Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 14. Nr. Dezember 2002

Lissabon als Ineinander verschiedener Zeiten

Sabine Scholl (Berlin)

 

Dass Universitäten neu und gut ausgestattet sein konnten, hatte ich nach meiner Studienzeit in altehrwürdigen Wiener Gebäuden erstmals in Portugal erfahren. Doch es gab dort kein Entweder-Oder. Denn während ich abends meine Studenten in deutscher Grammatik unterrichtete, waren draussen vor dem Fenster Pferde, offenes Feuer, Stimmengemurmel zu bemerken; eine Roma-Familie, die sich auf den grosszügigen Grünflächen des Campus niedergelassen hatte, wie seit jeher.

In meiner portugiesischen Erfahrung handelte es sich aber vor allem um ein anderes VERHÄLTNIS zur Zeit, das zu erlernen war, man brauchte paciençia, Geduld, ohne die man in Portugal nichts erreichte. Und warten und hoffen verbanden sich im Portugiesischen zu einem Wort: "esperar".

Dieses Wartenhoffen ist eine nicht erst in der Abgeschlossenheit während der Salazar-Diktatur erworbene Tugend, sondern gründet, wie auch die berüchtigte saudade in der portugiesischen Geschichte als Seefahrernation, wo der Ausgang monate-, ja jahrelanger Reisen und Aufenthalte in den Übersee-Kolonien so ungewiss war wie eine Rückkehr. Und während die saudade das in der Vergangenheit Gebliebene beklagte, so wurden in den durch die Diktatur entstandenen Zeitfalten verlorengeglaubte Prozesse und ideologische Vorstellungen nahezu unversehrt aufbewahrt.

Zum Beispiel, befindet sich das Lissaboner Appartment mit Blick auf den Containerhafen der Tejomündung, welches ich immer wieder bewohne, in einem 14stöckigen Haus, das auf den noch sichtbaren Grundmauern einer ehemaligen Festung errichtet wurde. Mitten in einer heruntergekommenen Fischer- und Hafenarbeitersiedlung der 40er Jahre, galt es bei seinem Bau Ende der 80er als Luxuskategorie. Inzwischen sind die Fenster und Eingänge der für einen Supermarkt vorgesehenen Räumlichkeiten zugemauert. Der im Zuge der Weltausstellung 1998 geplante Ausbau der Infrastruktur hat immer noch nicht stattgefunden. Das das Haus umgebende, brachliegende Grundstück wird von einem Gärtner als Gemüsegarten genutzt, Kohl und Kartoffeln sind ein wichtiges Zubrot. Er wohnt in einem fensterlosen Verschlag, den er mit ein paar Brettern an die Mauer der alten Festung gebaut hat. Im Winter, wenn es kälter wird, entzündet er davor in einer Blechtonne ein Feuer mit Holzresten, die er auf dem Grundstück findet, das für die Umgebung als Abladeplatz für Müll und Bauschutt dient.

Dieses Nebeneinander von verschiedenen Lebensformen und Zeitstufen ist typisch für Lissabon, typisch für Portugal. Hier wurde mit dem Alten nie restlos aufgeräumt, und es scheint das Projekt des Neuen nicht zu stören, dass es unabgeschlossen ist und bleibt. Hauptsache einen Schritt in die Zukunft, wenn man mit dem anderen Fuß auch noch in der Vergangenheit feststeckt.

Und die historische Substanz ist es, die den Reiz Lissabons auf den ersten Blick ausmacht. Man braucht nicht einmal die engen Altstadt-Gäßchen zur Alfama mit ihren winzigen Durchgängen, begrünten Plätzen, Gärtchen und gekachelten Aussichtspunkten hinaufzusteigen. Es lohnt sich, auch die weniger berühmten Stadtteile rund ums Zentrum, Lapa oder Estrela zu durchstreifen.

Doch im Bereich der großen, belebten Plätze, des Restauradores und Rossio, sowie auf der Geschäftsstraße des Chiado hat sich in den letzten Jahren sichtbar einiges verändert. Fast zehn Jahre nach dem Feuer 1988 war die Rekonstruktion des Chiado so gut wie abgeschlossen und hinter renovierten Fassaden eine andere Zeit eingezogen. Das Kaufhaus, von dem damals der Brand ausging, bietet nun der französischen Kette Printemps Raum. Andere Lokale sind vor allem von Boutiquen und CD-Läden belegt. Der schrullige Optiker mit seiner Brillensammlung von Modellen aus den 40er bis 70er Jahren genau der Zeitraum des Estado Novo - musste, wie so viele andere traditionelle Läden schliessen. Das Besondere und Eigenartige wurde an den Rand gedrängt. Dafür aber findet sich der fremde Besucher am Chiado besser zurecht, fühlt sich vertrauter.

Die Renovierung des Wahrzeichens Castelo São Jorge und des Chiado waren Aufgaben, die das Alte mitzudenken erforderten, während die Umbauten zur Weltausstellung 1998 Lissabon die Chance boten, einen Minderwertigkeitskomplex mit großzügigen Plänen zu überwinden. Am Gelände der EXPO, wo früher Schiffe verrotteten, Eisen und chemische Abfälle gelagert wurden, wo Hunde herumstreunten und sich die Ärmsten der Armen angesiedelt hatten, konnte man von Grund auf beginnen, sich für das 21. Jahrhundert neu zu erfinden.

