Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 14. Nr. April 2003

Sozialverträgliche Wissenschaftskulturen. Zum Beispiel Wissenschaftsläden(1)

Michael Strähle (Wien)

 

"Science Explores: Technology Executes: Man Conforms."(2): Dieser Spruch - er stand über einem der Portale zur Chicagoer Weltausstellung von 1933 - erscheint uns heute weniger als Verheißung, denn als Drohung. Denn wie die Debatten um die Risiken neuer Technologien zeigen, erfahren wir uns zunehmend nicht nur als NutznießerInnen von Wissenschaft und Technik, sondern auch als von ihnen Bedrohte. So wird der Ruf nach der Sozialverträglichkeit von Wissenschaften und Technik immer lauter.

Geantwortet wurde und wird darauf zumeist mit Maßnahmen zur Bewußtseinsbildung wie beispielsweise Werbekampagnen, die ein positives Image von Wissenschaften und Technik befördern sollten. Die Frage nach etwaig notwendigen strukturellen und organisatorischen Änderungen des Wissenschaftssystem wird jedoch in diesem Zusammenhang kaum gestellt, einzig, wenn es um die wirtschaftliche Verwertung von wissenschaftlichem und technischem Wissen geht. Die Antwort darauf wird unter anderem in der Bildung von Schnittstellen zwischen dem Forschungsbereich und dem Wirtschaftsbereich gesehen. Unter diesen wirtschaftsorientierten Schnittstellen stechen die Wissenschaftsläden als die einzigen gemeinwohlorientierten heraus.

Wissenschaftsläden stellen die Frage, an wen die Wissenschaften sich richten, neu und beantworten so die Frage nach notwendigen strukturellen und organisatorischen Änderungen des Wissenschaftssystems aus einer gemeinwohlorientierten Perspektive. Indem sie Forschungsanliegen von Bürgerinitiativen und anderen finanzschwachen gemeinnützigen Organisationen sowie partizipative Forschungsansätze in den Forschungsbereich einbringen, tragen sie zu sozialverträglicheren Wissenschaftskulturen bei.

Wissenschaftsläden sind Forschungs- und Beratungseinrichtungen im Dienste gemeinnütziger Organisationen wie beispielsweise BürgerInneninitiativen, Kulturvereine und Selbsthilfegruppen, mitunter arbeiten sie auch für einzelne BürgerInnen, Handwerksbetriebe und Behörden. 1974, als der erste Wissenschaftsladen an der Universität Utrecht (Niederlande) gegründet wurde, dachte wohl noch kaum jemand daran, daß eines Tages diese Idee ein internationales Echo finden würde. In Begegnung mit ähnlichen Initiativen und an lokale Bedingungen angepaßt, entwickelte sich aus dem ursprünglichen Modell eine erstaunliche Vielfalt an Organisationsstrukturen, Arbeitsweisen und disziplinären Ausrichtungen. (Für eine Übersicht siehe untenstehende Tabelle in Anlehnung an das Schema von Henk Mulder.(3))

Universitäre Wissenschaftsläden Außeruniversitäre Wissenschaftsläden Verwandte Initiativen
Für eine Universität zuständig Für eine Fakultät oder ein Institut zuständig Community-based research centres Zusammenarbeit mit Universitäten Keine Zusammenarbeit mit Universitäten universitätsbezogen Nicht universitätsbezogen
Austria, Dänemark, Deutschland, Großbritannien, Kanada, Niederlande, Norwegen, Spanien, Südkorea, USA Dänemark, Großbritannien, Kanada, Niederlande, Rumänien Dänemark, USA Deutschland, Großbritannien, Österreich, USA Deutschland, Österreich, USA Kanada (Community-University Research Alliance (CURA)) Israel
Forschungsvermittlung Durchführung und Vermittlung von Forschung Aktionsforschung Durchführung und Vermittlung von Forschung, tw. Partizipative Forschungsansätze Durchführung von Forschung, tw. Partizipative Forschungsansätze Aktionsforschung Incubating not-for-profit research alliances
Agrar-, Kultur-, Natur-, Rechts- und Sozialwissenschaften, Technik Kultur-, Natur-, Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften Kultur-, Natur- und Sozialwissenschaften Kultur-, Natur-, Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Technik Kultur-, Natur- und Sozialwissenschaften Kultur- und Sozialwissenschaften Agrar-, natur- und Soziallwissenschaften

