Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. August 2006
 

1.2. Gesellschaftliche Reproduktion und kulturelle Innovation. Aus semiotischer Sicht
Herausgeber | Editor | Éditeur: Jeff Bernard (Institut für Sozio-Semiotische Studien ISSS, Wien)

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Ästhetik des Schwingens - eine Antwort auf die Avantgarde-Ästhetiken des 20. Jahrhunderts?

Peter Zajac (Humboldt-Universität Berlin, Bratislava)
[BIO]

 

In seiner Einleitung zu Immanuel Jacob Pyra über die Kategorie des Erhabenen im 18. Jahrhundert schreibt Carsten Zelle:

"... die Kategorie des Erhabenen geradezu dazu erfunden bzw. besser: wieder aufgefunden worden war, um die Übergriffe einer ordnenden Vernunft auf das Feld der Literatur und der Künste abzuwehren. Denn Regelmäßigkeit, Ordnung, Proportion, Verhältnismäßigkeit und Symmetrie, die geläufigen Bestimmungen eines rationalistischen bzw. klassizistischen Schönheitsbegriffs, wurden von der persuasiven Gewalt des Erhabenen schlicht über den Haufen gerannt. Mit dem Ausstieg des Erhabenen seit Boileaus doppeldeutigem Coup im Jahre 1674, einerseits mit der Art poétique die Zusammenfassung des Klassizismus und andererseits mit der Übertragung des Traité du Sublime die antike Legitimation der Moderne zu liefern, war der Verlust der Mitte besiegelt." (Carsten Zelle (Hrsg.): Immanuel Jacob Pyra: Über das Erhabene. Frankfurt am Main, Bern, New York, Paris: Peter Lang, 1991, S. 9.)

Mit dem Verlust der Mitte und der Dynamisierung der modernen Kunst beginnt das Zeitalter der modernen Ästhetik. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fängt die Aufspaltung der klassischen Ästhetik der Schönheit an, die das 18. Jahrhundert bestimmt hatte. Baldine Saint Girons beginnt ihre Betrachtung über die "Risiken des Hässlichen, eine Verstörung aus der Ruhe der Schönheit?" (in: Zuska, Vlastimil (Hrsg.): Umění, krása, šeredno. Texty z estetiky 20. století. Karlsuniversität Prag, Karolinum, 2003, S. 283) mit einem Zitat aus de Sades "Hundertzwanzig Tage von Sodom":

"Schönheit, Frische beeindrucken nur einfache Gemüter; Hässlichkeit, Verkommenheit schlagen viel heftiger zu, der Zusammenprall ist um vieles kräftiger, und die Verstörung fällt umso lebhafter aus."

Friedrich Schlegel nannte diese Aufspaltung Ironie im Sinne eines selbstreflexiven Phänomens der Verdopplung des Subjekts hin zu einem handelnden und betrachtenden Subjekt. Dessen spezifische Form bildet die Ästhetik des Grotesken, so wie sie Victor Hugo in seiner "Einleitung zu Cromwell" formulierte (Hans Robert Jauß: Die klassische und die christliche Rechtfertigung des Häßlichen in der mittelalerlichen Literatur. In: ders.: Altertität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Wilhelm Fink Verlag, München, 1977, S. 385 ff.). Hässlichkeit und Abscheu sind mit dem begrifflichen Ausdruck der "nicht mehr schönen Künste" und mit Heinrich Heine verknüpft. Den grundsätzlichen Wandel bei der Entstehung der moderenen Ästhetik spielte jedoch Baudelaires Konzept von einer Ästhetik des Hässlichen. Er setzte sie in Gegensatz zu einer Ästhetik des Schönen als deren Gegenteil, Kehrseite, Revers. Dabei ist die Ästhetik des Hässlichen untrennbar mit der Ästhetik des Schönen verbunden wie deren abgewandtes Gesicht; so wie romantische Ruinen einer Burg die abgewandte Seite der klassischen Geometrie eines Schlosses darstellen und die wilde englische Natur das Revers der Kultiviertheit eines französischen Parks bildet.

