Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 14. Nr. April 2003

Integrierung als "Heimkehr"

Juri Mosidze (Tbilissi)

 

Es wäre vom sozial- und ethnopsychologischen Standpunkt aus gesehen höchst interessant, den heute vorgehenden Verwandlungsprozess des sogenannten "postkommunistischen" geopolitischen Raumes der ehemaligen Sowjetunion möglichst näher ins Auge zu fassen und ihn daraufhin zu besprechen, wie dieser Prozess von den dadurch unmittelbar betroffenen Völkern gedeutet wird. Was man dabei unvermeidlich bemerkt, ist für mich - einen Georgier - von ganz besonderem Gewicht, denn es geht hier letzten Endes um nichts weniger als die Selbstauffassung meines Volkes und - wenn ich mich nicht zu unverzeihlich irre - auch um etwas, was für die Selbstauffassung der Europäer nicht ganz unbedeutend wäre. Um das Gesagte völlig und eindeutig zum Ausdruck zu bringen, wollen wir den genannten postkommunistischen Raum auf eine einzigartige und - so hoffen wir - in ethnopsychologischer Hinsicht sinnbezogene Weise dichotomisieren, d.h. in zwei verschiedenartig bestimmte Bereiche unterteilen. Diese zwei Bereiche (zwei Teile) unterscheiden sich ausgehend davon, wie der Prozess des Integrierens im europäischen (abendländischen) Zivilisationsraum(1) verstanden wird. Und das ist das Kriterium, das - so meinen wir - den gesamten genannten Raum in zwei, in quantitativer Hinsicht bedeutungsvoll entgegengesetzte Stimmungsbereiche verteilt. Die dominante, beinahe den genannten postkommunistischen Raum umfassende Stimmung weist darauf hin, daß hier der oben genannte Integrierungsprozess vorwiegend im rein politisch-ökonomischen Sinne verstanden wird. Die geschichtlich-kulturelle Selbstauffassung wird dadurch kaum betroffen. Die Stimmung aber, die in Georgien vorherrscht, kann (und muß) eindeutig wie folgt ausgedrückt werden: für den Georgier bedeutet der heute stattfindende Integrierungsprozess Heimkehr, d.h. Wiederkehr in seine abendländische (Ur)Heimat. Und wir meinen, daß das Gesagte auch wie folgt dargeboten werden könnte: Georgien ist der einzige (und der einzigartige) Ort im postkommunistischen Raum, wo der Integrierungsprozess auf einen überpolitischen (und überökonomischen) Sinn hin gedeutet und erlebt wird.

Vielleicht wird man uns einer Übertreibung beschuldigen und folgendermaßen erwidern: wäre es nicht berechtigt, in der erwähnten Hinsicht den Vorrang der Heimkehr den Ostseeländern zuzuschreiben? Es sind ja die Länder, die aktiver als jemand dafür gekämpft haben, sich wieder in Europa zu integrieren. Unsere Antwort darauf wird heißen: im kulturellen Sinne haben diese Länder niemals aufgehört, mit vollem Bewußtsein sich in Europa zu befinden - sie wurden ja erst im XX. Jahrhundert von Rußland annektiert. Daraus folgt, daß der heutige Integrierungsprozess von ihnen nur sozialpolitisch und ökonomisch verstanden werden kann. Wir aber haben das Gefühl, aus einer langjährigen geistig-kulturellen Gefangenschaft erlöst zu werden. Ich kann darum mit voller Verantwortung und Gewissheit sagen: ungeachtet der überaus schweren ökonomischen Lage, in der sich unser Land befindet und der kompliziertesten sozialpolitischen Probleme, deren Lösung uns noch bevorstehen, kann man heute kaum einen Georgier begegnen, der nicht ganz bewusst vom Gefühl der Heimkehr im oben genannten Sinne sprechen könnte. In der Situation der größten politischen Zerrissenheit des heutigen Georgiens ist dieses Gefühl - Gefühl der Wiederkehr in die europäische Heimat, also einer Repatriierung im geistig-kulturellen Sinne - vielleicht das Einzige, was vereinigend im nationalen Sinne wirken kann.

Folgt nicht hieraus, daß man die ganze Geschichte Georgiens in einem gewissen Sinne als einen langwierigen Erwartungsprozess verstehen könnte? Von der abendländischen Heimat territorial auf die tragischste Weise getrennt, hat unser Land immer innerlich geträumt, irgendwie (aber wie?) heimzukehren. Erst heute, wenn der territoriale Faktor seine Bedeutung fast vollständig einbüßt, kann - so meinen wir - dieser Traum sich verwirklichen.

Das hier gesagte - ich möchte es wiederholen - kann (und muß) als etwas im höchsten Sinne bedeutungsvoll nicht nur für Georgien, sondern auch für Europa, für die Selbstdeutung Europas sein. Darum wäre es natürlich notwendig (und interessant), die Rahmen der hier gebotenen historischen Konstatierungen (wie bedeutend sie auch sein mögen) zu überschreiten und eine Hermeneutik des georgischen Heimkehrsgefühls zu wagen. Eine solche Hermeneutik ist sogar - denke ich - die maßgebendste Aufgabe für das heutige Georgien (und vielleicht ein interessantes Unternehmen für einen Europäer) und natürlich ist es kaum möglich, so etwas in einem kleinen Artikel zu vollführen. Ich möchte aber - und das wäre vielleicht ein kleiner Beitrag meinerseits zur Begründung der oben erwähnten hermeneutischen Aufgabe - mich auf die Äußerungen jenes Philosophen berufen, der etwas wesentliches von der georgischen Mentalität gesagt hat. (Ich meine den hervorragenden georgischen Philosophen Merab Mamardaschwili, der jahrelang in Rußland gelebt und gewirkt hat und dessen Werke in diesem Land heute überaus beliebt sind). Ich möchte nämlich auf die zwei folgenden von Mamardaschwili hervorgehobenen Wesenszüge des georgischen Charakters hinweisen, die meines Erachtens eindeutig dessen abendländischen Grundgehalt manifestieren. Diese Wesenszüge sind:

Wenn das alles stimmt - und jeder wirklich selbstbewußte Georgier wird sagen, daß Mamardaschwili mit solchen Worten das Innerste seiner Seele ausgedrückt hat -, so ist damit die wesentlichste Frage für die Zukunft Georgiens gestellt: Wenn die Heimkehr wirklich wird, wird der georgische Individualismus seine Übertriebenheit einbüßen und dadurch zur Möglichkeit der vollen Entfaltung seiner Potentialitäten gelangen? Und wenn das wirklich geschieht, was wird aus seinem "lustigen Tragismus"? Wird er einfach verschwinden, oder sich in etwas Unerwartetes - unerwartet Europäisches - verwandeln?

© Juri Mosidze (Tbilissi)

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ANMERKUNGEN

(1) "Integrieren in den europäischen Zivilisationsraum" wird im postkommunistischen Raum als "Integrieren in die Zivilisationswelt schlechthin verstanden. (Darüber näher in: Guram Lebanidze, Das Abendland, Tbilissi, 2000 (georgisch), S. 14.)

(2) Merab Mamardaschwili, Georgien in der Nähe und Ferne, Tbilissi, 1995 (russisch), S. 10

(3) Ebenda, S. 11


For quotation purposes - Zitierempfehlung:
Juri Mosidze (Tbilissi): Integrierung als "Heimkehr". In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 14/2002.
WWW: http://www.inst.at/trans/14Nr/mosidze_integration14.htm.


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