Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. August 2006
 

1.2. Gesellschaftliche Reproduktion und kulturelle Innovation. Aus semiotischer Sicht
Herausgeber | Editor | Éditeur: Jeff Bernard (Institut für Sozio-Semiotische Studien ISSS, Wien)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Riten - Gesellschaften - Medien. Eine Studie zur sozialen Reproduktion aus funktionaler Perspektive

Pia Kral [BIO] / Sonja Kral [BIO] (Wien)

 

1. Einleitung
2. Die Funktion von Riten
3. Die Funktion von Medien
4. Die Textur von Riten: Ein Modell
5. Die Textur von Medien: Ein Fallbeispiel
6. Schlussbetrachtung
7. Druckmaterialien
8. Internetmaterialien

 

1. Einleitung

Im vierten Kapitel seines berühmten Romans The Life and Strange Surprising Adventures of Robinson Crusoe (1719) schildert Daniel Defoe den Schiffbruch der Titelfigur und das Überleben auf einer fernen, unbekannten Insel. Bemerkenswert sind dabei Robinsons Gedanken über seine Lage:

I walk'd about on the Shore, lifting up my Hands, and my whole Being, as I may say, wrapt up in the Contemplation of my Deliverance, making a Thousand Gestures and Motions which I cannot describe, reflecting upon all my Comerades that were drown'd, and that there should not be one Soul sav'd but my self; for, as for them, I never saw them afterwards, or any Sign of them, except three of their Hats, one Cap, and two Shoes that were not Fellows. [...]

After I had solac'd my Mind with the comfortable Part of my Condition, I began to look round me to see what kind of Place I was in, and what was next to be done, and I soon found my Comforts abate, and that in a word I had a dreadful Deliverance: For I was wet, had no Clothes to shift me, nor any thing either to eat or drink to comfort me, neither did I see any Prospect before me, but that of perishing with Hunger, or being devour'd by wild Beasts; and that which was particularly afflicting to me, was, that I had no Weapon either to hunt and kill any Creature for my Sustenance, or to defend my self against any other Creature that might desire to kill me for theirs [...].

Obgleich wir nach Daniel Defoe vor allem im zwanzigsten Jahrhundert eine Reihe von Bearbeitungen des Robinson-Crusoe-Stoffes etwa von Michel Tournier ( Vendredi ou Les limbes du Pacifique , 1969), Jean-Marie Gustave Le Clézio ( Le chercheur d’or, 1985) und Umberto Eco ( L’isola del giorno prima , 1994) finden, ist die Situation des Helden in der Tat eine ungewöhnliche, eine Ausnahmesituation.

Ausnahmesituationen lassen sich bisweilen durch Mittel bewältigen, die den Zustand der Unsicherheit, der Angst verringern, indem sie den Betroffenen in eine Trance versetzen. Ursprünglich dienen diesem Zweck so genannte Halluzinogene. Aber auch Texte können Raum, Zeit, Gefühle und Sorgen vergessen lassen, wie die Rahmenerzählung der Sammlung Tausendundeine Nacht belegt: Hier zögert die todgeweihte Erzählerin ihre Hinrichtung durch eine große Anzahl in vielen Nächten dargebotener Geschichten so lange hinaus, bis sie schließlich begnadigt wird. Eine ähnliche Wirkung der Überwindung von Ausnahmesituationen dürfte die traditionell lyrische Gattung hervorzurufen im Stande sein (cf. Michael Metzeltin, Schmerz und Weltschmerz in der romanischen Lyrik . Eine Skizze, Lenau-Jahrbuch 23, 1997, 181-191).

Ethnographische Berichte zeigen, dass zum selben Zweck auch im Laufe etwa von Einweihungsriten immer wieder von jenen Personen, die die rituellen Handlungen ausführen, Geschichten erzählt werden, die außerdem zur Kenntnis der Neophyten gelangen müssen, da sie die Geheimnisse des Zusammenlebens ihrer Gruppe offenbaren. Oft handelt es sich bei diesen Texten um alte, belehrende Mythen, die die neuen Erkenntnisse beispielhaft festigen sollen. Texte, Erzählungen haben aus dieser anthropologischen Sicht demnach eine ebenso beruhigende wie erzieherische Funktion.

Wenn aber Texte Bestandteile der Sequenzen von Riten bilden, kodieren sie unweigerlich die Makrostruktur dieser Riten selbst. Texte erzählen immer wieder von Personen, die ähnliche Prüfungen erlebt haben wie der Neophyt. Diese Geschichten mögen auch der Identifikation des Einzuweihenden mit den alten Helden dienen. Wir vermuten, dass sie sich allmählich aus den Ritualen herauslösen und kontextunabhängig verselbständigen.

Offensichtlich besteht zwischen Riten, der Struktur von Gesellschaften und Texten ein enger, anthropologisch elementarer Zusammenhang. Dass dies nicht nur für Texte, sondern auch für Bilder und allgemeiner für Medien im Gesamten gilt, wollen wir in der vorliegenden Studie aus funktionaler Perspektive sowie mit Hilfe anthropologischer, semiotischer und textwissenschaftlicher Kenntnisse ausführlich an Hand eines Volksmärchens und es illustrierender Bilder nachweisen.

