Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 14. Nr. | April 2003 |
Zur Frage der genre- und stilgebundenen Übersetzungsnormen
Valery Provotorov (Kursk, Russland)
Die Sprache ist kein sich selbstgenügendes Phänomen des menschlichen Daseins. Hinter der Sprache als unmittelbarer Wirklichkeit des Gedankens steht die unmittelbare Wirklichkeit der sozialen Praxis. Die Verwendung der Sprache hängt mit der Erfüllung konkreter menschlicher Bedürfnisse unter verschiedensten sozial-kommunikativen Bedingungen zusammen. Die Aufgabenstellung der Linguistik besteht darin, den Mechanismus der praktischen Verwendung der Sprache - u.a. im Bereich der übersetzerischen Tätigkeit - aufzudecken.
Die Untersuchung der praktischen Verwendung der Sprache gehört seit Jahren zu einem neuen Bereich des linguistischen Wissens und zwar zum Bereich der genre- und stilbezogenen Sprachforschung, die die Sprache als praktisches Mittel im System mannigfaltiger Formen der menschlichen Tätigkeit ansieht(1).
Als praktisches Mittel ist die Sprache nach dem Maßstab des Menschen geschaffen. Indem man die Sprache benutzt, eignet man sie sich einen Teil seines materiellen und geistigen Lebens an. Die vom Menschen geschaffenen Wortwerke sind daher keine "sterblichen Überreste", sondern ein reales Leben der menschlichen Subjektivität, ihr in der Sprache objektivierter Moment. Die Sprache, die dem Menschen dient, tritt im Wortwerk als eine neue "vermenschlichte Sprache" auf.
Der allgemein anerkannte Begriff der praktischen Seite der Sprache besteht darin, dass er einer Summe der durch die Sprache auszuführenden Funktionen gleich ist. Die Sprache als System hat demzufolge ihre direkte Zweckbestimmung, und zwar, den Gedankenablauf in Wort und Satz zu vermitteln. Jedes Sprachelement erfüllt dabei seine spezifische Funktion, in der sein Wesen in Erscheinung tritt. Diese Funktion ist durch das Sprachsystem geschlossen und ist als linguistische bzw. sprachinterne Funktion (vgl. Funktionen des Satzsubjektes bzw. Satzobjektes, wortbildende Funktion usw.) zu definieren.
Die Sprache hat aber auch die Funktionen, die die Sprache in ein anderes - übergeordnetes - System der gesellschaftlichen Verhältnisse hinausführen. Im System höherer Ordnung erfüllt die Sprache keine linguistischen Funktionen mehr. Als soziale Erscheinung übt sie metasystemhafte bzw. gesellschaftliche Funktionen aus, die dem kreativen menschlichen - ob einem gesellschaftlichen oder gruppenhaften oder individuellen, doch immer durch die Sprache realisierbaren Bewußtsein - innewohnen. Das übergeordnete System hat seine eigenen Formen, die sich in der Sprache eines Wortwerkes als seine Konstruktionselemente realisieren lassen.
Der Versuch, die Funktionen der Sprache nur auf die Vermittlung von Gedanken zu reduzieren, macht die menschliche Sprachpraxis "arm", schließt sie in den engen Rahmen der Gedankenverbalisierung ein. Die Sprache - wie oben erwähnt - ist ein Teil des sprachübergreifenden Systems (vgl. solche sozial-kommunikative Bereiche wie Wissenschaft, Kunst, Alltag u.a.) und soll auf diesem Wege in ein System des gesellschaftlichen Schaffens und der Handlung eingebunden werden.
Das Wortwerk als System der praktischen Sprache ist eine Botschaft des Einzel- bzw. Kollektivautoren an den Leser. In dieser Botschaft sind objektive, inhaltliche und subjektive, emotional-wertende Informationen enthalten. Beide Arten von Informationen fungieren im Wortwerk in der Form von Genre - und Stilsystemen, in denen die Botschaft über die soziale Zweckbestimmung des Wortwerkes sowie auch die Verfahren zur Realisierung dieser Zweckbestimmung gelegt ist. Das Wortwerk enthält somit nicht nur das, "worüber" etwas gesagt wird (denotative Funktion), sondern auch "was" gesagt wird (semantische Funktion der Zweckbestimmung) und "wozu" und "wie" etwas gesagt wird (pragmatische Funktion der subjektiven Einwirkung auf den Sprachempfänger). Die genannten Funktionen lassen sich im Wortwerk mit den
zusammenbringen.