Indem Baudelaire den Damm zu einer modernen Ästhetik des Hässlichen brach, öffnete er den Weg zu deren vielfältigsten Ausprägungen. Exzessive Formen erlangte sie in der Ästhetik der Gewalt. Hugo von Hofmannsthal betonte in seinem Chandos-Brief aus dem Jahr 1902 ein Ungenügen an sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten. Lord Chandos bekennt darin, dass einige Wörter wie Wirbel seien, die sich beständig um sich selbst drehten und man durch sie ins Leere träte. Dadurch gerate das Subjekt in einen wortlosen Zustand einer Art fieberhaften Denkens, eben jener Wirbel, die nicht wie sprachliche Wirbel ins Bodenlose führten, sondern in den tiefsten Schoß der Ruhe (Hugo von Hofmannsthal: Dopis lorda Chandose, in: Anna Grusková (Autorka projektu a editorka): Dramatika viedenskej (vídeňské) moderny. Divadelný ústav, Bratislava, Divadelní ústav Praha 1999, S. 57-62).

Im Chandos-Brief bemühte sich Hofmannsthal, die Ästhetik durch Sprachlosigkeit zu retten. Im Theaterstück Elektra überschritt er diese Grenze und ging in die Sphäre einer zersplitterten Gewalt des Schreckens über. Elektra ist ein Drama exzessiven Neids, in dem den Menschen nichts mehr mit dem Grauenhaftesten und Widerlichsten aussöhnen kann.

In der Elektra erreichte Hofmannsthal jenes, was Nietzsche in der Geburt der Tragödie als eine Befindlichkeit außerhalb der Grenzen des Grauens und Mitleidens bezeichnete. Die Ästhetik der Gewalt bedeutete ein Aufbrechen jener Grenzen, die ansonsten Paradoxien, Widersprüche und Ambivalenzen im Zaum zu halten vermögen. In der Ästhetik der Gewalt gerieten beide Pole - das Schöne und das Hässliche - in extreme Lagen, isolierten und verselbständigten sich.

Die Ästhetik der Gewalt nahm in der Avantgarde radikale Gestalt an. Radikale Asketisierung, Revolutionierung, Provozierung, Schockierung, Skandalisierung, Blasphemie (Lästerungen) und Exzessivität sind für sie bezeichnend. Die Avantgarde-Ästhetik ist katastrophisch und apokalyptisch. Sie ist eine agonistische Ästhetik des Kampfes und bei Artaud Ästhetik der Grausamkeit. Ihr grundlegendes Schlüsselthema ist der Tod und dessen Ästhetisierung. Sie ist eine Ästhetik des Kriegs, Horrors und des Thrillers.

Eine ihrer spezifischen Ausprägungen ist die Ästhetik des Hungers in seiner ganzen Bandbreite, vom selbstgewählten Hungerstreik als Zeichen von Ungehorsam und Widerwillen, über die Haltung eines hungernden Künstlers als Zeichen ästhetischen Entsagens bis hin zum Hungertod an zwei zeitgenössischen Wendepunkten - als Ergebnis unzureichender Nahrung und Flüssigkeit infolge von Armut sowie als anorektische Form des Hungerns als radikale Folge einer zivilisatorischen Ästhetisierung des täglichen Lebens, die es jedem geradezu zur Pflicht auferlegt, "schön zu sein". Aufgrund der Ästhetisierung des Alltagslebens drang die Ästhetik der Gewalt auch völlig in die Gebrauchskunst vor, wobei die Werbung hier als eine der Schlüsselformen der Dominanz von Meinung über Kenntnis darstellt.

Im 20. Jahrhundert hatte die Ästhetik der Gewalt jedoch zweierlei Gestalt - die harte der Penetration und die weiche der Verführung. Doch auch die avantgardistische Ästhetik des Hässlichen hat ihre Kehrseite. Es ist dies die Gebrauchsästhetik des Angenehmen. Zwischen zwei Extrempunkten - der Reality-Show und dem Porno-Film - bewegen sich alle Formen der Verführung: sie bedienen sich dabei der Ideen und der Macht, des Konsums, menschlicher Körper, der Gesundheit, eines sorglosen Lebens sowie dem Versprechen von der Unsterblichkeit. Eine schlüsselhafte semiotische Form des Wandels von harter zu weicher Gewalt bildet der Sport, wo aus dem Totschlag ein Verlieren wird.

