Es ist übrigens auch schwer vorzustellen, dass jemand eine Diesseitigkeit anvisieren möchte, die nicht glücklich werden wollte. Dieser Zusammenhang scheint trivial zu sein, unglücklicherweise verdeckt er dadurch einen der wichtigsten Charakterzüge der Lebensreform.

Meistens wird in den Produkten lebensreformatorischen Denkens das schöpferische Individuum in den Mittelpunkt gestellt. Dies allein ist aber nicht nur nicht ausreichend, sondern auch trügerisch. Denn die wirkliche Gravitation der Lebensreform ist nicht die Befreiung und Emanzipierung des Einzelnen, vielmehr durch die Emanzipierung im Prinzip aller Einzelnen die Veränderung einer ganzen Gesellschaft. Es wird immer wieder vergessen, dass auch die Gesellschaft emanzipierter Individuen eine Gesellschaft ist, um deren Reform es eigentlich die Reform des Lebens ist. Und es ist auch in der sprachlichen Formulierung enthalten, denn "Leben" ist in der Zusammensetzung "Lebensreform" das Ganze, bzw. die Wirklichkeit selber, eine Reform des Lebens ist deshalb mit einer der ganzen Wirklichkeit identisch. Dadurch kann unsere Definition so modifiziert werden, dass die Lebensreform eine Philosophie der gemeinschaftlichen Emanzipation auf dem Wege emanzipierter Einzelner sein sollte. Daher ihre unvergleichliche Bedeutung für Schule und Pädagogie bis in unsere Tage hinein.

Es liesse sich auch Nietzsches Analyse des Hasses auch sehr produktiv mit der Wahrheit-Weib-Metapher und Liebesphilosophie vergleichen, denn der tiefste Grund des Hassphänomens eben ein Erleben des Ausgesperrtseins von einer Welt der Emanzipation und der Unfähigkeit zu einer erfolgreichen Individuation ist, auf dieser Ebene lassen sich also die beiden Analysen gerade als der symmetrische Gegensatz voneinander auffassen (indem Liebe im Sinne Nietzsches mit der verwirklichten Individuation und der schöpferischen Teilnahme am Prozess der Emanzipation gleichbedeutend ist). Diesen Vergleich konnten wir aber in diesem Rahmen nicht durchführen, weil die anfangs sehr differenzierte Analyse des Hassphänomens nach der Aufnahme der Affektenlehre in Nietzsches Denken bald von der Affektenlehre beinahe vollkommen einverleibt wird – so dass dieser Vergleich mit Notwendigkeit sein ursprüngliches Ziel eingebüsst haben würde.

Besser steht aber die Möglichkeit der Liebesphilosophie mit jenen Konzepten, die wir als "Philosophie der Freundschaft" bei Nietzsche nennen könnten.

Nietzsche betont es auf explizite Weise, dass der Freund ein "Dritter" ist, die dritte Gestalt des ständigen inneren Dialogs, wohl auch der inneren Kämpfe der herakleitisch-dynamischen Persönlichkeit, der oft nur durch seine Präsenz diesen Dialog gestaltet (was auch schon die Vorbereitung dessen ist, wie erklären wir, wen wir uns als Freund wählen).

Nietzsche macht ganz gewaltige Fortschritte in der Erschliessung der ebenfalls hohen Komplexität der Freundesbeziehung. Entscheidend ist das unaufhebbare diagonale Element des Kampfes und des Wettbewerbes, während diese Beziehung gleich in zwei "Fronten" die Selbstüberwindung des Einzelnen befördert. Diese Dualität treibt einen zur Selbstüberwindung auf eine offene Weise so, dass der Dialog unmittelbar zum Wettbewerb wird. Andererseits erfolgt die Selbstüberwindung so, dass jemand sich auch indirekt überwindet, wenn er die aufkommenden Gefühle des Neides, der Eifersucht und der Rivalität selber bekämpft: "...oft will man mit der Liebe nur den Neid überspringen".

Es ist aber auch so, dass durch die Philosophie der Freundschaft auch die Liebesphilosophie indirekt reicher und differenzierter wird, etwa: "Noch ist das Weib nicht der Freundschaft fähig..." Dieser Satz zieht den Wahrheit-Weib-Ausgangspunkt überhaupt nicht zurück (auch nicht die darin in aller Implizitheit sehr deutliche Hoch- und Aufwertung der Frau). Der Rückschluss der Freundschafts-Problematik auf die Liebesphilosophie kann einige Momente auch dazu beitragen, was wir vorhin über die persönliche Liebeswahl anzudeuten versucht haben (auch wenn er das Problem ganzheitlich auch überhaupt nicht löst). Die Philosophie der Freundschaft führt die Liebesproblematik in jenen Zusammenhang weiter, dass die Wahrheit der Frau (die Warheit-Weib-Metapher) – auch wenn sie nicht angetastet wird – nicht mehr auch in die Dimension der Freundschaft hinüberreicht.