Alle Funktionen wohnen dem Modus der Textkonstruktion inne: die genrehaften Funktionen zum einen, bilden das Gerüst des Wortwerkes als ein funktionales Objekt, die stilhaften Funktionen, zum anderen, geben dem funktionalen Objekt eine Form, indem sie das Wortwerk an die Bedingungen des jeweiligen sozial-kommunikativen Umfeldes bzw. des funktionalen Stils (des öffentlichen Verkehrs, der Publizistik und der Presse, der Wissenschaft und Technik, der Alltagsrede oder der Kunstrede) anpassen. Das Zusammenspiel der genre- und stilhaften Funktionen verwandelt das Wortwerk in ein funktionierendes Objekt. Beide Arten von Funktionen realisieren sich nur im Rahmen eines ganzheitlichen Wortwerkes und sind zugleich als Normen der praktischen Sprachverwendung und Sprachgestaltung im Wortwerk in ihrer Wirkung nach außen zu interpretieren.
Die Übersetzung ist eine sekundäre, reproduktive Tätigkeit. Daraus folgt, dass ihre Aufgabenstellung in der Entgegenständlichung von gesellschaftlichen Inhalten besteht, die im Wortwerk als Ergebnis der normativen genrestilistischen Textbildung vergegenständlicht sind.
Diese Zielsetzung sieht konzeptuell zwei grundlegende Phasen in der genre- und stilgebundenen Sprachausbildung von Übersetzern/Dolmetschern vor: eine technische (Arbeiten an der Sprache) und eine technologische (Arbeiten mit der Sprache).
Unter technischer Phase versteht man die Sprachbefähigung im traditionellen Sinn. Die Sprache erscheint hier in ihrer gegenständlichen und funktionalen Beschaffenheit, das heisst also, die Spracheinheiten werden als solche bzw. als Sprachmittel begriffen zum Zweck, einen linguistischen Hintergrund für das sinngemässe Arbeiten mit der Sprache zu schaffen. Hier gilt das empirische Prinzip "mach es nach".
Die technologische Ausbildungsphase bedeutet nichts anderes als sprachmittlerische Befähigung von Übersetzern und Dolmetschern. Diese Phase setzt die Aneignung von kommunikativen Regeln im Sprachgebrauch voraus. Der Schwerpunkt der technologischen Ausbildung bilden die Verfahren, mit deren Hilfe die Sprache in den Text als Gegenstand übersetzerischer Tätigkeit verarbeitet wird. Die sprachliche Kompetenz der Übersetzer und Dolmetscher wird dadurch vermittelt, dass sie sich die Sprache durch den Text als eine kommunikative, d.h. genrehaft und stilistisch gnormte Struktur aneignen lernen. Die praktische Arbeit mit der Sprache durch den Text zeichnet sich dadurch aus, dass der Übersetzer zum Wesen des Textes greift, indem er die textualen Normen der Sprachverwendung bestimmt. Die textualen Normen der Sprachverwendung verstehen sich zugleich als Übersetzungsnormen, und zwar als:
Eine große translatorische Schwierigkeit ist die, in das Textinnerste einzudringen. Im Unterschied zu den inhaltsbezogenen Translationsschwierigkeiten, die man mit Hilfe der einschlägigen Fachliteratur bewältigen kann, lassen sich die Übersetzungsnormen bzw. Normen der Sprachverwendung nur auf der Genre- und Stilebene eines konkreten Wortwerkes lösen.
© Valery Provotorov (Kursk, Russland)
Inhalt / Table of Contents / Contenu: No.14
ANMERKUNGEN
(1) Vgl. M. P. Brandes Stilistik der deutschen Sprache. - Moskau, 1990; V. I. Provotorov O^cerki po ^zanrovoj stilistike teksta (na materiale nemeckogo jazyka) (Abriss der genrebezogenen Textstilistik. Am Beispiel der deutschen Sprache). - Kursk, 2001, u.a.
(2) M. P. Brandes, V. I. Provotorov. Predperevod^ceskij analiz teksta (Übersetzungsvorbereitende Textanalyse). - Moskau, 2001.
For quotation purposes - Zitierempfehlung:
Valery Provotorov (Kursk, Russland): Sprache im sozial-kommunikativen
Umfeld. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften.
No. 14/2002.
WWW: http://www.inst.at/trans/14Nr/provotorov14.htm.