Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 14. Nr. | Dezember 2002 |
Walter
Weyers (Memmingen)
[BIO]
Man kann allerlei Überlegungen knüpfen an die Reziprozität von Theater und Stadt. Vor allem: Wieviel Fremdheit ist dem Publikum in dieser oder jener Stadt jeweils unter den spezifischen, ökonomischen und sozialen Bedingungen zuzumuten. Und: Auf welche Bedingungen reagiert das Theater, um sein Anliegen zu konkretisieren.
Immer aber ist das Theater eine Insel. Die fundamentale Differenz
ist die zwischen Publikum und Theater. In dieser Hinsicht schafft
jedwede Stadt dem Theater keine Voraus-setzung. Im Gegenteil:
In ihrem Voraus sind alle Theater gleich.
Unabhängige, außerhalb.
Nur so legitimiert sich Theater.
Als Heimstatt der Fremde.
Theaterschaffende und Publikum leben im selben Hier und Jetzt und erleben den theatralen Akt in der Identität von Raum und Zeit.
Gleiche aber sind sie nicht in ihrer Zeit. Sie differieren
in der Wahrnehmung. Vor das leere Verstreichen, das sich als quälende
Un-endlichkeit gibt, setzten wir eine Struktur und geben ihr den
Namen Zeit. Solche Zeit ist je verschieden. Wer sich der Zeit
in besonderer Weise annimmt, ist hinter ihr her oder ihr voraus.
Oder lindert - im Augenblicklichen harrend - den Schmerz der Flüchtigkeit.
Doch gewahren wir auch den steinigen Grund.
Dass etwas ist: scharf umrissen in der Zeitlupe.
Alaine Robbe- Gillet formuliert es so:
Zeitschaffende beherbergt das Theater.
Aufspürend beleben sie Vergangenes, um es den Gewordenen als das Herkünftige sichtbar zu machen. In solcher Bedingtheit relativiert sich die bloße Faktizität des Gegenwärtigen.
So wird das Künftige Auftrag. Dem gegenwärtig Vertrauten Perspektiven und Projekte zu implantieren, deren Wirksamkeit und Berechtigung hypothetisch beschlossen, aber längst nicht erschließbar sind.
Aufgeschlossenheit für diese Unternehmung ist nicht Jedermanns Sache. Das Ungewisse stört die Gewissheit.
Bertolt Brecht:
Theater ist die Zumutung sich dem Fremden, das beansprucht, das Eigene zu sein und es gleichwohl erst noch werden muss, anzuvertrauen.
Nicht überall darf das Theater in gleichem Maß auf Vertrauen hoffen. Dem Verschlossenen und Misstrauischen gerät es in seiner Fremdartigkeit als Provokation. Abwendung auszuhalten ist Teil seiner Bestimmung. Es ist eine Bedingung der Möglichkeit von Kunst überhaupt.
Das Ausloten der spezifischen Widerstände in einer Stadt ist die Voraussetzung für die Kommunikation zwischen Künstler und Rezipienten. - Denn eben am Wider-sprüchlichen der Begegnung entzündet sich Erkenntnis.-
Theater ist Abenteuer und Ansprache.
Die Angesprochenen sind aufgerufen, sich anzuvertrauen, um die
Differenz zu überwinden. Ankünftige dann, und herkömmlich
jetzt und immer abkünftig.
Neben der Gleichzeitigkeit der Ungleich-zeitigen der Raum.
Zweite Differenz.
Früh lernen wir in der Mannigfaltigkeit von Form- und Farbempfindungen
das Gestalthafte auszumachen.
Eine Silhouette gibt uns den Mensch. Oder ein Strich. Urgestalt, körperlich. Sein Stehen, sein Gang, sein Sitzen. Dem alltäglichen Blick bedeutungslos-vertraut. Auf der Bühne die Metamorphose. Das Eigentümlich-Gestalthafte drängt in den Vordergrund, seiner vermeintlichen Selbstverständlichkeit enthoben.
Des Zufälligen beraubt (das Sitzen ist Setzung) bedarf
das zuvor Beiläufige der Aufklärung. Das dem Sitzen
innewohnende wird - aus verschiedenen Blickwinkeln, ästhetisch,
philosophisch, psychologisch - sichtbar. In dem Einen scheint
Vieles auf.
In dem Vielen eine neue Behauptung.
Sich ihrer selbst versichernde Ungewissheit.
Solcherart ist das Theater Wirklich-keit. Ergründen, Inne-Werden und für den Betrachter Hervortretenlassen: dass er sich das fremd Anmutende als das Eigene zu eigen macht.
Wir begreifen: Wir sind uns selbst Aufgegebene. - Dem aber
ist kein Ende gesetzt.
Das Paradoxon: Das Theater setzt, um alles Gesetzte in den Horizont
des Fragens zu verweisen. Seine Gestalt vielfach, flüchtig
und bleibend. Der Raum bewegt, von uns Gestaltet und sich gestaltend,
gemeinsames Subjekt. - In seiner ständigen Entgegen-Setzung
muss das Theater Gegner haben.
Gerade unter den Gegnern auch mag es neue Freunde finden.
Eugéne Ionesco:
Das Theater ist das Gegen zur Stadt. Es nimmt nicht
eigentlich Teil an deren Leben. Es schmarotzt daran, um seinen
eigenen Zweck zu nähren: das Verderben des Vertrauten, das
Erinnern des Schreckens, die Entbindung der Lust.
© Walter Weyers (Memmingen)
Inhalt / Table of Contents / Contenu: No.14
For quotation purposes - Zitierempfehlung:
JWalter Weyers (Memmingen): Theater und Stadt. In: TRANS. Internet-Zeitschrift
für Kulturwissenschaften. No. 14/2002.
WWW: http://www.inst.at/trans/14Nr/weyers14.htm.