Die meisten Wissenschaftsläden sind an Universitäten ansässig und konzentrieren sich zumeist darauf, StudentInnen zu vermitteln, die im Rahmen von Projekt- oder Diplomarbeiten den Fragen gemeinnütziger Organisationen nachgehen. Mitunter werden diese Forschungen auch von MitarbeiterInnen dieser Art von Wissenschaftsläden durchgeführt. Wenn sie Universitäten verbunden sind, beispielsweise durch Verträge, werden StudentInnen auch von außeruniversitären Wissenschaftsläden vermittelt, im Regelfall jedoch führen sie die Forschungen selbst durch. Einen Sonderfall stellen die sogenannten Community-based research centres dar, die, gleich, ob an Universitäten angesiedelt oder nicht, prinzipiell selbst forschen und dabei partizipative Forschungsansätze verfolgen. Finanzschwache Organisationen zahlen in den allermeisten Fällen für Forschung und Vermittlung entweder nichts oder Unkostenbeiträge; das gilt für alle Wissenschaftsläden.

Faktisch decken Wissenschaftsläden alle Disziplinen ab. Ob diese Forschungen, von Wissenschaftsläden vermittelt oder selbst durchgeführt, mehrheitlich mono- oder interdisziplinärer Natur sind, großteils einzeln oder im Team durchgeführt werden und welche Unterschiede es hier zwischen universitären und außeruniversitären Wissenschaftsläden und einzelnen Ländern gibt, wurde bislang nicht eingehend untersucht. Doch läßt sich erkennen, daß partizipative Forschungsansätze vor allem in kultur- und sozialwissenschaftlichen Projekten in Kanada und den USA verfolgt werden und, so zeigt zumindest die Erfahrung in Österreich, größere interdisziplinäre Projekte leichter von außeruniversitären Wissenschaftsläden durchgeführt werden können(4). Erfreulicherweise zeigen Untersuchungen, daß die Projekte universitärer Wissenschaftsläden die Wissenschaften durch ihren Einfluß auf Forschungsprogramme und Studienpläne sozial verträglicher machen.(5)

In der jüngeren Vergangenheit entstanden wissenschaftsladennahe Initiativen. Im Rahmen der Community-University Research Alliance (CURA) unterstützt das kanadische Wissenschaftsministerium wissenschaftsladenähnliche Einrichtungen und gemeinwesenorientierte, handlungsorientierte Forschungsprojekte, die, so wie bei den Projekten von Wissenschaftsläden, gemeinsam mit BürgerInneninitiativen und ähnlichen Gruppen als gleichberechtigte LokalexpertInnen durchgeführt werden. Das Jerusalemer Haim Zippori Zentrum wiederum agiert als Incubator für solche gemeinwesenorientierten Projekte, die von anderen Organisationen übernommen und fortgeführt werden.

Über alle Unterschiede hinweg, ist das Ziel das gleiche: Wissenschaft und Forschung im Dienste praktischer, gemeinnützige Anliegen unkompliziert zu ermöglichen.

Ein Beispiel aus Wien: Ein Verein, der Selbstverteidigungskurse für Mädchen anbietet, wollte unter anderem mehr darüber wissen, welche Erwartungen die Teilnehmerinnen haben, wie wirksam die Kurse sind und welche bewährten Kurse es gibt. Eine Studentin schrieb darüber ihre Diplomarbeit. Der Stadtschulrat war von den Ergebnissen beeindruckt und beschloß, die Subventionen für den Verein zu erhöhen.

Wiederholt haben Anfragen an Wissenschaftsläden Frühwarnsignale für zukünftige öffentliche Debatten und Besorgnisse geliefert. So wurden Wissenschaftsläden bereits 1994, 1995 um Informationen über die Gesundheitsgefährdung durch die elektromagnetische Strahlung von Mobiltelefonen gebeten.

