Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 14. Nr. | September 2005 |
Daniel L. Medin (St. Louis)
Besser als die Psychoanalyse gefällt mir in diesem Fall die Erkenntnis, daß dieser Vaterkomplex, von dem sich mancher geistig nährt, nicht den unschuldigen Vater, sondern das Judentum des Vaters betrifft. Weg vom Judentum, meist mit unklarer Zustimmung der Väter (diese Unklarheit war das Empörende), wollten die meisten, die deutsch zu schreiben anfingen, sie wollten es, aber mit den Hinterbeinchen klebten sie noch am Judentum des Vaters und mit den Vorderbeinchen fanden sie keinen neuen Boden. Die Verzweiflung darüber war ihre Inspiration. Kafka an Max Brod, 1921 |
1993 kam die Prozeß-Verfilmung von David Jones in die deutschen Kinos. Als Hilfsmittel für den Zuschauer, veröffentlichte der Kinowelt-Filmverleih München eine "Prozesszeitung" mit kurzen Artikeln, die Leben und Werk Franz Kafkas zusammenfassen sollten. Das Heft endete mit einem kurzen Trost über die scheinbare Unzugänglichkeit von Kafkas Werk: "Die Schriften Kafkas erweisen durch die Zeiten eine erstaunliche Widerstandskraft. Sie bleiben trotz der Übergriffe unbeschadet. Bis heute haben sie nichts von ihrem Geheimnis eingebüßt" (Müller 8).
"Hier wird also impliziert," schreibt Michael Müller, "dass die Geschichte der wissenschaftlichen Kafka-Rezeption eine Geschichte der Missverständnisse ist, und dass jeder Versuch, Kafkas Werk zu deuten, eine verfehlte Art der Rezeption bleibt" - genauso wie dem Mann vom Lande das Gesetz und K. das Schloss entzogen bleibt - ist allerdings fragwürdig. Zahlreiche Artikel und Bücher haben unsere Kenntnis über Kafka und sein Oeuvre unendlich vermehrt (12), indem sie ihre Aufmerksamkeit auf die Religion und gesellschaftlichen Lebensumstände gerichtet haben. Karl Erich Grözinger, Stephane Mosés und Hans Dieter Zimmermann haben 1986 das Thema ihres Colloquiums, "Kafka und das Judentum," mit folgender Aussage gerechtfertigt: "Was man nicht kennt, erkennt man nicht. Wenn man die Tradition des Judentums nicht kennt, kann man die Verarbeitung dieser Tradition im Werk Kafkas nicht erkennen" (8).
Selbst verständlich waren die Teilnehmer dieses Colloquiums, das sowohl aus Kafka-Forschern als auch als Juden bestand, nicht die ersten, die Kafkas "Verarbeitung dieser Tradition" erkannten. Kafkas Freundschaftskreis in Prag, insbesondere Felix Weltsch und Max Brod, postulierten schon früh, wenn auch falsch oder übertrieben, die Rolle des Judentums in seinem Werk. "Recht hat Brod," erklärt Zimmermann, "wenn er feststeht, er habe Kafkas Bekenntnis zum Judentum nicht ‘erfunden.’ Die Beziehung Kafkas zum Judentum wird aus seinem Briefen und Tagebüchern in einer über allen Zweifeln erhabenen Art deutlich" (192).
Kafkas berühmte Erwiderung auf Milena Jesenskás Frage - "jste žid?", d.h. "sind Sie Jude?" - ist ein aussagekräftiges Beispiel für Brods Behauptung. Sie schildert die Juden nicht nur derart, dass man an das Volk der Mäuse erinnert wird, sondern auch so, dass der Inhalt des Briefes repräsentativ für die "jüdische Frage" Kafkas ist. "Die unsichere Stellung der Juden," schrieb er, "unsicher in sich, unsicher unter den Menschen, würde es über alles begreiflich machen, daß sie nur das zu besitzen glauben dürfen, was sie in der Hand oder zwischen die Zähne halten, daß ferner nur handgreiflich Besitz ihnen Recht auf das Leben gibt und dass sie, was sie einmal verloren haben, niemals wieder erwerben werden, sondern daß es glückselig für immer von ihnen fortschwimmt. Von den unwahrscheinlichsten Seiten drohen den Juden Gefahren, oder lassen wir um genauer zu sein die Gefahren weg und sagen: ‘drohen ihnen Drohungen.’" (26).