Es ist keine Kritik an der aktuellen Gestalt der Frau und (wir wiederholen es immer wieder) keine Zurücknahme ihrer grösseren Wahrheitsnähe. Zunächst ist die Bestimmung "noch" entscheidend, die – der stets dynamischen Sichtweise Nietzsches über die Emanzipation voll entsprechend – damit einen klaren historischen Entwicklungsweg antizipiert. Die Frau wird also einmal der Freundschaft fähig sein und diese Fähigkeit wird dann mit sich bringen, dass die bis jetzt schlummernden und nicht erschliessbaren persönlichen und qualitativen Dimensionen der Liebe, auch die der Warheit-Weib-Metapher transparenter werden. Um der Vollständigkeit willen müssen wir es aber auch betonen, dass die Frau bei Nietzsche selbst in diesem Stadium ("noch" der Liebe nicht fähig) kein blosses Naturwesen wird (wie es von Nietzsche durchaus nicht unabhängig bei Otto Weininger der Fall ist, um nicht gerade die klassische Kreutzer-Sonate von Lew Tolstoj auch gleich zu nennen). Unser Gedankengang vertrat von Anfang an die Einstellung, dass die Frau selbst schon innerhalb der Wahrheit-Weib-Logik durchaus hoch aufgewertet ist.

Die Liebesphilosophie begründet auch andere Ergebnisse der anderen tabu-brechenden Durchbrüche in Nietzsches Philosophie, sie gründet sich aber auch auf sie. Zu diesen Errungenschaften gehört das Kapitel "Von den Verächtern des Leibes" in Zarathustra. Hier wird eine ganze Reihe von Feststellungen formuliert, die in einer gewissen Ordnung die tief ins Physische und Physiologische hinabreichende Genese von intellektuellen und moralischen Erscheinungen aufzeigt ("Aber der Erwachte, der Wissende sagt: Leib bin ich ganz und gar, und nichts außerdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe. Der Leib ist eine große Vernunft... mein Bruder, die du »Geist« nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner großen Vernunft").

Die möglichen und wirklichen Gipfel der unaufhörlichen Ausdehnung der Liebesphilosophie verkörpert sich klassisch in Nietzsches Aufforderung "Schreibe mit Blut!". Scheinbar gilt sie als eine sehr allgemeine, geradezu banale, zumindest aber sentimental-romantische Aussage, die der moderne Leser höchstens nur eine moralisch anziehende Geste interpretieren kann. Legt man jedoch hinter diesen Spruch das, was Nietzsche über den Leib sagte, das, was aus der Liebesphilosophie diese neue Vorstellung über den Leib begründet, so erscheint derselbe Spruch gleich als ein Bündel von komplexen Inhalten, die nicht nur auf die Höhe universaler Dimensionen, sondern auch die Höhe der charismatischen Evidenz der Warheit-Weib-Metapher ersteigen kann.

Dieser Spruch ist als eine Aussage, die schon im Namen eines solchen einheitlichen Menschenbildes formuliert worden ist, das nicht nur auf dem Gebiet der Liebesphilosophie auch voll gilt, sondern auch auf der Grundlage derselben Liebesphilosophie den Körper, die Gefühle, den Intellekt, die Affekte, das Unbewusste miteinander vermittelt und verbindet.

Man muss erkennen, dass mit diesem Spruch Nietzsche materiale Verbindung zwischen Problemen und Gebieten herstellt, die wir als intellektuelle Probleme erleben und die wir im Augenblick in keine einigermassen nur materiale Kausalrelationen aufheben könnten. An dieser Stelle ist die "materiale" Verbindung (das Blut) alles andere als ein bereits erwiesener Zusammenhang, sie ist antizipiert und metaphorisch. Wir müssen es auch erkennen, dass es die Richtung der späteren Forschungen auch ist, die materiellen Bezüge, die lange nur antizipiert und metaphorisch sind, werden langsam von den Wissenschaften entdeckt.


Auflösung der Sigle:

WWV = Schopenhauer, Arthur, Die Welt als Wille und Vorstellung. Herausgegeben von Julius Frauenstädt. 1. Band: Vier Bücher, nebst einem Anhange, der die Kritik der Kantischen Philosophie enthält. 2. Band: welcher die Ergänzungen zu den vier Büchern des ersten Bandes enthält. Leipzig, F.A. Brockhaus, 1879. 5. Auflage 2 Bände Großoktav, 633/743 SS.


Literatur:

 

TRANSINST       Inhalt / Table of Contents / Contenu: No.14


For quotation purposes - Zitierempfehlung:
Endre Kiss (Budapest): Liebesphilosophie auf Nietzsches Grundlagen. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 14/2002.
WWW: http://www.inst.at/trans/14Nr/kiss14_2.htm.


TRANS     Webmeister: Gerald Mach     last change: 20.7.2014    INST