Die hedonistische Ästhetik des Genießens ist wiederum ein Märchen, in dem nicht die Guten, sondern die Erfolgreichen siegen. Die weiche, "softe" Gewalt ist verführerisch, sie drängt sich nicht auf, aber sie bietet sich an. Sie bleibt nach wie vor Gewalt, ihr Ziel ist jedoch im Unterschied zum harten, wörtlichen Erschlagen eine weiche Eroberung mittels Design und Werbung. Die Ästhetisierung der Wirklichkeit führt jedoch nicht zu Schillers ästhetischer Gesellschaft, sondern zu einer Gesellschaft des Genusses und Erfolgs. Sie mündet in eine Ästhetik des Ereignisses, der Performanz. Sich außerhalb des Ereignisses zu befinden, sich nicht vorführen zu dürfen, bedeutet den semiotischen und ästhetischen Tod.

Die Ästhetik der Gewalt hat in ihren weichen und harten Formen das 20. Jahrhundert beherrscht. Zum einen, weil es ein Jahrhundert des Tötens war, zum anderen deshalb, weil es sich mit dem Problem der Sterblichkeit aussöhnen musste. Die bedeutendsten Werke des 20. Jahrhunderts sind der Authentizität als des Ausdrucks der menschlichen Zielgerichtetheit auf den Tod gewidmet, wenn nicht gar geweiht. Es scheint, als ob die Ästhetik der Gewalt jene der Erhabenheit allein durch die Tatsache überwunden hätte, dass der Tod die Ewigkeit ausschließt und infolge dessen auch das Erstaunen und die Ehrfurcht davor. Als hätte das Nichts definitiv den Sieg davongetragen.

Die Avantgarde-Ästhetik hat auf diese Weise völlig der zweiten grundlegenden Linie der modernen Ästhetik widersprochen, die neben ihr bestand und sich aus Burkes Ästhetik des Sublimen entwickelt hatte. Immanuel Kant hatte sie als moderne Ästhetik des Erhabenen formuliert. Als ob es nicht möglich wäre, Erhabenheit, die Kant als Ehrfurcht vor der Unvorstellbarkeit der Mächtigkeit, Erstaunlichkeit und des Schreckens der Natur begriff, mit dem Hässlichen zu korrelieren, die sich mit der Banalität des Alltags verband. Und dennoch war es Burke, der schrieb, dass

"das Hässliche gleichermaßen vereinbar ist mit der Idee des Erhabenen. Damit möchte ich jedoch entschieden nicht andeuten, dass das Hässliche selbst eine erhabene Idee darstellt. Es ist dies lediglich dann, wenn es in Verbindung mit bestimmten Qualitäten tiefen Schrecken hervorruft. (Burke, Edmund: A Philosophical Inquiry into the Orign of our Ideas of the Sublime and Beautiful with Several Other Additions, sect. XXL.).

Nietzsches dionysische Ästhetik war auch eine Ästhetik der Erhabenheit. Nietzsche fragte: wozu brauchten die alten Griechen, Menschen mit solch rauschhafter Freude und Erstaunen, die Tragödie? Warum wollten die offenkundigen Verfechter von Schönheit und Gleichmaß abscheulichen Taten und ungebändigtem Schrecken zusehen? Und im Gegenteil, waren es nicht Schmerz und Angst, mit denen zu hadern bedeutete, erst das rechte, "griechische" Vergnügen zu entdecken? ... Nietzsche fragte über den Umweg eines historisch "naiv" begriffenen Hellenentums nach den tiefsten Paradoxa der Seele, nach dem Pendelausschlag einer jeden lebendigen seelischen Erscheinung sowie eines künstlerischen Werks, und auch nach dem Drama seines teilweise qualvollen, teilweise euphorischen Lebens. Er war der Spannung als einem grundlegenden Seelenzustand auf der Spur, wo ein Pol zum Überleben dringend des anderen, weit entfernten, ja diametral entgegengesetzten bedarf. Im Licht der olympischen Metapher von den inneren psychischen Zwistigkeiten gesehen, bedeutet dies: weder Apoll kann ohne Dionysos sein, noch jener ohne Apoll. " (Cieslar, Jiří: Nietzschův návrat a nálady konce století. In: ders.: Hlas deníku. Praha: Torst, 2004, S. 24.) Bedeutend ist in dieser Formulierung die Verbindung der Unbändigkeit von Schmerz und Angst, die innere Verknüpfung des Überwältigenden mit der Ehrfurcht. Eine Ästhetik der Erhabenheit im Sinn einer Ästhetik des Entsetzens als äußerstem Ausdruck von Ehrfurcht stellte schließlich auch Hofmannsthals Vorstellung von "den Wirbeln, die nicht wie sprachliche Wirbel ins Bodenlose führen, sondern ... in den tiefsten Schoß der Ruhe" dar.