Ernst Pawel weist seiner Kritik an der "Karikatur" Kafkas als "der Geist und die Seele eines deutschen Pädagogen" in Hartmut Binders Kafka in neuer Sicht auf dieser Unsicherheit hin (253). Pawels eigene Kafka-Biographie behauptet, dass das Judentum nicht nur der Schlüssel zu Kafkas Schicksal sei, sondern gleichermaßen der entscheidende Knotenpunkt zwischen seinem Leben und seinem Werk; deshalb stellt er in seinem Buch die Frage, was es bedeutet um 1880 in Prag als Jude aufzuwachsen (254). Um diese Frage zu beantworten, muss man zwei verschiedene methodologische Ansätze betrachten: den religions-philosophischen und den sozial-historischen.
In einem Brief an Walter Benjamin schrieb Gerschom Scholem über Kafkas Stellung in dem "Kontinuum . . . des jüdischen Schrifttums" (Zimmermann 188). Der berühmte Gelehrte der jüdischen Mystik hat Spuren von Kafkas Beschäftigung mit der Kabbala und anderen jüdischen Traditionen schon früh erkannt -merkwürdigerweise ohne einleuchtende Äußerungen von Kafka zu kennen, die erst später veröffentlicht wurden (189). Eine der ersten dieser "Traditionen" in Kafkas Tagebüchern beschäftigt sich mit dem osteuropäischen Judentum.
Im Mai 1910 sah er zum erstenmal eine Aufführung einer jiddischen Schauspielgruppe aus Lemberg und lernte durch eine andere Lemberger Schauspielgruppe, die im Winter 1911-1912 nach Prag kam, den polnischen Schauspieler Jitzchak Löwy kennen. Kafka besuchte ungefähr zwanzig Aufführungen (Robertson 25-27), und kurz danach "findet sich eine Aufzeichnung über den Talmud, die schon ein Bild für Kafkas eigene Art der Beweisführungen gibt, die an die des Talmuds erinnert mit ihrem wiederholten Hin- und Her- Wenden der Aussage" (Zimmermann 192).
Nicht nur das er viel über osteuropäische jüdische Kultur von Löwy gelernt hat, er wurde auch durch diesen auch mit mehreren jiddischen Schriftstellern bekannt. Des weiteren führte der Freund ihn auch in die jiddische lyrische und erzählerische Dichtung ein. Er hat ihm z.B. Gedichte von Morris Rosenfeld und Bialik vorgelesen. Löwy las außerdem Prosastücke von Jitzchok Leib Perez und Schalom Alejchem, die sogenannte Großväter der jiddische Literatur (Robertson 30). Kafka selbst fuhr daraufhin fort, mehrere Bücher in deutscher Übersetzung zu lesen. Noch 1916 empfahl er Felice Bauer einige Sammlungen von Perez und Schalom Asch. Er kannte auch viele von Martin Bübers gesammelten chassidische Geschichten, auch wenn der preziöse Stil Bubers Kafka nicht immer gefallen hat. Am 1. November 1911 fing er "gierig und glücklich" (Tagebuch 132) mit der Lektüre von Heinrich Graetzs Geschichte der Juden an, und eigene Monate später, als seine Begeisterung für jiddischen Kultur und Geschichte ihren Höhepunkt erreicht hatte, stürzte er sich auf die 500 Seiten umfassende Geschichte der jiddischen Literatur auf französisch, die kurz zuvor an der Universität Paris von Meyer Isser Pines vorgelegt worden war (Robertson 30-31).
Jitzchak Löwy war ein osteuropäischer Jude, der westwärts reiste; eine andere wichtige Quelle Kafkas für die ostjüdische Gemeinschaft, Kultur und Religionsphilosophie war ein westeuropäischer Jude, den Kafka beschreibt als einen, "der sich den Chassidismus assimiliert hat" (Tagebuch 468). Jiri Langer, ein Prager Jude aus einer vollständig assimilierten tschechisch sprechenden Familie,
"begab sich . . . im Alter von neunzehn Jahren nach Belz, einem Städtchen in Galizien, das fast ein Jahrhundertlang Sitz einer Dynastie chassidischer Zaddikim gewesen war. Langer vertiefte sich in das Leben eines Chassids, lässt sich geringelte Schläfenlocken wachsen, lernt jiddisch und hebräisch und studiert unter Issachar Dow Rokeah den Talmud" (Robertson 234). Als Kafka ihn 1915 kennenlernte, hatte Lange schon sein glaubenstrenges Verhalten ein wenig abgemildert, obwohl er sich noch wie ein Chassid kleidete (234). Von Langer, der später Bücher über den Talmud, den Chassidismus und sogar Freuds Psychoanalyse schrieb, lernte Kafka Erzählungen über den Baalshem Tow und die Kabbala. Er führte Kafka auch bei einem Zaddik, dem frommen Wunderrabbi von Belz ein.