Wie viele Wissenschaftsläden es gibt, läßt sich nicht genau beziffern. Ein vollständiges Verzeichnis aller Wissenschaftsläden ist noch ausständig, derzeit gibt es bloß nationale Listen und unvollständige Linklisten. Vorläufige Schätzungen sprechen von ca. 70 Wissenschaftsläden weltweit, die meisten davon in den Niederlanden (ca. 35). Weiters existieren Wissenschaftsläden in Dänemark, Deutschland, Großbritannien, Kanada, Österreich, Rumänien, Spanien, Südkorea und den USA. Initiativen zur Errichtung gibt es in Belgien, Israel, Kolumbien, Luxemburg und Südafrika. Wenn wir allerdings die Diversität der Wissenschaftsläden und den nach wie vor geringen Bekanntheits- und Vernetzungsgrad der Wissenschaftsläden in Betracht ziehen, könnte die tatsächliche Zahl höher sein. Immer wieder melden sich bei Wissenschaftsläden Organisationen, die von der Idee erfahren haben und auf Grund ihrer Ziele, Zielgruppen und Arbeitsweisen als Wissenschaftsläden gelten können. So wurde der Verfasser von einer solchen aus Spanien kontaktiert. Bis dato war kein Wissenschaftsladen in Spanien bekannt.

Obwohl ein internationales Phänomen, gab es bis vor kurzem kaum internationale Kontakte unter den Wissenschaftsläden. Kontakte waren entweder sporadisch oder auf Kontakte mit Wissenschaftsläden des eigenen Sprachgebietes beschränkt. VertreterInnen der österreichischen und deutschen Wissenschaftsläden besuchten vergleichsweise alteingesessene niederländische und dänische Wissenschaftsläden, wenn überhaupt, oftmals vermutlich nur in der Startphase, um mehr über Wissenschaftsläden und deren Arbeit zu erfahren. Netzwerke, wie beispielsweise die deutsche Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftsläden (AWILA), mit der auch österreichische Wissenschaftsläden Kontakt halten, oder der niederländische Verbund der Wissenschaftsläden, blieben auf einzelne Sprachgebiete beschränkt. Ob diese Netzwerke in allen Fällen zu gezieltem Erfahrungsaustausch und beständigen Kooperationen führten, harrt der Untersuchung. Vor einigen Jahren begannen Wissenschaftsläden sich miteinander international zu vernetzen. Diese Entwicklung ist zum einen auf die breite Durchsetzung von Internettechnologien und die geringeren Kosten für Telekommunikation, zum anderen, wesentlicheren Teil, auf die Unterstützung durch die Europäische Kommission zurückzuführen.

Bislang förderte die Europäische Kommission drei Projekte:

Im Projekt Study and Conference on Improving Public Access to Science through science shops (SCIPAS) (2000-2001) beschäftigten sich Wissenschaftsläden und andere Organisationen aus Dänemark, Deutschland, Israel, den Niederlanden, Österreich, Rumänien, Südafrika und den USA mit den Organisationsformen und Arbeitsweisen von Wissenschaftsläden, ihren Erfolgsbedingungen, Ausbildungsprogrammen für MitarbeiterInnen, den Auswirkungen von Wissenschaftsläden auf Studienpläne und Forschung, erstellten eine Art Datenbank für Projekte von Wissenschaftsläden und eine Machbarkeitsstudie für eine internationale Zeitschrift der Wissenschaftsläden und entwarfen ein Konzept für ein zukünftiges Internationales Netzwerk der Wissenschaftsläden. Die Ergebnis wurden Anfang 2001 auf einer Konferenz in Leuven/Louvain (Belgien) präsentiert.

Im Projekt Improving Interaction between NGOs, Universities and Science Shops (INTERACTS)(6) (2002-2003), einem Nachfolgeprojekt zu SCIPAS untersuchen Wissenschaftsläden und verwandte Organisationen aus Dänemark, Deutschland, Großbritannien, Österreich, Rumänien und Spanien in der ersten ländervergleichenden Studie, durch welche Maßnahmen auf Seiten der Politik, der Universitäten und der Wissenschaftsläden die Zusammenarbeit zwischen gemeinnützigen Organisationen, Universitäten und Wissenschaftsläden verbessert werden könnte. Die Ergebnisse werden Ende 2003 auf Konferenzen präsentiert.

Gemeinsam mit den beiden vorhin genannten Projekten soll das Thematische Netzwerk Improving Science Shop Networking (ISSNET) (2003-2005)(7) das zukünftige internationale Netzwerk der Wissenschaftsläden, Living Knowledge, vorbereiten, indem dreizehn Organisationen aus neun Ländern die notwendige Struktur für zukünftige enge transnationale Kooperationen von Wissenschaftsläden, den Austausch von Informationen und die Erhöhung des Bekanntheitsgrades der Arbeit von Wissenschaftsläden entwickeln.