Die Avantgarde drängte die späte Moderne an den Rand der modernen Entwicklung der Kunst und mit ihr auch die Ästhetik der Erhabenheit. Deshalb eröffnete Wilhelm Weisschedel erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen zweiten Weg zur Ästhetik der Erhabenheit des 20. Jahrhunderts (Wilhelm Weisschedel: Rehabilitation des Erhabenen. In: Josef Derbolaw, Friedrich Nicolin (Hrsg.), Erkenntnis und Verantwortung. Düsseldorf, 1961, S. 335-345) mit der Formulierung von "den bestimmten Qualitäten, bei denen die Verbindung von Erstaunen und Grauen ein Schrecken hervorruft, das man als Ehrfurcht bezeichnen kann".

Neben Kants natürlicher "Unendlichkeit", "Unbegrenzheit", die einen Affekt "des Unheimlichen", "des Ungeheuren" hervorrufen, beschrieb er weitere Formen der Erhabenheit, Schillers Unheimlichkeit (im Sinne von ungeheuerlich, aber auch unheimlich) der Geschichte, Schellings überwältigende Macht des Chaos und Nietzsches Erfahrung des Nichts.

Als Folge einer Rehabilitierung der Ästhetik des Erhabenen wurden in den letzten Jahrzehnten einige entscheidende Schritte getan. Der erste war die Rückkehr zu Burkes Konzeption des Erhabenen, wie bei Wolfgang Hoffmann (Wolfgang Hoffmann: Im Rückspiegel der Moderne, 1998, S. 360), der auf zwei Formen des Erhabenen bei Burke hinwies - die natürliche und die künstliche. Daraus leitete er das Prinzip des ästhetischen Minimalismus ab, der sich auf Serialität oder Zerroalität gründet (Goller, Mirjam: Serielles und Zerroelles. In: Mirjam Goller, Georg Witte (Hrsg.), Minimalismus. Zwischen Leere und Exzeß Wien: Wiener Slawistischer Almanach 51, 2001, S. 359) . Einen weiteren Schlüssel zur Ästhetik des Erhabenen im 20. Jahrhundert bildete die Anknüpfung an Longinos‘ ursprüngliches Konzept von Erhabenheit als "der Vergegenwärtigung einer Überschreitung", wo Longinos gegenüber dem Moment der Unvorstellbarkeit jenes der Vergegenwärtigung betont (Frank, Susi K.: Der Diskurs des Erhabenen bei Gogoľ und die longinische Tradition. München, Wilhelm Fink Verlag, 1999, S. 34).

Zwei weitere Schritte tat danach zum einen Adorno mit seiner dialektischen Konzeption des Erhabenen, womit er an Hegel anknüpfte, und dann Jean-François Lyotard mit seiner postmodernen Auffassung einer Erhabenheits-Ästhetik (Lyotard, Jean-François: Das Erhabene und die Avantgarde. In: Merkur, Hrsg. von Karl Heinz Bohrer, Jahrgang XXXVIII, Heft 423-430, S. 151-164. Und ders.: Die Analytik des Erhabenen. Kant-Lektionen München: Wilhelm Fink Verlag, 1994).

Hieran entzündete sich in den 1990er Jahren die heftigste Diskussion, deren Grundlage das Projekt von Christiane Pries vom Ende der 1980er Jahre bildete. Carsten Zelle markiert hier die doppelte Ästhetik des Schönen und des Erhabenen, die von Boileau, Dennis und Breitinger "über die Sattelzeit hinaus von Burke, Mendelssohn, Kant und Schiller bis Nietzsche, vielleicht gar bis Newman oder Lyotard reicht" (Carsten Zelle: Schönheit und Erhabenheit, in: (Christiane Pries (Hrsg.): Das Erhabene. VCH Verlagsgesellschaft, Weinheim 1989).