 

2. Die Funktion von Riten

Im Normalfall ist das Überleben, die Befriedigung der elementaren vitalen Triebe des Einzelnen, außerhalb einer Gemeinschaft von Mitmenschen (fast) unmöglich. Um die eigene Subsistenz zu gewährleisten, bedarf das Individuum einer konstant stabilen Gruppe, die einerseits Unterstützung bei der Bewältigung des Alltags und das Funktionieren der notwendigen Aufgabenteilung , andererseits Schutz vor Versehrtheit garantieren kann. Ziel des Einzelnen muss es daher sein, diese Gruppe zu erhalten. Grundvoraussetzung für den Fortbestand von Gesellschaften sind drei elementare Phänomene und daher Humanuniversalien: Eine primäre Rolle kommt der Ernährung zu, daher ursprünglich die Bedeutung der Beherrschung von Techniken des Sammelns und Jagens. Sehr unterschiedliche Kodierungen dieses Bedürfnisses finden sich in den Höhlenmalereien der frühesten Menschheitsgeschichte, später in den mittelalterlichen Bestiarien und Pflanzenbüchern sowie in Stilleben. Ernährung gewährleistet die Fortpflanzung und damit die Reproduktion humaner Ressourcen. Die Grundvoraussetzung für die Fortpflanzung stellt die Fruchtbarkeit beider Geschlechter dar. Explizit oder metaphorisch wird die Vereinigung von Mann und Frau seit jeher in Liebeslyrik und pornographischer Literatur sowie im Bereich der bildenden Künste in Akten und erotischen Darstellungen repräsentiert. Die Erhaltung des Lebens im Hinblick auf die körperliche Integrität (Gesundheit) der Mitglieder von Gesellschaften obliegt der Medizin, daher in allen Epochen der die Bedeutung von Schamanen, Heilern, Ärzten.

Die Reproduktion humaner Ressourcen in Form von Menschen allein vermag noch nicht die Stabilität von Gesellschaften zu garantieren. Ein sekundärer, jedoch nicht weniger wichtiger Weg zur Erhaltung der eigenen Gruppe ist daher die Sozialisation, die Integrierung des Einzelnen in die Gesellschaft. Diese erfolgt meist über Riten, die im DTV-Lexikon (Ausgabe 1999, s.v. Ritus) wie folgt definiert werden:

Der kultische Brauch einer Religion als Ausdruck ihrer Tradition. Aus den einzelnen Riten bildet sich oft der Zusammenhang des Rituals.

Rituale bilden also die Gesamtheit des Ausdrucks von Riten, eine ‘von bestimmten Regeln bestimmte Form einer kultischen Feier’ (ibd., s.v. Ritual). Rituale lassen sich aber auch allgemeiner im übertragenen Sinn deuten (ibd.):

Meist traditionsbestimmte, soziale Verhaltensweisen (›Riten‹), die mit Regelmäßigkeit zu bestimmten Anlässen in immer gleicher Form spontan hervorgebracht werden.

Riten als Bestandteile der Rituale bestehen demnach aus einem stereotypisierten Ablauf, der in bestimmten Situationen wiederholt aktualisiert wird. Mit dem Merkmal ihrer Wiederholbarkeit korrespondiert die Notwendigkeit der Wiederholung der sozialen Reproduktion.

Die grundlegenden rituellen Sequenzen, die letztendlich zur Integrierung eines Einzelnen in eine Gemeinschaft führen, stellen die Initiation und die Herrscherersetzung dar. Erstere fokussiert das Schicksal eines Individuums, seine Wandlung vom Unmündigen zum vollen Mitglied der Gruppe. Letztere konzentriert sich auf dessen Funktion in der Gesellschaft als leitende Figur für seine Mitmenschen an der Spitze einer Hierarchie. Aus funktionaler Sicht wollen wir festhalten, dass Sozialisationsriten als Garanten einer stabilen Gesellschaft zu einem Zustand relativer Sicherheit von Individuen und Gruppen führen können: Initiation und Herrscherersetzung bringen Prätendenten hervor, deren Aufgabe als spätere Herrscher es ist, (zumindest die körperliche) Unversehrtheit ihres Volkes zu garantieren. Gelingt ihnen dies, ist eine der Folgen dieser Unversehrtheit die Abwesenheit von Bedrohung von Menschen durch andere Menschen oder Ereignisse, das Sichersein.

Eine weitere Folge des Einsatzes von Riten wie der Initiation und der Herrscherersetzung dürfte die Herausbildung und Festigung von Machtstrukturen sein. Wenn wir Macht als ein Mehr an Ressourcen aller Art bei einer Person oder Gruppe gegenüber anderen Personen oder Gruppen definieren, wird diese Tatsache deutlich: Der Initiierte, der in die Grundlagen der sozialen Reproduktion Eingeweihte, verfügt unweigerlich über mehr intellektuelle Ressourcen als der Nicht-Initiierte, nämlich in Form seines erlernten Wissens und Könnens über die Techniken von Ernährung, Fortpflanzung und Sozialisation. Diese Kenntnisse versetzen ihn in die Lage, selbst für seine und die gesellschaftliche Subsistenz mittels humaner und materieller Ressourcen sorgen zu können. Die Partizipation an einer Gruppe von Eingeweihten ermöglicht ihm zudem den Zugang zu bestimmten Ressourcen, deren Besitz das Ausmaß seiner Macht potentiell noch zu erweitern vermag. Diejenigen Personen oder Gruppen, die durch Initiation zu Macht kommen, streben im Allgemeinen danach, ihre Macht zu erhalten.

