Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 16. Nr. | August 2006 | |
1.3. Instabilität und Zerfallsformen gesellschaftlicher Zusammenhänge: Soziale Ungewissheit, Unsicherheit und Prekarisierung |
Zur Prekarisierungsbeschleunigung im Journalismus
Robert F. Riesinger (Graz)
[BIO]
Hat man viel, so wird man bald
Noch viel mehr dazu bekommen.
Wer nur wenig hat, dem wird
Auch das wenige genommen.
Wenn du aber gar nichts hast,
Ach, so lasse dich begraben -
Denn ein Recht zum Leben, Lump,
Haben nur die etwas haben.
Heinrich Heine, Weltlauf (1851)
Heute scheint im neoliberalen Sturm symbolischen Vernutzungsdrucks vollends außer Mode zu geraten, was schon Adorno vor rund vier Dezennien defensiv angemerkt hat: dass man riskieren solle, "ungedeckte Gedanken zu denken."(1)
Das Riskante als Grundtopos bürgerlichen Selbstverständnisses ist - zumal seit Ulrich Becks Sondierungsversuchen einer Risikogesellschaft - in aller Munde, egal aus welcher Schicht und aus welchem Milieu diese sich artikulieren. Doch sind die Leiden und Schattenseiten von prekären, individualisierten Lebensläufen als mehr und mehr im Gesellschaftlichen, das weggedrängt, wegverdrängt und wegphantasiert wird, um sich umso brüsker, unverhohlener und schockartiger - im hilflosen Amoklauf, im Zusammenbruch des Burn-out, im unerwarteten Suizid - zurückzumelden, proliferierende und beschleunigte Existenzformen in der alltäglichen Mitwelt unübersehbar. So manche individuelle Strategie, verzweifelt die Sozialmaske aufrechtzuerhalten, endet in den letzten, zunehmend autoritären Netzen zusehends abgebauter Sozialstaatlichkeit oder im Nichts der Obdachlosigkeit. Zynische Diskurse im Wissenschafts- und Mediensystem, die das Obdachlose zum anthropologischen Grundbestand hochstilisieren, um die realen gesellschaftlichen Nötigungen zur Notlage zu verdecken und die fortschreitenden Pauperisierungen als übertriebene Paranoia allzu kritischer Einwände zu verniedlichen, gehören in ein Gesamtbild beschleunigten Umbaus gesellschaftlicher Realverfassung.
Was sich in den folgenden, angeschnittenen Überlegungen auf der Basis einiger empirischer Befunde aus der jüngeren sozialwissenschaftlichen Forschung in zwei Richtungen ausformuliert findet, muss in einem umfassenderen Rahmen gesellschaftlicher Transformationsprozesse, in die auch die mediensystemischen eingebettet sind, verortet werden. Eine Vertiefung und Präzisierung über die folgenden Orientierungslinien hinaus, ist zu einem späteren Zeitpunkt geboten. Umfangreichere Forschungen, auch im Länder- und Kontinentevergleich, wären notwendig auf einem Gebiet, auf dem es letzten Endes um den Weiterbestand der herrschenden oder die Entwicklung fehlender Demokratien geht. Dass sich die Felder und Feldrelationen von Wirtschafts-, Medien- und Politiksphäre - vermutlich auch in dieser Priorität und Gewichtung - nicht zu Ungunsten des Politischen durch autoritäre neoliberale Diktate vollends verschieben, muss durch - heute oftmals schmerzvoll fehlende -Wachsamkeit, nach Thomas Jefferson eine der Grundtugenden demokratischer Charaktere und Ordnungen, gewährleistet werden. Die Medien sind traditionell jene Instanzen, die das öffentliche Forum demokratischer Willensbildung darstellen und die Funktion der Machtkontrolle ausüben (sollen). Dazu wäre im Journalismus die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit der Redaktionen und der MedienakteurInnen nötiger denn je. Nichts scheint mehr, selbst in den westlichen Demokratien, in Frage gestellt zu sein - teils aus aktuellen politischen Gründen wie in den USA, teils aus Gründen der Transformationen sozioökonomischer Rahmenbedingungen wie in Europa.
Im Folgenden wird in zwei Etappen zunächst von den allgemeinen Verschiebungen in den gesellschaftlichen Strukturen, unter Bezugnahme auf einige Befunde der deutschen und französischen Soziologie, ausgegangen. In Anknüpfung daran wird die Situation im Feld des Journalismus unter dem Aspekt der Prekarisierungstendenzen und ihrer Auswirkungen auf die öffentliche Sphäre zwar nicht durch-, aber etwas beleuchtet.
Vester et al. (2001: 83) stellen in ihrer Untersuchung zu den sozialen Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel vier neue Diskriminierungsformen heraus, die auch wachsende Gruppen der gutausgebildeten sozialen Mitte betreffen, seit den siebziger Jahren zunehmend Aktualität gewonnen haben und "heute gleichzeitig und kumuliert nebeneinander bestehen.
(1) Seit den siebziger Jahren: Diskriminierung bestimmter Personengruppen, insbesondere von Frauen, Alten, Jugendlichen und Zugewanderten und verminderte Aufstiegschancen von Kindern aus den neuen Bildungsschichten oder aus den unterprivilegierten Milieus.
