Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 14. Nr. | Dezember 2002 |
Eszter Propszt (Szeged)
Aladar Bischof stellt sich vor, er springt mit seinem Großvater vom Turm der Franziskanerkirche in Frankenstadt und erlebt im Sprung die Geschichte seiner Familie von der Ansiedlung der deutschstämmigen Ahnen. Das ist die Binnengeschichte von István Elmers "Volksbarock"(1). Und der Rahmen: Aladar, den seine Frau verlässt, da er die Kinderlosigkeit als "eine kultivierte Form des Selbstmordes" lebt, kauft nach der Wiederbeerdigung seines Vaters das Pfarrhaus, das seine Ahnen erbaut haben, in der Absicht, dort mit seiner Frau eine Familie zu gründen.
Der vorgestellte Sprung, ein Spiel, erfüllt eine therapeutische Funktion: Es soll die Wiederbeerdigung seines Vaters verarbeiten helfen. Die Wiederbeerdigung ist ein sinnbildendes Ereignis, es "fällt" auf Aladar als "eine Geschichte", als ein Narrativ, womit er zunächst "nichts anfangen kann", das ihn aber dann zum Lesen-Erzählen, zum Re-Konstruieren seines Wissens über sich selbst, zum Re-Konstruieren seiner Lebensgeschichte veranlasst. Das Ergebnis ist ein Narrativ, in dem er seine neu gewonnene Identität seiner Frau anträgt, in dem er die Ereignisse seines Lebens gestaltet und interpretiert. Unser Beitrag stellt sich die Aufgabe, den Text auf die narrative Operation hin zu analysieren, die die heterogenen Zustände und Erfahrungen eines Lebens synthetisiert und so die Identität einer Person entwirft.(2)
Die Identitätsbildung geschieht im und durch den Plot der Einweihung.
Auch du bist sicher mal in der Nacht allein geblieben, wach, als alle anderen schon geschlafen haben. Dann weißt du, wie es ist: Du hast ein wenig Angst, dass dir die Lebendigen den Tod zeigen, bewegungslos, mit langgewordenen Gesichtern im Bett, zugleich aber bist du glücklich - freilich nicht so, wie an Sommervormittagen, nach zwei Spritzern -, da du in etwas eingeweiht worden bist [...]
sagt Aladar zu seinem Vater, dessen Urne er in der Hand hält und im Sprung spielt er seine Einweihung in das kollektive Gedächtnis, in die kollektive Identität der Bischofs. Das Spiel will wohl eine Einweihung, die nicht stattgefunden hat, ersetzen, das von dem Großvater angeregte Gespräch zwischen Großvater und Enkel, zu dem der Großvater nicht mehr kommen konnte, da er am nämlichen Tage starb.
Das lebensgeschichtliche Gedächtnis, worüber dann die lebensgeschichtliche Erzählung reflektiert, wird im Zusammenspiel des episodischen und des semantischen Gedächtnisses konstruiert: das Episodische wird begrifflich geordnet und verarbeitet.
Das lebensgeschichtliche Gedächtnis wird dialogisch gestaltet. Die Bischof-Imagines sind die Miterzähler und die Zuhörerschaft von Aladars Lebensgeschichte. In der episodischen Identifikation mit ihnen, in der Abarbeitung der Täuschung der Identifikation im Gespräch mit ihnen, in der dialogischen Deutung der Verdrängungsmechanismen, die sich im Gespräch mit ihnen offenbaren, wird Aladars Ich konfiguriert: Sein erzähltes Selbst schöpft aus den und bewährt sich an den internalisierten Haltungen, Wertungen, Verhaltensdispositionen dieser Bezugspersonen.
Aladars Ich ist also ein Kontinuum dialogischer Beziehungen, pluralistisch und fragmentiert. Das soll an der steten Neubeladung und Neubewertung der Illusionssemantik, wie das später noch zu zeigen sein wird, einer der zentralen Kategorien der Bischof-Identität veranschaulicht werden.
Ich hasse die Sentimentalität, das leere Posieren, die großartige Heldenhaftigkeit! - Aladar geriet in Wut. [...]
Du hasst es?! - lachte der Großvater. - Du bist ja doch selbst nichts anderes, als ein kleiner sentimentaler Affe. Hat dich gerührt, was du gesehen hast? [...] Oder bist du einfach feige? [...] Siehst du nicht, dass jede Epoche sentimental ist?
Wieso bist du so klug? So verdammt klug? [...] Was bist du? Die Verkörperung der Bergpredigt? Was willst du mir vorführen, in einer Parabel versinnbildlicht? Maria ist gestorben. Am zweiten Tag nach der Geburt. Zeig mir das nicht, Großvater!Aladar sprang neben [Johann in den Schützengraben] [...]