Karl Heinz Bohrer trug ebenfalls dazu bei: "In einem völlig unverhofften Augenblick soll sich nicht wie im vormodernen Augenblick eine Totalität, Vollständigkeit oder ein benennbarer existenzieller Sinn zeigen, sondern lediglich ein ‚unbedeutsames Aufscheinen‘, das keine Fortdauer hat, nichts zum Vorschein bringt und zurückkehrt ins Nichts, das es beleuchtete (Bohrer, Karl Heinz: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins . Hanser Verlag, München, Wien 1978, S. 353).

Zu Beginn des 21. Jahhrhunderts konnte bereits Vlastimil Zuska in seiner Estetika (Vlastimil Zuska: Estetika. Úvod do současnosti tradiční disciplíny, Triton, Praha 2001, S. 83) konstatieren, dass "die Kategorie des Erhabenen für die sog. postmoderne Kultur zu einer bestimmenden Kategorie wird" und gegenwärtig als eine "dynamische Theorie des Erhabenen" (Ralph Krey: Dynamisierung des Erhabenen? In: Arcadia, Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft, Band 29, 1994, Heft 1, S. 58) oder "interferenzielle Ästhetik" (Martin Seel: Eine Ästhetik der Natur. Suhrkamp Verlag, Frankfrut am Main, 1996) jene "bestimmende ästhetische Kategorie" bildet.

Die Schlüsselfrage für die vorliegende Betrachtung lautet jedoch: Warum wurde gerade in der Gegenwart die Erhabenheit erneut zu einer bestimmenden ästhetischen Kategorie? Vor allem deshalb, weil die gegenwärtige Auffassung des Erhabenen sich mit dem Moment der Indisponibilität verbindet (Margreiter, Reinhard: Erfahrung und Mystik. Grenzen der Symbolisierung. Berlin: Akademie Verlag, 1997, str. 401). In unserer gegenwärtigen Welt, wo nahezu alles real oder virtuell zur Verfügung steht, disponibel ist, wird es womöglich zur letzten Sphäre des Unverfügbaren - und in diesem zu einem ästhetischen Raum, einem Bereich des Aufscheinens von Ehrfurcht aus der Verknüpfung von Erstaunlichem und Schrecklichem. Martin Heidegger bezeichnete dieses Erlebnis als Schwingung (Marc Richir: Schwingung a fenomenalizace. In: Ivan Chvatík, Pavel Kouba: Fenomén jako filosofický problém. Centrum pro fenomenologícké bádání, Praha 2000, S. 160-175) und Richir verbindet es direkt mit dem Begriff Schwingen:

"Auf der einen Seite wird ein Zustand erschüttert, funkelt, schwingt oder vibriert zwischen dem, was sich zuvor nach einem "Flügelschlag" "gesetzt hatte" bzw. "festgebacken wurde" als Welt seiner Möglichkeiten, die es dann gibt - und auf der anderen Seite weist er über diese Möglichkeiten hinaus, die ein Schwingen, Funkeln oder eine Erschütterung, die durch ihn hindurch geht darstellt, und die in sich eine unendliche Quelle möglicher Entwürfe birgt..."

In der aktuellen ästhetischen Diskussion über die zeitgenössische Ästhetik des Erhabenen hallen diese Worte Heideggers auf direktem Weg nach. Denn was anderes als eine zeitgenössische Ästhetik des Erhabenen ist "eine Ästhetik der Einblicks" von Zdeňek Mathauser (Mathauser, Zdeněk: Estetika racionálního zření. Praha: Nakladatelství Karolinum, 1999) oder eine "Ästhetik der Plötzlichkeit" von Karl Heinz Bohrer (Bohrer, Karl Heinz: Plötzlichkeit. Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1981), an die verschiedene Konzepte der Epiphanie anknüpfen, bzw. das, was ich in direkter Folge an Heidegger eine Ästhetik des Schwingens nenne.