Gershom Scholem war der Erste, der auf struktelle Ähnlichkeiten zwischen Kafkas Werk und der jüdischen Mystik hinwies. 1992 erschien Grözingers Kafka und das Kabbala, das die These vertritt, dass eine "große Anzahl von Motiven" von "popularisierten Grundmustern der Kabbala" in "Kafkas Texten Parallelmaterial bietet" (14). Ähnliche Parallelen kann man auch bei der Erforschung des Einfluss von jiddischen Literatur und Theater auf Kafkas Werk finden; Evelyn Torton Beck, z.B. erörtert auffällige Handlungsähnlichkeiten zwischen den jiddischen Schauspielstücken, die Kafka sah, und seinen frühen Erzählungen. Alle diese Gelehrten gründen ihre Argumentation auf den Zusammenhang zwischen Kafkas Kenntnis verschiedener Themen, die auch in seinen nichtfiktionalen Texten auftauchen, und deren Wiederkehr in seinen Erzählungen, Aphorismen und Romanen.
Betrachtet man Kafkas Beschäftigung mit der ostjüdischen Kultur und Religionsphilosophie im Vergleich zur assimilierten jüdischen Gemeinde Prags, kommt man der Antwort auf Pawels Frage näher. Weil Kafka sich selbst als Jude sah, und zwar als westeuropäischen - im Gegensatz zu den osteuropäischen, die dem Glauben und der Tradition stärker verbunden waren - weil er als Angehöriger einer jüdischen Minderheit unter tschechischen Christen lebte, ist es besonders nötig die historischen Zustände des jüdischen Prags um die Jahrhundertwende zu kennen. Nur dann kann eine Beziehung zwischen der Bedeutung von Kafkas Studien des osteuropäischem Judentums und den "Drohungen," die er in dem Brief an Milena erwähnt, hergestellt werden.
"Die Juden Prags," schreibt Robertson, "bildeten eine nur kleine Gruppe":
In Jahre 1900 Umfasste sie 26,342 Personen. Die Muttersprache einiger von ihnen war das Tschechische; die Mehrzahl jedoch sprach Deutsch und stellte sich etwa ein Drittel bis die Hälfte der deutschen Sprachgemeinschaft der Stadt dar. Amtliche Statistiken zeigen, dass die Zahl der Deutschsprechenden von 38,591 im Jahre 1880 auf 32,332 im Jahre 1910 sank, so dass sie eine ständig abnehmende Teilgruppe der städtische Gesamtbevölkerung bildete, die in der selben Zeit von 255,928 auf 442,017 Personen anwuchs." (10)
"1880 bekannte sich ein Drittel der böhmischen Juden zur tschechischen Umgangssprache," merkt Christoph Stölzl, "1900 waren es bereits über fünfzig Prozent. Zwischen 1890 und 1900 wechselten über viertausend Juden in der Prager Innenstadt ihr nationales Bekenntnis; während in Prag 1890 noch 74% der Juden sich zur deutschen Umgangssprache bekannt hatten, waren es 1900 nur noch 45%" (50). Die neu eingeführte Statistik der Umgangsprache gab der politischen Öffentlichkeit und der tschechischen Nationalbewegung ein Instrument in die Hand, das "nationale Bekenntnis" des Individuums, seine politische Identifizierung weit präziser haftbar zu machen, als das in den Wahlkämpfen möglich gewesen war; der Grund für dieses schnelle "Wachstum" der tschechischen Sprache in der jüdischen Gemeinschaft wird klar, wenn man das Dilemma der assimilierten mitteleuropäischen Juden um die Jahrhundertwende betrachtet.
Ihre kulturelle Identität war, im Gegensatz zu der Identität der osteuropäischen Juden, nicht so klar umrissen bzw. religiös geprägt. Als Assimilierte versuchten sie, die jeweiligen nationalen Elemente - deutsch oder tschechische - in ihre Identität zu integrieren, ohne allerdings wirklich der nationalen Gruppe anzugehören. Denn: die nichtjüdische Außenwelt nahm sie als Juden, wahr, und zwar im negativen Sinne. Selbst die "Muttersprachlichkeit," also das Beherrschen der deutschen Sprache seitens der gebildeten, führe nicht dazu, dass sie dazugehörten. Denn wenn sie die deutschen Sprache beherrschten, wurde ihnen wiederum unterstellt, sie würden "mauscheln." So unterstellte Karl Kraus, ein getaufter Jude, auch seinem Kollegen Franz Werfel, ebenfalls getaufte Jude, die Sprache nicht zu beherrschen, sondern zu mauscheln, eine absurde Situation, die Kafka im ersten Moment amüsierte, im zweiten nachdenklich stimmte, weil er über sein eigenes Schreiben, seine Sprache, nachdachte, "der Unmöglichkeit, nicht zu schreiben, der Unmöglichkeit deutsch zu schreiben, der Unmöglichkeit, anders zu schreiben," und endlich, "die Unmöglichkeit zu schreiben" (Briefe 337-338).