Die Festigung und Erhaltung bestehender Machtstrukturen beruht auf dem Aufbau verschiedener Formen von Herrschaft. Abgesehen von den sehr frühen Gesellschaften der Menschheitsgeschichte verfügen die meisten Gruppen über eine - wenn auch bisweilen nicht unmittelbar erkennbare - hierarchische Struktur: In ihnen finden sich dementsprechend die Klasse der Herrscher und die Klasse der Beherrschten. Kann der Herrscher nun seine ursprüngliche Aufgabe, das Wohl seines Volkes (der Beherrschten) zu garantieren, nicht mehr erfüllen, muss er abtreten bzw. seine Herrschaft gewaltsam beendet werden; seine Regierungszeit dürfte also ursprünglich von vornherein als begrenzt aufgefasst worden sein. Eine Möglichkeit, eine Herrschaft bewusst zu beenden, besteht in der Beseitigung, der Tötung des Herrschers und seiner Ersetzung durch einen neuen Herrscher. Zu letzterem Zweck stellen sich im Regelfall Prätendenten aus der eigenen oder einer fremden Gruppe ein, die - nach erfolgtem Nachweis ihrer Eignung - die Nachfolge des alten Herrschers antreten können. Diese Abfolge von Ereignissen ist etwa bei James George Frazer in Kapitel 24 seines Werkes The Golden Bough. A Study in Magic and Religion (1996:320) beschrieben:

The Killing of the Divine King . [...] Now primitive peoples [...] sometimes believe that their safety and even that of the world is bound up with the life of one of these godmen or human incarnations of the divinity. Naturally, therefore, they take the utmost care of his life, out of a regard for their own. But no amount of care and precaution will prevent the man-god from growing old and feeble and at last dying. His worshippers have to lay their account with this sad necessity and to meet it as best they can.
The danger is a formidable one; for if the course of nature is dependent on the man-god’s life, what catastrophes may not be expected from the gradual enfeeblement of his powers and their final extinction in death? There is only one way of averting these dangers. The man-god must be killed as soon as he shows symptoms that his powers are beginning to fail, and his soul must be transferred to a vigorous successor before it has been seriously impaired by the threatened decay. [...]

Anschließend werden die geschilderten Fakten mit einigen Beispielen aus der Realität einzelner Volksgruppen belegt (Frazer 1996:321):

The mystic kings of Fire and Water in Cambodia are not allowed to die a natural death. Hence when one of them is seriously ill and the elders think that he cannot recover, they stab him to death. The people of Congo believed [...] that if their pontiff the Chitomé were to die a natural death, the world would perish, and the earth, which he alone sustained by his power and merit, would immediately be annihilated. Accordingly when he fell ill and seemed likely to die, the man who was destined to be his successor entered the pontiff’s house with a rope or a club and strangled or clubbed him to death.

Die Denkschemata, die Makrostrukturen der Initiation und der Herrscherersetzung, die uns das enzyklopädische Wissen über die Funktion von Riten in Gesellschaften liefert, werden wir in Abschnitt 4 des vorliegenden Beitrags aufschlüsseln. Hier sei festgehalten, dass gerade diese beiden Riten sehr häufig in Texten und Bildern kodiert sind. Dies spricht nicht nur für ihre Wichtigkeit für stabile Gesellschaften, sondern auch für das Bestreben des Menschen, sie bewusst zu machen und für die Zukunft präsent zu halten. Offensichtlich werden Übergangs- und Sozialisationsriten heute nicht mehr als solche wahrgenommen, dürften also im Bewusstsein des modernen Menschen lediglich latent vorhanden sein. Tatsächlich jedoch begegnen wir etwa Initiationsriten im Alltag ein Leben lang in Form von Geburt, Taufe, Ausbildung, Prüfungen, Hochzeit, Tod. Riten dienen in diesem Sinn auch unser aller Vorbereitung auf die Bewältigung des Lebens, in dem wir immer wieder Übergangssituationen ausgesetzt sind. Sie haben daher ebenso eine deutliche psychodidaktische Funktion.

Um uns den gedanklichen Ablauf solch elementarer, überlebenswichtiger Riten wie der eben beschriebenen vor Augen zu führen und explizit verständlich zu machen, bedarf dieser der über längere Zeiträume hinweg wiederholten Semiotisierung. Diese Funktion fällt in der Regel den verschiedenen Medien im weitesten Sinn zu, die rituelle Sequenzen kodieren. Was Medien sein und auf welche Weise sie ihre Wirkung im Hinblick auf ihre Funktion der Bewusstmachung alter, nicht mehr verstandener Riten entfalten können, wollen wir im folgenden Abschnitt darlegen.

 

3. Die Funktion von Medien

Erscheinungen der Wirklichkeit, so auch Riten und ihre Abläufe, werden vom Menschen zunächst über seine Sinnesorgane (Augen, Ohren, Nase, Mund, Gliedmaßen, Gleichgewicht) wahrgenommen. Im Gehirn verarbeitet, nehmen sie letztendlich die Form von Begriffen, unseren elementaren Denkinstrumenten, an.

Begriffe treten im konventionellen Denkablauf grundsätzlich niemals isoliert auf, sie sind im Gegenteil stets Teil von Sachverhalten. Sachverhalte können wir uns vorstellen als Verbindung eines Trägers mit den ihm zugewiesenen Eigenschaften, Zuständen oder Handlungen, die als Prädikate fungieren. Prädikate können intransitiver (A+schön; A+gesund; A+laufen) oder transitiver Art mit direktem Objekt und Destinatär (A+lesen+Buch; A+geben+Buch+B) sein. Sachverhalte verlaufen vor einem explizit oder implizit vorhandenen Kontext, bestehend aus Ort, Zeit, Wahrscheinlichkeit. Treten sie auf diese Weise propositional in tautologisch, komparativ, kontrastiv, akkumulativ, disjunktiv, sukzessiv, kausal, implikativ gebündelter Form auf, sprechen wir von Texturen (Metzeltin 2004:154-155).