Damit nicht genug: Die Europäische Kommission stellt die Wissenschaftsläden auf ihrer Website vor(8) und widmet ihnen im 2002 veröffentlichten Aktionsplan Wissenschaft und Gesellschaft eine eigene Aktion: "Die Vernetzung der Wissenschaftsläden in den Regionen der Union und in den Kandidatenländern wird insbesondere durch eine fortlaufende Bestandsaufnahme und durch die Schaffung einer Einrichtung zur Verbreitung der im Auftrag der Bürger und Vereinigungen durchgeführten Arbeiten (z. B. Datenbank) sowie durch die Entwicklung von Werbemitteln gefördert werden."(9)

Wie eine 2002 durchgeführte Untersuchung zeigt, hält die Förderung der Wissenschaftsläden auf nationaler und regionaler Ebene damit vorläufig nicht Schritt.(10) Laut Rob Hagendijk werden die Wissenschaftsläden auch in ihrem Stammland, den Niederlanden, nur toleriert. Von Budgetkürzungen an den Universitäten sind sie als erste betroffen. Das entstehende internationale Netzwerk der Wissenschaftsläden könnte dieser Entwicklung entgegenarbeiten. Nicht zuletzt durch die Internationalisierung und die zunehmende Vernetzung der Wissenschaftsläden entstanden in Belgien, Luxemburg und Südafrika neue Initiativen zur Gründung von Wissenschaftsläden. Die südkoreanische Initiative war bereits erfolgreich: Kürzlich hat die südkoreanische Regierung finanzielle Mittel für die Errichtung mehrerer Wissenschaftsläden bereit gestellt.(11) - Das Bewußtsein für sozialverträgliche Wissenschaftskulturen wächst. Möglicherweise steht den Wissenschaftsläden ihre Blütezeit noch bevor.

© Michael Strähle (Wien)

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ANMERKUNGEN

(1) Für wertvolle Anregungen danke ich Gerhard Fröhlich (Universität Linz).

(2) Zitiert nach: L. Lessig, Code and Other Laws of Cyberspace, New York 1999, 92.

(3) Siehe H. Mulder, Th. Auf der Heyde, R. Goffer, C. Teodosiu, Success and Failure in Starting Science Shops, Utrecht 2001. Der Bericht ist als PDF-Datei unter http://www.bio.uu.nl/living-knowledge/ verfügbar.

(4) Ch. Urban/R. Reimer, National Case Studies Report Vienna, Wien 2003. Der Bericht ist als PDF-Datei unter http://members.chello.at/wilawien/interacts/reports.html verfügbar.

(5) Siehe u. a. R. Zaal, L. Leydesdorff, The Amsterdam Science Shop and Its Influence on University Research: The Effects of Ten Years of Dealing with Non-Academic Questions, in: Science and Public Policy 14, 6 (1987), 310-316; M. Hende, M. S. Joergensen, The Impact of Science Shops on University Curricula and Research, Utrecht 2001 (Der Bericht ist als PDF-Datei unter http://www.bio.uu.nl/living-knowledge/ verfügbar.); M. S. Joergensen, M. Straehle, The Impact of Science Shops on Curricula and Research, in: Proceedings of the 4th Triple Helix Conference: Breaking Boundaries - Building Bridges, 6 - 9 November 2002, Copenhagen & Lund, Kopenhagen 2003 (CD-ROM).

(6) Für weitere Informationen siehe http://members.chello.at/wilawien/interacts/main.html

(7) Siehe http://www.bio.uu.nl/living-knowledge/

(8) Siehe http://europe.eu.int/

(9) Europäische Kommission, Aktionsplan Wissenschaft und Gesellschaft, Brüssel 2002, 16. Der Aktionsplan ist als PDF-Datei unter http://www.cordis.lu/rtd2002/science-society/home.html verfügbar.

(10) Für nähere Informationen siehe C. Fischer, A. Wallentin (Hg.), INTERACTS State-of-the-Art Report, Berlin 2002. Der Bericht ist als PDF-Datei unter http://members.chello.at/wilawien/interacts/reports.html verfügbar.

(11) Persönliche Mitteilung von Hirakawa Hideyuki (Frauenuniversität Kyoto).


For quotation purposes - Zitierempfehlung:
Michael Strähle (Wien): Sozialverträgliche Wissenschaftskulturen. Zum Beispiel Wissenschaftsläden. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 14/2002.
WWW: http://www.inst.at/trans/14Nr/straehle14.htm.


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