"... rette meine Illusion [...], diese Kleider kannst du nicht mitnehmen, aber meine Illusion, nimm sie mit! Du weißt, was mein Vater im Bordell zu Frankenstadt gesagt hat, mit der Bibel in der Hand: Am Anfang schuf der Herr den Menschen und übergab ihn seinem eignen Wollen. Du kannst, wenn du gewillt bist, die Gebote halten, nur Treue braucht es, seinen Willen zu erfüllen. Feuer ist und Wasser vor dich hingeschüttet; was dir gefällt, danach streck deine Hände aus! Es liegen vor dem Menschen Tod und Leben; was ihm gefällt, wird ihm gegeben werden.(3) Verstehst du? - fragte Johann leise - es liegen vor dem Menschen Tod und Leben. Was ihm gefällt, wird ihm gegeben werden. ... Und was wird uns gegeben, Aladar, sag mir, was wird uns gegeben? Du antwortest nicht, du drückst nur diese schmutzige, stinkende Soldatenuniform an dich, drück mich an dich, Lieber, hören wir uns diese Melodie an, serbische Musik, serbische Volksmusik, süß [...]. Was uns gegeben wird, ist allein die Illusion!"
"Warum mussten wir hierhin kommen, warum?" - Aladar fing zu weinen an, er bemerkte die Kugel ganz nah in der Luft.
"Aber diese Station des Denkens haben wir schon hinter uns, lieber Aladar! [...] Dies ist nicht die Frage, Aladar! - Johann schüttelt den Kopf. Die Illusion, ob du sie retten kannst [...], nimm sie mit und bewahre sie und wenn dir das Wort, Illusion, nicht gefällt, wenn du in einer Zeit lebst, wo es die Leute anwidert [...], dann sag statt seiner: Spiel, Spiel, Spiel und es wird jemanden geben, der es versteht und dem du es mal ins Ohr flüstern kannst. [...] Die Frage ist nicht die, Aladar! Wo wir in der Welt zu Hause sind? Ich darf es sagen, ich sterbe: Wo die Illusion mit uns bleibt." [...]Ich bin ein Ungläubiger, bin ein Ungläubiger, ich kann mir Gott nicht vorstellen. [...] Johann ist gestorben, vergebens wird um ihn gebetet, Johann ist gestorben, ihm kann keine Ölung, kein Sakrament mehr helfen.
Weißt du, Großvater, was mich traurig macht? Dass mir seit je die Vernünftigkeit abgefragt wird. Ich musste mir immer schon solche Erklärungen anhören, wie ... warte mal ... ich hab's! Ich saß im zuckelnden Bus, der Weg aus der Stadt war lang, neben einer Bekannten. [...] Wissen Sie, Icuka, was hier im Leben fehlt?
Sie hat [...] an ein Viertaktauto gedacht, das in sechs Sekunden auf hundert Stundenkilometer beschleunigt, an eine Kleinküchenmaschine, an Raffinessen, mit denen die Kapitalisten sexuelle Lüste erwecken, an DDTfreie Kartoffeln, nur an das eine nicht.
Das Spiel, Icuka, das Spiel fehlt in unserem Leben, sagte ich. Der blaue Bus fuhr gerade an einem Spielplatz vorbei. Als ich das sah, lachte ich beinahe auf. Man wird mich noch zum Aussteigen auffordern und in den Buddelkasten treiben. [...] Hier hast du das Spiel [...]!Aladar und Großvater brachen beim Anblick des Christushangs [...] in Tränen aus: - "Wann kommst du nach Hause, kommst du jemals nach Hause?" [...] Aladar holte [...] ein Taschentuch hervor und trocknete die Tränen von István Bischof auf. - "Großvater, Großvater! [...] wenn du daran glauben kannst, können wir noch schöne Tage erleben. Bloß sollst du daran glauben, Großvater."
"Weißt du - Aladar klammerte sich an seinen Großvater an - ich habe gedacht, dass die neue Welt, ich habe gedacht, dass eine neue Welt ... Onkel Anton, Onkel Kaspar, Onkel Johann, Onkel Adam, Onkel Franz und Onkel Stefan, sagt doch was, ihr habt ja auch, ihr alle habt ja auch gedacht ...!" [...] Aladar schämte sich, wer weiß, zum wievielten Male. Er dachte daran, was ihm herausgerutscht ist. Für solche Sachen (neue Welt und so) wird man in seinem Alter(4) ausgelacht.