Der Vergleich von Texturen ermöglicht die Herausfilterung immer wiederkehrender und daher als typisch wertbarer Makrostrukturen, die den Texten auf der Inhaltsebene zu Grunde liegen. Wir nennen sie Textoide. Textoide können die Grundlage narrativer, deskriptiver und argumentativer Texte bilden. Der bei wietem häufigste Texturtypus dürfte der erzählende, die Narrativität, sein. An Hand der Dekonstruktion und des anschließenden Vergleichs unterschiedlicher Texte stellen Michael Metzeltin und Margit Thir (1998:20-29) drei narrative Textoide heraus:

Sukzessive Textoide, die einen chronologischen Ablauf von Ereignissen wiedergeben, sind offensichtlich typisch für Chroniken und kommen in reiner Form in anderen Textsorten eher selten vor. Transformative Textoide finden wir hingegen in zahlreichen Texten kodiert, sie bilden eine durchaus lebensnahe Struktur ab, indem sie den Übergang eines Individuums von einem Zustand zu einem anderen über eine Handlung beschreiben, der das Grundgerüst jeglicher Narration bildet. Das prototypische transformative Schema sieht wie folgt aus (Metzeltin/ Thir 1998:21-22):

  P1 Eine Person X befindet sich in einer angenehmen oder neutralen Situation (Ausgangssituation=S0).
  P2 Ein Ereignis stört diese Situation (Causa=C).
  P3 X befindet sich in einer unangenehmen Situation (Situation 1=S1).
 

P4

X will die unangenehme Situation verändern, um eine angenehme Situation zu erreichen (Intention= I).
  P5 X handelt, um die unangenehme Situation zu überwinden und eine angenehme Situation zu erreichen (Transformation=T).
 

P6

Eine Person Y hilft X bei ihrem Unternehmen (Hilfe=A).
  P7 . Eine Person Z hindert X bei ihrem Unternehmen (Schwierigkeit=D)
 

P8

X erreicht die gewünschte angenehme Situation (Situation 2=S2).

Eine andere, spezifischere Form der Transformation, in deren Verlauf zwei oder mehrere an Statt nur einer Person fokussiert werden, können wir im kompensatorischen Textoid erkennen (Metzeltin/Thir 1998:23-24). Hier wird der Übergang von einer Situation zu einer anderen durch Verträge unter den Beteiligten herbeigeführt:

  P1 X schlägt Y vor: X leistet Y den Dienst D1
  P2 X schlägt Y vor: Y leistet X den Dienst D2
  P3 X schlägt Y vor: Wenn nur X oder nur Y den Dienst vollkommen leistet, erhält die nicht zum Zuge gekommene Partei Schadenersatz (Sanktionen)
 

P4

Y bestätigt X: Y nimmt den Dienst D1 von X an
  P5 Y bestätigt X: Y leistet X den Dienst D2
 

P6

Y bestätigt X: Y ist mit den Sanktionen einverstanden
  P7 . W bezeugt: X hat Y eine gegenseitige Dienstleistung vorgeschlagen, und Y hat den Vorschlag angenommen (Zeugenschaft)
 

P8

Z bürgt dafür, dass X und Y die vereinbarten Dienstleistungen voll ausführen (Bürgschaft)
  P9 X leistet Y den Dienst D1
  P10 Y leistet X den Dienst D2
  P11 X belohnt Y für den gut geleisteten Dienst D2
  P12 Y belohnt X für den gut geleisteten Dienst D1

Die propositionalen, zum Teil mit einem Modus versehenen Sachverhalte (P) nehmen innerhalb der Textoide die Form von Narratemen (N) an. Bei beiden Makrostrukturen handelt es sich um so genannte Sättigungsmodelle: Sie geben jene Erzählmomente wieder, die für erzählende Texte konstituierend wirken, sich aber in ihrer Gesamtheit nicht in allen Materialien nachweisen lassen, also das textsemantische Potential von Narrationen abbilden.

Damit Begriffe, Propositionen, Texturen mit ihrer Makrostruktur zu kommunizierbaren Wörtern, Sätzen, Texten werden, müssen sie mit Hilfe von Medien konkretisiert, inszeniert werden. Medien sind immer Teil eines Kommunikationsprozesses, der im Akt einer Mitteilung einer Botschaft durch einen Sender an einen Empfänger besteht. Das nach pragmatischen Gesichtspunkten gewählte Medium, das die Botschaft kodiert, nimmt demnach eine zentrale Rolle ein.

Denkinhalte wie Texturen können wir monomedial, komedial, multimedial, gesamtmedial, intermedial oder transmedial realisieren. Durch Medialisierung entstehen Zeichen und Zeichensysteme, mit denen sich die Semiotik als Wissenschaft der Kommunikation und der Bedeutung befasst. Für unsere Sinne wahrnehmbare und daher geeignete Medien sind ‛Körperbewegungen und Raumverhalten, Stimme, Klänge und Geräusche, Zeichnungen und Bilder, Bausteine und Gebäude, Kosmetika, Textilien und Kleidung, gastronomische Zubereitungen’ (Metzeltin 2001:67). Sie bringen Zeichensysteme wie Gebärdensprachen, Pantomimik, Sport und Tanz, verbale Sprachen mit ihren Sätzen und Texten, Notensysteme, Piktogramme und Alphabete, Skulpturen und architektonische Gebilde, Kleidung und Mode sowie Kochkunst hervor.