Während die tschechisch-nationale Bewegung immer stärker, und das Vermögen des österreichischen Kaisers, das böhmische jüdische Bürgertum zu beschützen immer schwächer wurde, versuchte das assimilierte Bürgertum sich einer neuen Gruppe, nämlich den Tschechen zuzuwenden. Natürlich musste dieser Versuch scheitern, antisemitische Pogrome machten solche Bemühungen zunichte. Zimmermann hat also recht, wenn er behauptet: "Den Antisemitismus lernte Kafka als tschechischen Antisemitismus kennen" (187). "Zu Kafkas Lebzeiten," schreibt Robertson, gab es immer noch die Blut-Beschuldigung: der Verwurf, Juden ermordeten Christen, um ihr Blut für rituelle Zwecke zu verwenden, insbesondere für die Herstellung des ungesäuerten Brotes zum Pessah-Fest" (21). Es gab drei bestimmte Vorfälle solcher Art, die Kafka stark geprägt haben müssen.
Der erste fand 1883 in einer kleinen ungarischen Stadt, Tisza-Eszler, statt. Juden wurden beschuldigt, ein christliches Kind ermordet zu haben. August Rohling, Professor für semitische Sprachen an der Universität Prag verstieg sich sogar zu der Behauptung, "solche Untaten seien im Talmud begründet" (22), und im Frühling, kurz vor Kafkas Geburt, wurden in Prag "antisemitische Zettel und Drohbriefe . . . verstreut, auf denen man etwa folgendes lesen konnte: ‚Herr im Himmel ists ein Leben / dort tuts keine Juden geben / Aber die ihr brav und bieder / nehme den Stock und schlagt sie nieder / Denn nur dann wirds Heil erstehen / wenns wird keine Juden geben" (Stölzl 48). Kafka erlebte dieses "Bade in Judenhass," wie er später den 1920 drei Tage lang dauernden Prager Straßenpogrom an Milena bezeichnete, durch seine Lektüre des Ritualmord in Ungarn, Arnold Zweigs literarische Bearbeitung der Tisza-Eszler-Affäre. Kafka las 1916 das Stück, und war zu Tränen gerührt (Felice 735-736).
Die sogenannte ‚österreichische Affäre Drefyus’ ereignete sich 1899, als Kafka sechzehn Jahre alt war. Am Ostertag, den 1. April, wurde in der Nähe des Weges von Polna nach Klein-Wietnitz eine neunzehnjährige Häuslertochter mit einer großen Schnittwunde am Hals tot aufgefunden. Jaromir Husek, der Redakteur eines tschechischen Antisemitenblattes, "machte als selbst ernannter Staatsanwalt einen christlichsozialen Politiker in Wien auf den Polnaer Fall aufmerksam" (Stölzl 63). Obwohl es eigentlich keinen Beweis dafür gab, wies Husek auf den jüdischen Schustergesellen Leopold Hilsner als Täter hin. "Von diesem Zeitpunkt ab," setzt Stölzl fort,
"als die Verbindung zwischen dem lokalen und Zentralen Antisemitismus Österreichs hergestellt war, entwickelten sich Affäre und Gerichtsverfahren über alle institutionellen und rechtsstaatlichen Mauern hinweg zu einem massenpsychologischen Prozess gegen das Judentum schlechthin, der nur in dem von Anfang an feststehenden Schuldspruch enden konnte." (67)
Dem Staatsanwalt Dr. Karel Baxa, der später Bürgermeister von Prag wurde, gelang es, dass Hilsner zum Tode verurteilt wurde. Es gab eine Wiederaufnahme des Verfahrens bei dem die Todesstrafe bestätigt wurde - trotz der Bemühungen Thomas Masaryks, damaliger Soziologieprofessor und künftige ersten Präsident des Tschechoslowakeis, gegen das Verfahren -, bis sie schließlich 1901 in eine lebenslängliche Zuchthausstrafe umgewandelt wurde. 1916, dem Jahr, in dem Kafka Zweigs Buch las, wurde Hilsner endlich begnadigt (Robertson 22).