An verschiedenen Punkten des Kontinuums sind verschiedene Paradigmen (Gefühlsbindung - Illusion, Illusion - Geborgenheit, Illusion - Ideologie, Illusion - Lebensprinzip) gültig, was aber die Konsistenz nicht gefährdet.
Aladar werden nämlich in dem Dialog auch kognitive Schemata vermittelt, die die episodischen Informationen abfiltern und kontextualisieren bzw. verarbeiten, speichern, rekonstruieren, die also die Konsistenz absichern.
Als narratives Deutungsschema gibt die Großvater-Imago das Bischof-Lebensdrehbuch, das sich als 1. Fortsehnen als Ausbruchsversuch aus der sozialen, geschichtlichen (mithin emotionellen) Eingebundenheit, 2. Illusionsverlust, 3. bewusste Entscheidung für das unerreichbare Ideal als Katalysator des Lebens segmentieren lässt, Aladar an die Hand:
Ich beobachte dich schon seit langem, Aladar, seit langem. Ich habe gesehen, wie du Illusionen gesammelt hast. [...] Du bist wie ich beim Kastaniensammeln, wenn ich endlich in den Park darf: Ich stopfe meine Taschen mit den braunen Kugeln voll, meine Hand ist auch voll, aber ich sammle weiter, was zur Folge hat, dass die gesammelten braunen Kugeln entrollen. Ich greife nach ihnen, es entrollen neue. Es kostet immer mehr Anstrengung und ich gewinne nichts. Trotzdem höre ich nicht auf. Wenn du Gleichnisse verstehen kannst, wie es sich in deinem Alter schon gehört, kannst du es verstehen. [...] Na, hör zu! Ich sehe, du verstehst es nicht so leicht. Die Kastanien versinnbildlichen die Illusionen: Du sammelst sie, sie entrollen dir, aber du sammelst sie weiter. Warum? Die Illusion ist bloß ein Versüßungsmittel, wie der Sekt im Trubel der Bälle, wie der Schnaps oder der Wein, den du am Pult stehend hinuntergießt, den mein Freund einfach nur Weltschmerzstillmittel nennt. Aber eins darfst du nicht vergessen, mein Kind: Illusionen kannst du erst haben, nachdem du sie verloren hast.
Für unsere Zwecke reicht es aus, das Wirken des Drehbuches an Lebensgeschichten zweier Imagines zu veranschaulichen, an der des Tempelbauers und an der des Pfarramtgründers.
Stefan Bischof hofft sein Fortkommen, reichen Ackerboden, zehn Jahre Steuerfreiheit zu finden, als er, durch eine von Jammern laute, pestverseuchte Nacht in seiner Entscheidung endgültig bekräftigt, mit seiner schwangeren Frau auf der Donau bis zum von den Türken verödeten Ungarn hinunterrudert ("Komm, Maria, gehen wir hier weg [...] irgendwohin, wo man mindestens leben kann."). Bei der Geburt des ersten Kindes, das sie nun mit der neuen Heimat verbinden sollte, verliert er seine Frau, dann bis auf eins alle Kinder aus seiner zweiten Ehe und er muss die Flucht seiner Erstgeborenen aus dem Land, in dem ihre Mutter gestorben ist, erleben. Er hadert mit Gott, dann aber entdeckt er, dass er "ganz allein die Verfügungsgewalt über sein Leben hat" und dass er "keine Angst vor etwas mehr hat". Bei der Hochzeit seines einzigen am Leben gebliebenen Sohnes geht er, da ihm Gott geholfen habe, "die zahlreichen Schläge zu ertragen", die Verpflichtung ein, einen Tempel zu bauen, "so einen, den wir in Deutschland hinterlassen haben und in dem sich Gott mit uns verträgt".