Die eigentliche Funktion von Medien als Produzenten von Zeichen und Zeichensystemen dürfte nicht nur die Konkretisierung zum Zweck der Wahrnehmbarkeit für den Rezipienten, sondern auch die dauerhafte Memorisierbarkeit und damit Wiederverwendbarkeit von Gedanken in bestimmten Kontexten sein: Memorisierung besteht im Einprägen und der Aktualisierung von im Gedächtnis gespeicherten Denkinhalten (loci), die in verschiedenen Epochen in unterschiedlichen Medien kodiert und repräsentiert werden. Kommen diese Medien wiederholt stereotyp zum Einsatz, können wir von Medienserien sprechen. Der Begriff der Medienserie steht nach unserem Verständnis für eine Auffassung von Zeichensystemen mit ihren Einzelzeichen aus diachroner Perspektive. Medienserien unterliegen immer einer Pragmatik, indem sie in einzelnen Situationen prototypisch verwendet werden; insofern postulieren wir die Existenz einer (historischen) Medienpragmatik. Diese führt auf Grund der Wiederholung von Denkinhalten in ihrer spezifischen Medialisierung zu deren dauerhafterer Bewusstmachung. Ein Beispiel dafür finden wir in den christlichen Messen, deren rituelle Handlungen die Geschichte von Tod und Auferstehung Jesu medial kodieren und so den Ablauf dem Priester sowie den Gläubigen memorativ erleichtern.

Die Funktion von Medien im Prozess der Bewusstmachung von Riten können wir uns allgemeiner als Abfolge von Schritten vorstellen:

Dieser Medialisierungsprozess dürfte die Voraussetzung dafür bilden, dass Riten auch in den modernen Industrie- und globalisierten Informationsgesellschaften noch präsent gehalten werden können. Würde der Prozess gänzlich fehlen, verlören wir vermutlich den Bezug zu den ursprünglichen und gegenwärtigen Strukturen unserer Lebenswelt sowie den Anstoß zu einer Suche nach ihrem Sinn.

Offenbar ist also die wiederholte und dauerhafte Bewusstmachung ritueller Makrostrukturen und der durch sie bedingten Machtstrukturen durch Medien existentiell notwendig. Abgesehen von dieser rein funktionalen Sichtweise wollen wir nun die Textur der Riten selbst, ihre Tiefenstruktur, näher betrachten.

 

4. Die Textur von Riten: Ein Modell

Wir haben gesehen, dass Texten zusätzlich zu ihrer Strukturierung nach textoidischen Denkschemata wie der Transformation und der Kompensation Sequenzen von Riten zu Grunde liegen können. In diesem Sinn sind Texte in ihrem Aufbau häufig den Riten analog konstruiert.

Texturen von Riten lassen sich an Hand anthropologischer Befunde, hauptsächlich in Form von Ethnographien, relativ leicht nachweisen. Eine Beschreibung und Exemplifikation der prototypischen Initiationssequenz finden wir etwa in dem Werk La production des Grands Hommes (1982) von Maurice Godelier; er untersucht ihre Bedeutung für die Gesellschaftsordnung der Baruya in Neuguinea. Die Initiation der jungen männlichen Baruya etwa beginnt im Alter von neun bis zehn Jahren und umspannt zumeist eine Dauer von über zehn Jahren, innerhalb derer der Initiand vier Phasen zu durchlaufen hat. Am Ende seiner Einweihung ist er ein apmwélo, ein erwachsener, heirats- und zeugungsfähiger Mann. Sehr viel kürzere Zeit nimmt die weibliche Initiation der Baruya in Anspruch: Sie erstreckt sich nur über einige Wochen oder Monate, mit demselben Ziel der Reifung des Mädchens zur Frau, zur apmwévo. Spezifischere Einweihungsriten bestehen für die Schamanen und die Großen Krieger.

All diese Rituale folgen einem bestimmten Ablauf, der durch den Vergleich mehrerer ethnographischer Berichte herausgefiltert werden kann. Allgemeiner lässt sich das Modell auf eine größere Auswahl und Anzahl von Textsorten mit unterschiedlichen kulturellen und gesellschaftlichen Hintergründen anwenden. Einen solchen Versuch unternehmen Michael Metzeltin und Margit Thir in ihrem Buch Erzählgenese. Ein Essai über Ursprung und Entwicklung der Textualität. Semantisch lässt sich die prototypische Initiationssequenz demnach wie folgt aufschlüsseln (Metzeltin/Thir 1998:60-61):

Die Sequenz besteht aus acht Momenten, deren Ablauf die Transformation des Initianden als Protagonisten widerspiegelt. Im Speziellen handelt es sich bei dieser Transformation um einen Übergang des Einzelnen zu einem neuen Menschen, um einen Reifungs- und Ausbildungsprozess: Als Initiierter und damit Sozialisierter, als neuer Mensch, ist er berechtigt, voll an der Gesellschaft der Eingeweihten teilzuhaben.