Das Leiden am Verlust des einstigen Großreiches, die künstliche Abgeschlossenheit unter einer vierzigjährigen Diktatur, abgeschüttelt durch die Nelkenrevolution von 1974, sollte nun nicht mehr richtungsweisend sein. Schon mit dem Eintritt in die europäische Gemeinschaft hatte man begonnen, sich wieder in Richtung Osten und nicht mehr nur, wie Jahrhunderte vorher an Übersee, was einerseits Kolonien hieß und andererseits das Vage, Unbestimmte des Meeres selbst, zu orientieren. Mit der Seefahrt wurde schließlich die Macht des vergangenen, portugiesischen Weltreiches begründet. Und noch die Ideologie der Diktatur beruhte auf dem Bewußtsein kolonialer Präsenz in Übersee. Damalige Schullandkarten übertrugen schemenhaft die Umrisse der afrikanischen Kolonien auf eine Europakarte, um so die wahre Grösse des kleinen Portugals deutlich zu machen. Und dieses Denken wirkt nach bis heute.

Entdeckungs- und Eroberungsgeschichte wurde daher auch in der Promotion der Weltausstellung 1998 als selbstlose und unschuldige Herrlichkeit dargestellt. Portugiesen wären nicht rassistische Töter und Ausbeuter gewesen, sondern einfühlsame Händler und spirituelle Vermittler, die durch Geschlechtsverkehr mit einheimischen Frauen den Mischling erschufen, eine der wichtigsten portugiesischen Erfindungen, wie es scherzhaft heißt.

Denn um nicht mit leeren Händen in der Zukunft dazustehen, wird Geschichte oft als Versatzstück gebraucht. So auch im Einkaufszentrum gegenüber dem Stadium des Fußballclubs Benfica, das nach Colombo, Kolumbus, dem Entdecker des amerikanischen Kontinents benannt ist. Einzelheiten erinnern drinnen noch daran, in welchem Land man sich befindet: Die Pflasterwege des als Rundbau angelegten Einkaufspalastes, ein Riesenplastikschiff auf einem Platz, von dem die Rolltreppen in verschiedene Richtungen ausstrahlen. Steinsäulenpodeste, verziert mit Nachbildungen von Navigationsgeräten, die auf die glorreiche Zeit der Seefahrt verweisen. Ein junger, modisch gekleideter Mann muß seinen Vater in gemustertem Handstrick-Pullover, dunkler Hose, portugiesischer Karokappe, der ängstlich vor der Rolltreppe stehengeblieben ist, hinaufbegleiten und danach seiner Mutter, in dunklem Umhängetuch und Holzschlapfen helfen. Der Fortschritt geht ihnen zu schnell.

Von außen repräsentiert das bunkerähnliche Zentrum nur die Logos der verschiedenen europäischen und amerikanischen Prestigemarken. Colombo muß nicht mehr durch postmoderne Verzauberungsästhetik um Käufer werben, wie noch in den 80er Jahren das rosarote Märchenschloss des Einkaufszentrums Amoreiras, in das die Armen nur zum Staunen kamen und schliesslich von Wächtern abgewiesen wurden. Dessen Pastellfarben und Spielereien mit Säulen und Glas finden sich inzwischen kopiert und ins Unendliche vermehrt in den neu entstandenen Wohnsiedlungen an den Stadträndern Lissabons.

Colombo wäre der "Anschluß" Portugals an die Zukunft, gäbe es da nicht die Tiefgarage, deren Organisation undurchschaubar labyrinthisch eine Komponente der portugiesischen Bewegungs- und Denkungsart durchscheinen läßt. Die Liebe zum Ornament strukturiert hier unbewusst noch einmal die Ordnung der Menschen und Autos.

Und als ich bei der Rückfahrt zum Appartment den inneren Umfahrungsring nehmen will, stosse ich bald auf die Hinweistafel DESVIO. Die Umleitung führt auf einer schnell enger werdenden Strasse fort vom 21. Jahrhundert und immer weiter in die Zeit zurück. Als sie an einer Kreuzung zu enden droht, entdecke ich an eine Hausecke genagelt ein handgeschriebenes Pappschild: Marginal. Über den Umweg einer engen mittelalterlichen Gasse, durch die ein Auto sich gerade zwängen kann, lande ich schließlich in der Jahrhundertwende vor einem Bahnübergang, an dem es heftig bimmelt, eine Bahnwärterin in Schürze und Kopftuch mit ihrem Signalstock die Durchfahrt verwehrt. Warten, bis auch noch ein nächster Zug passiert. Schließlich kurbelt die Frau die Schranke händisch hoch.

Es sind diese Zeitreisen und Zeitsprünge, die Lissabon so aufregend und abenteuerlich machen. Dieses Nebeneinander erinnert oft an amerikanische Science-Fiction, in der Städte nur mehr als Puzzle auch einander widersprechender Gestaltungs- und Lebensabsichten, und das in unendlicher Ausdehnung, möglich sind. Und Science-Fiction ist immer nur eine Übertreibung der Gegenwart. Weil der Fortschritt so schnell vorangeht, entstehen Verlangsamungen nebenher ganz selbstverständlich. Weil der Weg in die Zukunft von den Resten aus der Vergangenheit gesäumt wird, beginnt er immer wieder mal von vorne. Das Nebeneinander von Kohlpflanzungen und Bankomaten, von Eselskarren und Handys, von Brieftauben und elektronischen Alarmanlagen, von Hirten und Brokern, aber auch von sehr Armen und sehr Reichen ist ein Kennzeichen von sich rasant entwickelnden Grosstädten überhaupt. In diesem Sinne eines Scheiterns von allumfassenden Entwürfen ist Lissabon tatsächlich eine Stadt der Zukunft.

© Sabine Scholl (Berlin)

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For quotation purposes - Zitierempfehlung:
Sabine Scholl (Berlin): Lissabon als Ineinander verschiedener Zeiten. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 14/2002.
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