Sein Urenkel, ebenfalls Stefan, regelmäßiger Besucher des Bordells und des Kasinos in Frankenstadt, entscheidet sich bei seiner Hochzeit, den Tempelbau, den eine Seuche unterbrochen hat, "zur Ehre Gottes" zu beenden. Nicht weil er seine Seele retten will. Er ist die Verkörperung der Weisheit des Buches der Weisheit(5), so sieht er schon am Tage seiner Hochzeit, wie er seinen Ältesten im Ersten Weltkrieg verlieren wird, wie seine Tochter nach dem Zweiten Weltkrieg "in den Hungertod" getrieben wird, er sieht die Desillusionierungen seiner Nachkommen im voraus. Er beendet den Tempelbau und lässt ein Pfarrhaus bauen. Am Tag vor dessen Einrückung nimmt er seinen Sohn ins Bordell mit. "Er hat sich so sehr weggesehnt, dass er daran beinahe wahnsinnig geworden ist". Vergebens sucht er aber den Trost des Ertragenkönnens im Sekt und in der Bibel, die er wie die Hand der Prostituierten küsst, die sie ihm ins Zimmer bringt - die Irrationalität des Krieges und des Kriegstodes vermag keine Irrationalität anderer Art aufzulösen: Als er früh morgens vor dem Bett seines Sohnes und der Prostituierten aus der Bibel über den freien Willen vorliest, fängt er an zu weinen: "Weder die Huren, noch die Bibel kann man an sich deuten" und er verspürt Wärme, "nein, keine Wärme, die das Herz erfüllt", sondern die Wärme der Kugel, die das Leben des Sohnes auslöschen wird, "wie der Körper eines Mädchens, der sich auf dem Bettlaken reibt, es wälzt sich und wimmert vor Lust, wenn man es nicht sieht, denkt man, vor Schmerz, aber es ist angespannte Lust, so wimmerte die Kugel, schmerzbringend, in der Luft." Nach dem Tode des Sohnes verspielt Stefan sein Hab und Gut. Viele Jahre später, als er eine größere Summe in seiner Tasche findet und da er nun viel zu alt ist, um dafür im Bordell Illusionen zu kaufen, kauft er ein Grammophon. Er lässt immer nur dasselbe Lied spielen, so dass auf der verbrauchten Platte nur so viel zu hören ist: "Leben muss man auch dann, wenn schon ... sssssssr, leben muss man auch dann, wenn schon ... ssssssr". Er stirbt beim Hören dieses Liedes, "ohne Zeit zu haben, das Grammophon auszuschalten".
Die identitätsbildenden Strategien der Bischof-Lebensdrehbücher sollen sich oft an äußeren, regulativen Identitätszuweisungen bewähren, die an starren Begriffssystemen ("Peter Richter hatte eine Schädelform, die das Arierwinkelmaß in Verzweiflung gebogen hätte, nicht aber den Geist des Potsdamer Abkommens, 'Zurück mit dir, Schwabe, nach Deutschland'.") basieren und eine absolute Gültigkeit beanspruchen.
Stefan Bischof setzt sich 1891 einer solchen Identitätsfestlegung eher instinktiv zur Wehr: "Was wollt ihr? - fragte Stefan. Ich bin Bauer und verstehe nichts von Klügelei, [...] was wollt ihr mir einreden? [...] Ich scheiße auf eure Fragebögen: Wer sind sie, welcher Nationalität, welcher Konfession? [...] Von mir bekommt ihr keine Antwort." Als daraufhin einer in der Kneipe mit ihm nicht anzustoßen gewillt ist: "Ein Ungar stößt seit Oktober 1849 mit Bier nicht an", überlegt er, ob er seinen Großvater holen sollte, dessen Füße in Görgeys Heer erfroren waren, schüttet dann aber, er, der sich "kein Zeichen umhängt, in dem lebendige Zeichen, in ihm und aus ihm lebende Zeichen leuchten", sein Bier traurig auf den Boden.
Johann Bischof protestiert vergebens gegen die Identität, die ihm wie die Uniform angezogen wird:
Ihm wird ein Blumenstrauß in die Hand gedrückt. "Und benimm dich tapfer gegen den Serben, tapfer, wie es eines Ungarn würdig ist!" [...] Dann stimmt Johann ein Lied an, das 301. des Volksgesangbuches: Meine teure Heimat, / die du Helden wiegst, / auch im Blut sind die Großen dein ... [...] Johann schreit: "Rettet mich, rettet mich, befreit mich von diesen Kleidern, ich will nach Hause [...]!"
Seine Illusionen vertraut er im Schützengraben Aladar an.
Ferdinand Bischof, Aladars Vater, opfert der Illusion, "die Prädestination der Ideologien auseinanderspannen können", das Leben.
Vater Ferdinand hob seine Arme in seitlicher Richtung, wie er das in den Turnstunden gelernt hat, von Türsäule bis Türsäule, in der Zimmertür des Universitätsprofessors, damit nahm er ungefähr die Gestalt Christi vor seinen umdrängenden Kommilitonen auf. [...] "Wollt ihr Professor Vitamine C zum Fenster hinauswerfen, weil er zufälligerweise ...?" [...] Zu der zweiten Hangübung vom Vater Ferdinand kam es 1949, zwischen den Türsäulen des Pfarrhauses [...] produzierte er seinen Christushang [...]: "Wollen Sie diesen Menschen verschleppen, nur weil er Pfarrer ist?" [...] Die Janitscharen schlugen Vater Ferdinand in der Tür zusammen, sie schrieen ihn an, "du Drecksschwabe, du nimmst den Pfarrer noch in Schutz!". [...] Bevor er in Ohnmacht fiel, tat [Vater Ferdinand] eine undenkbar großzügige Äußerung: "Du sollst daran glauben, Schatz, dass der Kampf einmal zu Ende ist!"