Wie wir gezeigt haben, stellt der Initiationsritus aus der Sicht des Prätendenten eine Vorbedingung für die Herrscherersetzung dar, indem er die Initiation innerhalb der Sequenz an Hand von Proben nachweisen muss. Ebenso wie die prototypische Initiationssequenz ist auch die prototypische Herrscherersetzungssequenz mit Hilfe von Ethnographien belegbar. Unter anderen Autoren beschreibt sie Leo Frobenius in seiner Studie mit dem Titel Erythräa. Länder und Zeiten des heiligen Königsmordes (1931).

Entsprechend der Initiation kann auch der Verlauf der rituellen Herrscherersetzung in Texten kodiert sein. Michael Metzeltin und Margit Thir (1998:124-125) schlüsseln ihn an Hand des Volksmärchens auf:

Sowohl die rituelle Sequenz der Initiation als auch jene der Herrscherersetzung lassen sich - bisweilen in Verbindung miteinander - erfahrungsgemäß in mündlich oder schriftlichen Texten der Volkstradition sowie in der so genannten ‘schönen’ Literatur, aber auch in Bildern nachweisen. Auf Grund von Beispielen aus unterschiedlichen Text- und Bildsorten können wir also eine allgemeine Textur von Medien postulieren. Wie diese aussehen kann, wollen wir im folgenden Abschnitt skizzieren.

 

5. Die Textur von Medien: Ein Fallbeispiel

Eine der ursprünglichsten Textsorten der Menschheitsgeschichte dürften die Mythen (‘Erzählungen’ im wörtlichen Sinn) sein. Neben ihrer Deutung aus anthropologischer, archäologischer, psychoanalytischer Sicht entwerfen Psychologen sowie Sprach- und Textwissenschafter seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts denn auch spezielle Narratologien des Mythos, denen deutlich Initiations- und Herrscherersetzungssequenz zu Grunde liegen. Ein erstes Beispiel findet sich in der Schrift Der Mythus von der Geburt des Helden . Versuch einer psychologi schen Mythendeutung (1913) des Wiener Psychoanalytikers Otto Rank (Rank 2000), der folgende Makrostruktur vorschlägt:

  N1 Der Held ist das Kind vornehmer Eltern.
  N2 Die Geburt des Helden wird verkündigt.
  N3 Die Verkündigung der Geburt des Helden richtet sich gegen den Vater des Helden oder den Herrscher.
 

N4

Der Held wird unter schwierigen Umständen geboren.
  N5 Der Held soll sofort nach seiner Geburt auf Befehl seines Vaters oder des Herrschers getötet werden.
 

N6

Der Held wird ausgesetzt.
  N7 . Der Held wird von Menschen geringen Standes oder von Tieren aufgenommen.
 

N8

Der Held wird von einer Frau geringen Standes oder einem weiblichen Tier gesäugt.
  N9 Als Erwachsener findet der Held seine leiblichen Eltern wieder.
  N10 Der Held nimmt Rache an seinem Vater oder dem Herrscher.
  N11 Der Held wird allgemein anerkannt.
  N12 Der Held gelangt zu Größe und Ruhm.

Ein ähnliches Modell finden wir bei Joseph Campbell in seiner sehr materialreichen Studie The Hero with a Thousand Faces (1949) vor. In diesem Werk macht der Autor bereits die Dreistufigkeit der Initiationssequenz (<Aufbruch-Initiation-Rückkehr>) deutlich:

I Aufbruch

  N1 Der Held erhält einen Ruf zum Abenteuer.
  N2 Der Held weigert sich, dem Ruf zu folgen.
  N3 Der Held erhält übernatürliche Hilfe.
 

N4

Der Held überwindet Wächter und Schwelle in die andere Welt.
  N5 Der Held tritt in den Körper eines Tieres ein.

II Initiation

 

N6

Der Held muss in der anderen Welt Prüfungen bestehen.
  N7 . Der Held wird in die Sexualität eingewiesen.
 

N8

Der Held widersteht der sexuellen Verführung.
  N9 Der Held versöhnt sich mit einer Vaterfigur.
  N10 Der Held wird in den göttlichen Stand erhoben.
  N11 Dem Helden wird von den Göttern Gnade oder Segen erwiesen.

III Rückkehr

  N12 Der Held weigert sich, in die alte Welt zurückzukehren.
  N13 Der Held flieht auf magische Weise.
  N14 Der Held wird von einer außen stehenden Person gerettet.
  N15 Der Held kehrt über die Schwelle in die alte Welt zurück.
  N16 Der Held wird Herr der alten und der neuen Welt.

Auch für das Märchen hat man versucht, eine Abfolge initiatisch geprägter Narrateme aus der Sicht des Protagonisten aufzustellen, so etwa der Russe Vladimir Propp in seinem 1946 erschienenen Standardwerk Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens. Propp betont in seiner Studie als einer der ersten Märchenforscher die direkte Analogie zwischen den rituellen Sequenzen von Initiation und Herrscherersetzung und der Makrostruktur der Zaubermärchen. Wir begegnen in seinem Texturmodell einer Kontamination der Sequenzen der Initiation und der Herrscherersetzung:

Die eben wiedergegebenen Modelle einer Grundlegung ritueller Sequenzen in Texten basieren bisher offenbar ausschließlich auf der Analyse von Texten der so genannten Volkstradition. Tatsächlich werden die Strukturen in Textsorten wie Mythen, Märchen, Sagen, Legenden besonders deutlich. Diese dürften die ursprünglichsten Textsorten darstellen, die lebens- und gesellschaftsnahe rituelle Sequenzen wie die Initiation und die Herrscherersetzung funktional kodieren, da sie vielleicht am direktesten von allen Textsorten uns alle betreffen. Wir wollen daher nun in einem praktischen Teil unseres Beitrags die Textur des Märchens Hänsel und Gretel aus den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm (Erstausgabe 1812-1815) aufschlüsseln, um unsere Hypothese der Transportation von Riten in Texten zum Zweck der Bewusstmachung existentiell elementarer Gesellschaftsstrukturen zu stützen und zu exemplifizieren. Parallel dazu rekurrieren wir auf eine Bildserie zum Märchen, die der Schweizer Illustrator Hans Holzherr entworfen und auf seiner Webseite unter http://www.aum. iawf.unibe.ch/port/ ma/HH veröffentlicht hat.