Vorausgesetzt daß Kafka zwischen 1911 und 1913 die Prager zionistische Zeitung Selbstwehr regelmäßig las, hat er wahrscheinlich auch die Beilis-Affäre in Kiew verfolgt. Jahre später, kurz vor seinem Tod schrieb er eine Geschichte über die Vorgänge um Beilis. Der Prozess gegen Beilis führte in Russland zu zahlreichen antisemitischen Ausschreitungen (22-23), und obwohl die Lage für Prager Juden auf keinen Fall so grausam war, wie bei den auf dem Land in Russland lebenden, konnte Kaiser Franz Josefs Macht trotzdem nicht die deutschen Juden in Böhmen ausreichend vor antisemitischen Übergriffen beschützen; Boykotte und Gewaltwellen ereigneten sich häufig in der Hauptstadt Böhmens.
Andere interessante Themen, die zum sozial- und kulturgeschichtlichen Ansatz und aus Zeitgründen nur kurz erwähnen werden sind Kafkas Äußerungen bezüglich des Selbsthasses, die die stereotypischen antisemitischen Beschreibungen von Juden - z.B. als schlaksig, berechnend, verschlagen, krank u.s.w. - wiederspiegeln, und seine Überlegungen zum "Zionismus-Antizionismus" zwischen denen er schwankte. In all den aufgezeigten Fällen spielt das Judentum für Kafka eine bedeutende Rolle, weil es nicht nur entscheidend ist für seine eigene Identität, sondern auch dafür, wie er seine Umwelt wahrnimmt.
Am 7. Juli 1916 schreibt Kafka amüsiert an Felice Bauer über zwei Rezensionen, die vor kurzem erschienen sind.
Willst Du mir übrigens nicht auch sagen, was ich eigentlich bin. In der letzten Neuen Rundschau wird die Verwandlung erwähnt, mit vernünftiger Begründung abgelehnt und dann heißt es etwa: ‚K.’s Erzählungskunst besitzt etwas Urdeutsches.’ In Maxens Aufsatz dagegen: ‚K.’s Erzählungen gehören zu den jüdischsten Dokumenten unserer Zeit.’ Ein schwerer Fall. Bin ich ein Zirkusreiter auf 2 Pferden? Leider bin ich kein Reiter, sondern liege am Boden. (720)
Er liegt am Boden - vielleicht genauso verzweifelt wie die, "die deutsch zu schreiben anfingen, sie wollten es, aber mit den Hinterbeinchen klebten sich noch am Judentum des Vaters und mit den Vorderbeinchen fanden sie keinen neuen Boden. Die Verzweiflung darüber war ihre Inspiration" (Briefe 337). Wenn dieses Dilemma auch das von Kafka ist, dann hat es nicht nur die Briefe und Tagebücher bestimmt, sondern auch seine literarische Fiktion.
© Daniel L. Medin (St. Louis)
Inhalt / Table of Contents / Contenu: No.14
LITERATUR
Kafka, Franz. Briefe 1902-1924. Ed. Max Brod. Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1975.
Kafka, Franz. Briefe an Felice [Bauer] und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Ed. Erich Heller and Jurgen Born. Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1976.
Kafka, Franz. Briefe an Milena [Jenenska]. Erw. und neu geordnete Ausgabe. Ed. Jurgen Born and Michael Muller. Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1986.
Kafka, Franz. Gesammelte Werke in zwölf Bänden: Aufgrund der Kritischen Ausgabe. Ed. Hans-Gerd Koch. Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1994.
Müller, Michael. "So viele Meinungen! Ausdruck der Verzweiflung? Zur Kafka-Forschung." Text und Kritik: Sonderband Franz Kafka. München: Edition Text und Kritik, 1994.
Pawel, Ernst. "Das Leben Franz Kafkas." Kafka und das Judentum. Frankfurt a.M.: Jüdischer Verlag, 1987.
Pawel, Ernst. The Nightmare of Reason: A Life of Franz Kafka. New York: Farrar Straus Giroux, 1984.
Robertson, Ritchie. Kafka: Judaism, Politics, and Literature. Oxford: Clarendon Press, 1985.
Stölzl, Christoph. Kafkas böses Bohmen: Zur Sozialgeschichte eines Prager Juden. München: Edition Text & Kritik, 1975.
Wagenbach, Klaus. Franz Kafka: Eine Biographie Seiner Jugend. Bern: Francke Verlag, 1958.
Zimmermann, Hans Dieter. Der babylonische Dolmetscher: Zu Franz Kafka und Robert Walser . Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985.