Das Bischof-Lebensdrehbuch erweist sich dabei als ein generatives: In ihm werden Lebensleistungen weitergegeben, die sich selbst bestätigen und dem Dasein Sinn verleihen. Aladar Bischof, der vor der Beerdigung mit einem Freund von seinem Fortsehnen spricht ("In der letzten Zeit bin ich unfähig zu glauben, weder an Christus, noch an etwas anderes. Und deshalb fühle ich mich nicht so wohl. Mir geht es freilich nicht schlecht. Aber manchmal wäre es gut, abzuspringen, wegzulaufen, [...] es wäre gut, wegzugehen, irgendwohin, wo ich doch hier bin. Wohin? In diesem Alter?"), der im Spiel mehrmals illusionslos, "mit kalter Seele, bewegungslos, wie kalte Asche dasteht", entscheidet sich für die Illusion.
Zu der Illusion bekennt er sich in dem Narrativ, in dem er seiner Frau seine neu gewonnene Identität anbietet, über das Wegschwemmen seiner Identitätsscheu kann er aber nur in erodierten narrativen Strukturen berichten:
Ich kann nicht mehr klassisch Geschichten erzählen, darauf wartest du vergebens, schön raffiniert aufgebaut, mit dramaturgischen Einfällen; nein, nicht einmal das hier kann ich zu einer Geschichte runden, und wenn du es noch so sehr möchtest, und wenn du auch nichts verstehst. Ich sehe dich und sehe, du erwartest, dass ich die Situation löse. So sagt man das, nicht wahr? Die Situation soll gelöst werden. Und wenn ich erzähle, was geschieht, was geschehen ist, daraus hoffst du alles zu verstehen, du hoffst, es öffnet sich auf einmal ... aber wo!, was würde sich öffnen? [...] Ich habe meinen Vater berührt, ich habe ihn in der Hand gehalten, vom Pfarrhaus bis zum Friedhofhügel ... ich habe ihn in meiner Hand getragen, in einer kupferroten, blanken Urne, und dann ... wurde er mir weggenommen, ich wurde aufgefordert, ihn abzustellen ... Was nachher passiert ist, daran erinnere ich mich nicht ... Fragst du, heute? Und? Wenn es heute passiert ist? Soll ich mich an alles erinnern, was heute passiert ist? Nein, ich sage nichts mehr. Ich höre deine Schuhe klopfen und das macht mich glücklich. Du weißt doch, ich bin ein romantisches Gemüt, schickt es sich oder nicht, ich bin ein Romantiker, ein verschossener Romantiker ...
Eine Erklärung für die Entscheidung wird in der Metaphorik des Wassers und in der Metaphorik des Barock gegeben, diese bewerkstelligen im Text eine interpretative Metaebene.
Dem Konstruieren des lebensgeschichtlichen Gedächtnisses sowie dem Rezipieren der lebensgeschichtlichen Erzählung wird die semantisch-syntaktische Folie des Wassers bzw. des Flusses unterlegt.
Das lebensgeschichtliche Gedächtnis trägt verschiedene, diffuse oder gar widersprüchliche Momente. Die heterogenen Elemente werden durch und in der lebensgeschichtlichen Erzählung integriert. Der Bezugspunkt, der die narrative Abbildung der fluiden Gedächtnisinhalte legitimiert, der der lebensgeschichtlichen Erzählung eine narrative Wahrheit und Kohärenz verleiht, ist ein situativer, der aktuelle Zustand des Ich. Die aktuelle Perspektive des Ich integriert das Verschiedene, Veränderliche, Unbeständige im Beständigen. So in der Illusionsargumentation der einen Bischof-Imago:
Ich beobachte die Farben. Schau mal zu, welche siehst du dort, auf der Wasseroberfläche? Blau, Grün, Grau? Du kannst es nicht benennen, nicht wahr? Und wenn schon? In der nächsten Minute verwandelt es sich, und du hast falsch ausgesagt. [...] Gibt es eine Beständigkeit? Oder verwirklicht sich die Farbe nur, durch das Licht, wenn du sie betrachtest, sonst ist sie das unvorstellbare Nichts? ... Wer weiß, freilich ist es auch nicht wichtig. Wichtig ist, dass sie sich verwirklicht, wenn du auf sie blickst. Dann soll sie in dir die Vorstellung der Ewigkeit, der Beständigkeit wecken. [...] ich werde Pfarrer. [...] Wir werden uns seltener sehen, erinnere dich daran, was ich dir gesagt habe: Nichts können wir enträtseln, nichts, nichts, aber mit unserem Glauben können wir die gegenwärtige Wirklichkeit entdecken.