Hänsel und Gretel leben mit ihren Eltern in einem Haus vor einem großen Wald (zukünftiger Initiationsort). Da Vater und Mutter arm sind und ihre Kinder nicht ernähren können, überredet die Mutter den Vater gegen dessen Willen dazu, die Kinder nach dem Holzhacken im dichten Wald zurückzulassen, so dass diese den Weg nach Hause nicht mehr finden (Wegführung der Initianden vom Elternhaus). Hänsel und Gretel belauschen das Vorhaben der Eltern und haben deutlich Angst, im Wald nicht zu überleben (Angst vor der Initiation). Um den langen, beschwerlichen Rückweg doch verfolgen zu können, ersinnt Hänsel eine List: Er sammelt noch in der Nacht vor dem Aufbruch Kieselsteine. Diese will er am nächsten Tag als Wegweiser auf den Boden streuen (Holzherr: Bilder 1-14).

Vor Sonnenaufgang (zu einem besonderen Zeitpunkt des Tages) gehen die Eltern mit ihren Kindern in den dichten Wald (Überschreitung der Grenze zum Initiationsort). Hänsel verabsäumt nicht, die Kieselsteine aus seiner Tasche auf den Weg fallen zu lassen (List des Initianden). Im Dickicht lassen die Eltern unter dem Vorwand, Holz holen zu wollen, die Kinder zurück (Orientierungslosigkeit und Isolierung der Initianden). Den gesamten Tag über essen und schlafen Hänsel und Gretel sehr wenig (Nahrungs- und Schlafentzug vor der Initiation). Als die Eltern nicht zurückkehren, machen sich die Kinder in der Nacht allein auf den Heimweg, den sie mit Hilfe der Kieselsteine finden (Holzherr: Bilder 15-20).

Kurze Zeit später ist die Familie erneut von Armut betroffen, die Mutter überredet den Vater ein weiteres Mal dazu, die Kinder im Wald auszusetzen, was auch geschieht (Wegführung der Initianden vom Elternhaus). Hänsel wendet diesmal ein anderes Hilfsmittel zu einer zweiten List an (List des Initianden): Er streut Brotkrumen auf den Boden, die wie beim ersten Gang in den Wald als Wegweiser dienen sollen. Kieselsteine sind ihm nicht mehr zugänglich, da die Mutter in der Nacht zuvor die Haustür abgeschlossen hat, um Hänsel am Sammeln der Steine zu hindern. Alles verläuft wie beim ersten Mal, nur der Rückweg wird den Kindern unmöglich, da Vögel die ausgestreuten Brotkrumen aufgepickt haben (Isolierung der Initianden) (Holzherr: Bilder 21-29).

Die Kinder wandern nun ohne Nahrung ziellos durch den Wald (Orientierungslosigkeit der Initianden auf dem Weg zum Initiationsort, Nahrungsentzug). Plötzlich taucht einer weißer Vogel (Führer zum Initiationsort) auf und weist Hänsel und Gretel den Weg zu einem Häuschen aus Lebkuchen im Wald (Initiationshaus). Die beiden Kinder stillen ihren Hunger mit Hilfe der Süßigkeiten (Aufhebung des Nahrungsentzugs). Sie überlisten dabei die Hexe, die sich über den Angriff auf ihr Haus wundert, indem sie vorgeben, die Geräusche des Brechens des Lebkuchens und des Essens würden vom Wind verursacht (List der Initianden). Die Hexe bewirtet daraufhin die Kinder und bereitet ihnen eine Schlafstelle in ihrem Haus (Aufhebung des Schlafentzugs). Sie führt aber Böses im Schilde, denn sie möchte Hänsel und Gretel letztendlich kochen und essen. Ihr erstes Opfer soll Hänsel sein, den sie zum Zweck des Mästens in einen Stall sperrt (Initiationsprobe). Gretel wird dabei von der Hexe zu deren Hilfe gezwungen. Die Hexe wartet mehrere Wochen darauf, dass Hänsel fett wird, um gekocht werden zu können, doch dieser wendet erneut eine List an, indem er zum Beweis an Statt seines Fingers ein Knöchlein aus dem Käfig streckt (List des Initianden). Eines Tages beschließt die Hexe, ihn trotz seiner vermeintlich mageren Figur endlich zu essen. Sie trägt Gretel auf, Wasser aufzusetzen und den Backofen einzuheizen, denn letzten Endes soll auch das Mädchen auf dieselbe Weise wie ihr Bruder sterben. Nun greift Gretel ihrerseits zu einer List: Sie gibt vor, nicht zu wissen, wie der Ofen zu bedienen sei, und bittet die Hexe um Hilfe. Während diese in den Ofen klettert, stößt Gretel sie in denselben und schiebt den Riegel vor, sodass ‘die gottlose Hexe elendiglich verbrennen’ muss (Holzherr: Bilder 30-53).