Es geht hier immer um ein epiphanisches, säkulares oder sakrales (mystisches) Erlebnis, in dem auf einmal, plötzlich, in Gestalt eines Schwingens - eines Erzitterns, Aufblitzens oder Aufscheinens, einer Vibration oder Pulsation - das Erlebnis von Ehrfurcht als einer Verbindung von zugleich Erstaunlichem und Schrecklichem als Ereignis zum Vorschein kommt.

Wesentlich ist dabei gerade der Moment der Epiphanie, der plötzlichen, unerwarteten Erscheinung in den Rissen und Frakturen des Texts, die im Anschluss daran verschwindet, jedoch im Text in Spuren anwesend bleibt - und zwar als ein Aufleuchten in der Dunkelheit, als in der Luft aufgewirbelte Staubkörnchen, Asche, als eine sich verflüchtigende Fußspur, als eine Verunreinigung im Auge, als kurzes Stocken in einem ansonsten flüssigen Verlauf. Oder als ein Lufthauch, wie es František Karfík beschreibt:

"Aktivität wird in der stoischen Wissenschaft als Pneuma bezeichnet. Die wörtliche Übersetzung dieses Worts ist "Luftzug", "Zugluft", d.h. etwas, was einen Wind oder besser einen Windhauch verursacht, wenn es Zugluft gibt. Unmöglich, sich beim Bild einer zarten und alles bestimmenden Zugluft nicht an das Bild von Elias zu erinnern, wie er in der Höhle auf die Ankunft des Herrn wartet: ein Gewitter zieht auf, doch Gott ist darin nicht wahrzunehmen, bis der Prophet dessen Anwesenheit in einem zarten Lufthauch erkennt. Pneuma oder auch Zugluft stellt ein aktives Prinzip von Stofflichkeit dar, das die Eigenschaften und das Wesen aller Dinge darstellt. Pneuma ist das Lebensprinzip alles Seienden. Es ist reines Feuer, das jedoch meist nicht zu sehen ist" (František Karfík: Předpoklady stoické kosmogonie, in: Reflexe 18, 1998, S. 3(1-30), hier 25).

Oder wie die Leere und das Nichts:

"Doch wenn in plötzlichen Augenblicken keinerlei Gottheit aufscheint, keinerlei Unsterblichkeit und keinerlei Hoffnung, sind sie dann nicht nichtig und bedeutet dann ihre Resonanz, wie Bohrer sagt, nicht einen "großen Lärm um nichts"? Gerade dies ist der Fall, aber gerade darin besteht auch die Qualität literarischer Epiphanien ohne göttliche Erscheinung: Im plötzlichen Augenblick geht es nach Bohrer um das "dass" und nicht um das "wie" der Erscheinung. Epiphanie als "wesentliche Struktur des Ästhetischen" ist in der Moderne offensichtlich ohne Höhe" (Orzessek, Arno: Masken der Wirklichkeit: Karl Heinz Bohrers Gadamer-Vorlesung in Heidelberg. Süddeutsche Zeitung, Freitag, 8. Juni 2001, S. 17).

In der heutigen Welt des Designs, der glatten, undurchdringlichen Flächen, bei denen es immer um die Oberfläche und die Eliminierung des Inneren und der Tiefe geht, sind es gerade die Frakturen des Texts, des Bilds, der Performanz und Inszenierung, ihre "Risse", die es uns in einem plötzlichen Aufblitzen, als Luftzug oder Erschrecken, für einen einzigen Augenblick und gerade deshalb mit Ehrfurcht ermöglichen, hinabzublicken in die Tiefe, die sich an der narzistisch glatten Oberfläche oder einem verborgenen Innern, unterhalb der Oberfläche, spiegelt.

Aus dem Slowakischen von Renata SakoHoess.

© Peter Zajac (Humboldt-Universität Berlin, Bratislava)


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For quotation purposes:
Peter Zajac (Humboldt-Universität Berlin, Bratislava): Ästhetik des Schwingens - eine Antwort auf die Avantgarde-Ästhetiken des 20. Jahrhunderts?. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW:www.inst.at/trans/16Nr/01_2/zajac16.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 14.8.2006     INST