Die Perspektive erschafft in der subjektiven Zeit der Identitätsbildung die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, wie in der folgenden Textstelle die Perspektive der Generativität:
Szörényi Levente riss seine spezielle zwölfsaitige Gitarre an. Keine Frage, die Stimmung muss angefacht werden: "Denk nicht, oh, nicht, dass die Welt dir gehört [...] ..."
Das Hauptmotiv zieht sich durch die ganze Symphonie durch; mal auf dünner Flöte, mal auf leiser Geige, es taucht aber auf, nur ein bisschen, es kommt auf die Welle, und bevor es sich entfalten könnte, taucht es wieder unter, aber niemand glaubt mehr, dass es für immer verschwinden kann. Jeder spürt es - woher sollten auch die Bauern [...] die Struktur der klassischen Symphonie kennen? Auch wenn es nicht zu hören ist, ist es da, wie auf der Donau, beim Gütertransport: Die Welle taucht unter in die Tiefe, sie bleibt trotzdem eine Welle, und auf einmal zerbricht die Strömung von unten die Trägheit der Wasseroberfläche [...] und sie bildet die Welt nach ihrer Lust um.
Das Hauptmotiv ist zurückgekehrt! Es kehrt zurück: Jedes Instrument bereitet sich mit zitternder Erregung vor, langer, beinahe verzogener Orgasmus, immer noch nicht der, das Publikum in abwartender Haltung, im August 1898, zwischen muhenden Ochsen, zwischen tiefblau gefärbten Pflaumenbäumen, im August 1969, unter den Lampen der Freilichtbühne ...
Na endlich, da ist er! [...] Höret, die neue Welt! - Levente winselt ins Mikrophon: "Ich brauche dich so sehr, dich, dich, dich, oh dich so sehr, glaub mir! ..."
Andererseits wandeln sich auch die Perspektiven. Zwischen ihnen, zwischen Konkordanz und Diskordanz, zwischen Idem- und Ipse-Identität vermittelt der Fluss im Lied, das Aladar kurz vor der Wiederbeerdigung seines Vaters in einer Gaststätte hört und das im Spiel mehrmals auftaucht: "Die Donau fließt ins Meer, / Tag und Nacht. / Welle lockt Welle, / keine wirst du wiedersehen. / Die Schwalbe kehrt im Frühling zurück / der Storch fliegt irgendwohin, / der aber nach Ungarn gegangen ist / kommt nie wieder zurück."
Und die folgende Textstelle interpretiert das Spiel als syntaktisches Konstrukt:
Das Hauptmotiv zieht sich durch die ganze Symphonie durch [...] Auch wenn es nicht zu hören ist, ist es da, wie auf der Donau, beim Gütertransport: Die Welle taucht unter in die Tiefe, sie bleibt trotzdem eine Welle, und auf einmal zerbricht die Strömung von unten die Trägheit der Wasseroberfläche [...] und sie bildet die Welt nach ihrer Lust um.
Wie oben erwähnt, bewerkstelligt auch die Metaphorik des Barock die interpretative Metaebene. Die folgende (sowohl in ihrer Thematik, als auch in ihrer Form barocke) Textstelle gibt eine Interpretation des Identifikations- und Erzählspiels ab:
Aus dem Gras wachsende, vornehme, aber leichte Marmorsäulen und Bögen [...]. Die größten Barockmeister haben die rigiden Säulen von der Schlange umschlingen lassen [...] mit der Umstrickung der Schlange haben sie die Materie zusammengehalten, der Schlangengang führt nach oben oder nach unten (ist es nicht egal?), die Richtung hat doch einen Weg, auch wenn der Mensch, der auf die Absolution hofft, zwei Wege sieht. Die Schlangenlinie, die zur Säule wird, ist der Weg der Verdammnis. Der Weg der im Menschen kriechenden Sünde, das Klopfen der Sandale der Mönche, die in Gottes Dasein wanken; die Popmusikfetzen aus der zweiten Hälfte der 60er Jahre, der 1960er Jahre, die Pubertätsträume von Aladar, das Zittern seines Mundes, an altmodisch getönten Abenden und an schläfrigen Morgen im Quadrum. Die Schlangensäule ist ein Zweifelsschrei, in die Seele Johanns, Anna Marias, Nikolaus', Georgs, Mathias', Kaspars, Katherinas, Adams, in Serbien verstorbenen Johanns, aller Bischofs, deren Namen genau, mit deutscher Präzision auf sieben weißen Blättern zusammengeschrieben worden sind in Sindelfingen, im privaten Forschungsinstitut zur Erforschung des Deutschtums außerhalb der ethnischen Grenzen, in die Seele aller Bischofs gesteckt, altes, aber hoffnungsfarbenes, blumenduftendes, nach Nessel brennendes Hoffnungs-Zupflinnen.