Als die Hexe tot ist, finden die Kinder in deren Haus Reichtümer in Form von Perlen und Edelsteinen vor, die sie auf den Rückweg mitnehmen (Holzherr: Bild 54). Sie können aber zunächst die Grenze in ihre alte Herkunftswelt, einen See, nicht ohne fremde Hilfe überschreiten. Eine weiße Ente trägt die beiden schließlich über das Gewässer (Rücküberschreitung der Grenze). Zu Hause nimmt ihr Vater sie glücklich in Empfang, die Mutter ist inzwischen gestorben (feierliche Aufnahme in die Familie). Alle drei verfügen nun über große Reichtümer. ‘Da hatten alle Sorgen ein Ende, und sie lebten in lauter Freude zusammen’.

An Hand dieses Märchens lässt sich also die prototypische Initiationssequenz verdeutlichen. Das Sättigungsmodell der Makrostruktur wird innerhalb des Textes durch das Vorkommen verschiedener Listen amplifiziert. Die für den modernen Leser notwendige Motivation der Wegführung der Kinder von ihrem Elternhaus dürfte jedenfalls neueren Ursprungs und wohl nicht Teil der ursprünglichen Textur sein. Solche Motivationen und Symbolisierungen, die durch Uminterpretationen im Lauf der Jahrhunderte entstehen, zu untersuchen, könnte das Objekt einer weiterführenden anthropologisch fundierten Märchenanalyse bilden.

Bisher haben wir die rituelle Sequenz der Initiation ausschließlich aus dem Text abgelesen. Wie jedoch die Illustrationen von Hans Holzherr zeigen, vermögen auch Bilder statische Ausschnitte aus einer Textur darzustellen. Als kohärent zusammengefügte Bilderfolge enthalten sie die wichtigen textkonstituierenden Teile des Texturgerüsts der Initiationssequenz:

Das Märchen kodiert offensichtlich einen Initiationsritus, jedoch keine Herrscherersetzung. Dies könnte daran liegen, dass es sich bei den beiden Protagonisten um Kinder handelt, die den Prozess der Reifung im Lauf der Erzählung erst erleben. Herrscherersetzungen finden wir in Zaubermärchen mit erwachsenen Helden, noch häufiger in Mythen, etwa in der Geschichte von Ödipus, der nicht wissentlich seinen eigenen Vater Laios tötet, seine Mutter Iokaste heiratet und neuer König von Theben wird. Der Mythos folgt in seinem Aufbau deutlich der Sequenz der Herrscherersetzung. Eine ausführliche Textanalyse und Interpretation unter dieser Voraussetzung legen Michael Metzeltin und Margit Thir (1998:115-124) vor.

 

6. Schlussbetrachtung

Abgesehen von Texten aus der Volkstradition lassen sich einige große Texte aus der ‘schönen’ Literatur nennen, die vor allem die Initiationssequenz kodieren, so etwa das Hohelied Salomos aus dem Alten Testament und seine frühneuzeitliche, stark intertextuelle Bearbeitung durch den spanischen Mystiker San Juan de la Cruz im Jahr 1577-1578 unter dem Titel Cántico espiritual. Der Dialog zwischen Gott und seiner Braut ist in diesem Text inhaltlich als Suche, als quête nach dem Ziel der unio mystica der christlichen Seele mit dem Herrn, konzipiert. Seit dem achtzehnten Jahrhundert bildet sich zunächst vor allem im deutschen Sprachraum der Bildungsroman, allgemeiner der Entwicklungsroman, heraus, der im Wesentlichen den Werdegang eines Individuums in seinem sozialen Umfeld schildert. Beispiele finden wir bis heute überall in der Weltliteratur, im zwanzigsten Jahrhundert in vielen Werken Hermann Hesses. Es sei angemerkt, dass diese Textsorte nicht ohne Grund etwa im Französischen als roman d'initiation bezeichnet wird.

In unserem Beitrag haben wir versucht, die Bedeutung von Medien für die Sinnfindung in unserem Leben nachzuzeichnen. Es wurde deutlich, dass diese Sinnfindung unter anderem über Riten erfolgen kann, die medialisiert und uns auf diese Weise (wieder) bewusst werden. Die Methode der Text- und Bildanalyse ist dabei die der Dekonstruktion: Mit Hilfe von Sachverhalten und der aus ihnen gebildeten Texturen von Medien entdecken wir Textoide und in ihnen verborgene rituelle Sequenzen.

Texte und Bilder haben so nicht nur theoretisch die Funktion der Bewussthaltung von Riten zum Zweck der sozialen Reproduktion, sie erfüllen diese Aufgabe auch immer wieder im Lauf der Geschichte der Textualität und der Bildlichkeit. Dass sie über die Jahrhunderte hinweg positiv rezipiert wurden und werden, mag daran liegen, dass Riten metaphorisch die Schienen bilden, entlang derer der Zug unseres Lebens von unseren Mitmenschen und/oder uns selbst geführt wird.

© Pia Kral / Sonja Kral (Wien)


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1.2. Gesellschaftliche Reproduktion und kulturelle Innovation. Aus semiotischer Sicht

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For quotation purposes:
Pia Kral / Sonja Kral (Wien): Riten - Gesellschaften - Medien. Eine Studie zur sozialen Reproduktion aus funktionaler Perspektive. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW:www.inst.at/trans/16Nr/01_2/kral16.htm

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