Wie im Barock wird im Spiel versucht, von einer Überreflexivität zu einer Naivität zurückzukehren, den Rationalismus durch Sensualismus zu erlösen. Die Rückkehr, das artifizielle, schlangenkluge barocke Spiel, in dem die Erfahrung zur Einbildung und die Einbildung zur Erfahrung wird ("das Sehen setzt die Einbildung voraus"), ist aber selbst nur Ersatz, Illusion, Stimulans, allerdings etwas Lebensnotwendiges. Andererseits erfordert die Komposition des Erzählspiels - wie vom Betrachter eines Barockkunstwerkes - Zusammenschau, Vergleichen diverser Perspektiven und Aufdecken ihrer integrativen Ordnung.
Dass Aladar das Pfarrhaus kauft, lässt sich folglich so deuten, dass er in diesem die integrative Ordnung der Bischof-Perspektiven findet. Während er das Haus, das auf und aus Bischof-Hoffnungen und Bischof-Zweifeln gebaut ist, begeht ("Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich hier. Früher habe ich mich kaum mit familiären Angelegenheiten beschäftigt. Auch die Schwaben haben mich nicht interessiert."), erbaut sich in ihm seine soziale Identität.
Die Risse, die Aladar an der Wand entdeckt, fügen sich ins Paradigma der Bruchlinien, entlang denen sich die Bischof-Identitäten gebildet haben:
"Risse an der Wand." - Aladar ließ seine Hand den Riss runterfahren [...]. Die Wandaderung und der Spiegel ...
"Das hat auch ein Statiker gesehen, es gefährdet die Sicherheit des Gebäudes nicht [...]."
Aladar dachte an etwas ganz anderes.
"Was haben sie gesagt, wann kommen sie zurück?" - fragte er. [...] "Wer?" - "Meine Verwandten." - [...] "Sie haben nicht gesagt, dass sie zurückkommen würden."
Die Wellen der Donau, die Stefan und Maria heruntergerudert sind, haben eine Zugehörigkeit endgültig zerbrochen ("der aber nach Ungarn gegangen ist / kommt nie wieder zurück" vs. "wann kommen sie zurück?"), die nicht einmal die Nachkommen wieder herstellen können, die freiwillig nach Deutschland zurückgekehrt sind ("Vali würde ihn am liebsten, mit Tränen in den Augen, anschreien: 'Ich bin keine Fremde! Ich bin zu euch zurückgekehrt, ich bin wie ihr!' - Aber sie schwieg, da sie eine Fremde war."). Dann hat sich der Spiegel gespalten, als Maria starb. "Mussten wir deshalb weggehen?", schaut Stefan Bischof in den Spiegel, der seine irdische, körperliche Identität widerspiegelt, "Er schaute in den Spiegel, sein Gesicht rutschte entlang dem Haarriss auseinander, der oben in der linken Ecke losging und das Glas gespalten hat. Er hat den Spiegel nie ersetzt, damit der Riss ewig zu sehen ist." Da "die Anderen, die unter dem Spiegel großgeworden sind, daran gewöhnt waren und ihnen nie eingefallen ist, das gespaltene Glas wegzuwerfen", hängt der Spiegel immer noch im Pfarrhaus. In der Seele des anderen Stefan Bischofs ist in der Nacht, in der er im Bordell eine Lebensbilanz aufstellt, "die Zeit zerbrochen". Dann hat sich der Liegestuhl gespalten, in dem Vater Ferdinand, vom Internierungslager todkrank zurückgekehrt, seine letzten Monate versaß. Und "wie das Kalkgerüst eines Schneckenhauses" spaltet sich Aladars Erzählgang, als er sich zu Wittgenstein bekennt ("Auch dir ist es sicher mal passiert, dass dir etwas passiert ist, ein Mädchen zum Vergessen z.B., und nachher konntest du darüber nicht sprechen. Du hast das Gefühl, wie umsichtig und vorsichtig du auch formulieren würdest, es bliebe doch eine Lüge. Hat Wittgenstein doch recht? Worüber man nicht sprechen kann, darüber soll man nicht sprechen...").
Die dynamische Statik, mit der dieses Haus also heterogene Zustände und Erfahrungen integriert, ist dieselbe, mit der das Gebäude Mensch das tut:
Schau, meine Hände. [...] Was siehst du? [...] Die Linien haben sich zu meinem dreiundfünfzigsten Lebensjahr angesammelt, zerknittert. Spielen? Welche was sagt, ist davon abhängig, wie sie sich biegt, mit welcher anderen sie sich berührt und daraus kann man das Leben erfinden?
Dieses Haus ist der Ort, "wo die Illusion mit [Aladar] bleibt". Es gehört zum Tempel, den die Ahnen "so groß und mächtig gebaut haben, dass es auch dann nicht erbebt, wenn der Glaube in den Menschen wankt", es sichert also Perspektive.
Zusammenfassend kann behauptet werden, dass es Aladar in dem seiner Frau angebotenen Narrativ gelingt, das Haus als Zukunftsperspektive zu artikulieren, die Artikulation des Hauses als Identitätsperspektive, die Artikulation seines nun differenzierteren und integrierten Selbstverständnisses bleibt aber rissig. Das Narrativ findet seitens der Frau, die doch bauverständig ist, wohl dank der und in der Perspektive der Generativität, trotzdem Unterstützung:
Das Pfarrhaus wird verkauft. [...] Ich kaufe es, auch wenn ich mich verschulde, kaufe ich es. Seine dicken Mauern halten noch hundert Jahre aus und wenn es das Kind einmal renovieren lässt, besteht es noch hundert Jahre ... dass ich kein Kind habe und gerade ich kein Kind haben will? [...] Und wenn ich jetzt doch wünsche, dass es eins gibt? [...] Ich habe die Urne in der Hand gehalten. Siehst du sie nicht? Sie ist doch da. Ich bedecke dein Gesicht, deinen Körper mit meiner Hand. Dass meine Hand gefurcht ist wie meine Stirn? Hast du Angst, dass die Linien auf deinen Körper umziehen? [...] Das ist das Haus, wir sind angekommen. Ich hoffe, dich überkommt keine Frigidität, wenn du ein Bauernzimmer erblickst! [...] Ich will mich nicht beherrschen! Ich höre deine Schuhe klopfen, ich halte meinen Vater in der Hand, ich lege meine Hand auf dich: es soll dich segnen! Um Gottes willen, lach mich nicht aus! Was sagst du? Ist dieses Haus ein schöner Volksbarockbau?
© Eszter Propszt (Szeged)
Inhalt / Table of Contents / Contenu: No.14
ANMERKUNGEN
(1) Der Roman, in ungarischer Sprache geschrieben (Elmer, István: Parasztbarokk. Budapest 1991), gehört zu denjenigen Werken, die die gängigen Zuordnungskategorien der ungarndeutschen Gegenwartsliteratur als überprüfungsbedürftig erscheinen lassen. Da das Werk in keiner deutschsprachigen Übersetzung vorliegt, werden die Textstellen, die unseren Ausführungen unterlegt werden sollen, in einer Rohübersetzung (und deshalb ohne bibliographische Angaben) präsentiert.
(2) Die Untersuchungen bauen auf das Ricoeursche Konzept der narrativen Identität auf: Ricoeur, Paul: L'identité narrative. In: Revues des Sciences Humaines 221 (1991), S. 35-47; Ricoeur, Paul: Le soi et l'identité narrative. In: Ders. Soi-même comme un autre. Paris 1990, S. 167-198; sowie auf Erkenntnisse der narrativen Psychologie, insbesondere auf: Gergen, Kenneth J. u. Gergen, Mary: Narrative and the Self as Relationship. In: Advances in Experimental Social Psychology. Hg. von Berkowitz, L. California 1988, S. 16-56.; MacAdams, Dan P.: Power, Intimacy and the Life Story. New York 1988; Berne, Eric: What Do You Say After Say Hello? New York 1972; Pataki, Ferenc: Élettörténet és identitás. Budapest 2001.
(3) Jesus Sirach 15, 14-17.
(4) Die ausgangssprachliche Mehrdeutigkeit, "in seinem Alter" und "in dieser Zeit", geht in der Übersetzung verloren.
(5) Aladar zitiert (Buch der Weisheit 8,8): "Wenn aber jemand auch reiches Wissen begehrt, sie weiß das Vergangene und erschließt das Zukünftige. Sie versteht sich auf sprichwörtliche Redewendungen und Auflösung von Rätseln; Zeichen und Wunder erkennt sie im voraus, und was die Verhältnisse und Zeitläufe bringen werden."
For quotation purposes - Zitierempfehlung:
Eszter Propszt (Szeged): Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen
als narrative Identität in István Elmers "Volksbarock".
In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften.
No. 14/2002. WWW: http://www.inst.at/trans/14Nr/propszt14.htm.