(2) Seit den achtziger Jahren: diskontinuierliche Lebensläufe, d.h. häufige Umstellungen zwischen Phasen des Jobbens, der Berufsarbeit, der Arbeitslosigkeit, der Weiterbildung, der Kinderversorgung usw.; nicht nur unten, sondern auch in der Mitte der Gesellschaft wird immer höhere‚Flexibilität’ und Belastbarkeit verlangt.
(3) In den neunziger Jahren: bei mehr als 25% der Bevölkerung Verfestigung eines Teils dieser unstetigen Biographien zur dauerhaften Schieflage des ‚Wohlstands auf Widerruf’ oder ‚prekären Wohlstands’, d.h. eines hohen Risikos, daß auch Angehörige der sozialen Mitte unter die Armutsgrenze fallen.
(4) Schließlich: bei etwa 10% eine zunehmende Verfestigung sozialer Deklassierung durch Armut bzw. durch vollständige Exklusion aus dem Arbeitsmarkt und auch durch sozialmoralische Ausgrenzung in bestimmten Minderheiten und Wohnvierteln."
Diese vierteilige, dynamische Schichtung, in die immer mehr Einzelpersonen eingelagert werden, wandert diskontinuierlich und ungleichzeitig, aber stetig von der sozialen Peripherie zur sozialen Mitte und ist mit Prozessen der Devalorisierung erworbener Kenntnisse und Fertigkeiten verbunden, basierend auf der zunehmenden Arbeitslosigkeit und prekarisierten Erwerbslebensläufen, die ein Reservoir freigesetzten, unverwerteten und entwerteten Humankapitals(2)schafft, um den Marxschen Begriff der industriellen Reservearmee in neoliberal-technokratischer Terminologie zu variieren und zu aktualisieren. Die "Abwertungskarriere" (Vester et al. 2001: 85) als Ausdruck der (oftmals nur psychisch empfundenen) Deklassierungsspirale trifft für einen immer größeren Teil der Bevölkerung zu. So zeigten bereits Ende der 1980er Jahre Längsschnittuntersuchungen in Deutschland, dass annähernd jede zweite Erwerbsperson die Erfahrung einer vorübergehenden Arbeitslosigkeit gemacht hatte. Selbst wenn die betroffene Person relativ rasch wieder eine Beschäftigung fand, waren dann häufig Gehaltseinbußen, berufliche Deklassierung, erhöhte Belastungen an Pendlerwegen, Mehrarbeit und Abwesenheiten von der Familie oder dem/der (Lebens-)partnerIn sowie schlechtere Rahmenbedingungen bei der Arbeit wie kurzzeitige Verträge, Arbeitsstress etc. damit verbunden. Vester et al. (2001: 85-86) zitieren, daran anschließend, Umfragen vom Ende der neunziger Jahre, nach der die meisten ArbeitnehmerInnen bereit seien, "bei Entlassungen schlechtere Arbeitsbedingungen anzunehmen: längere Arbeitswege (74% dafür), schlechtere berufliche Positionen (61%) oder geringeren Verdienst (52%). Nur 1,2% haben es abgelehnt, im Sinne der Zumutbarkeitsregel einen Verdienst in Höhe der bisherigen Arbeitslosengelder bzw. -hilfen anzunehmen (sic!)." Als weiterer Beleg unter vielen aus der legistischen Praxis kann die Zumutbarkeitsbestimmung für Arbeitslose in Österreich im Bereich der längeren Arbeitswege herangezogen werden, durch die diese dazu gezwungen werden, Arbeiten anzunehmen, die eine tägliche Dauer von Pendelfahrten im Gesamtausmaß von vier Stunden auferlegen. Oppressive Verhältnisse, die von der gesetzgebenden Instanz eingeführt werden, und in ohnedies prekären Lebenslagen die Betroffenen zur physischen und / oder psychischen Erschöpfung - damit zur tendenziellen temporären oder dauerhaften Arbeitsunfähigkeit - treiben oder in finanzielle Notlagen, die vollständig privatisiert werden, um die horrenden Privatisierungsgewinne am Gegenpol der Gesellschaft zu erhöhen (vgl. Boltanski/Chiapello 2003; Altvater 2005).
In diesem Zusammenhang wird immer wieder auf die Umstellung in den Arbeitsbiographien in zweierlei Hinsicht hingewiesen: 1. die Umstellung von durchgängigen Erwerbsbiographien als Normalbiographien hin zu "diskontinuierlichen und entstandardisierten Mustern des Lebenslaufs bzw. des Erwerbslebens" (Vester et al. 2001: 85) sowie 2. die Umstellung von der Normalarbeitszeit zum flexiblen Arbeitszeitregime. "Teilzeitjobs, unzusammenhängende Arbeitsphasen, kurzfristige Arbeiten werden für viele zum Normalfall." (Prisching 2003: 231) .
Unter dem Druck neoliberaler Reformen, gekennzeichnet etwa durch den Rückbau des Sozialstaats, die machtstrategische Erhaltung und den Ausbau des Niveaus an Arbeitslosigkeit bei gleichzeitiger diskursiv-strategischer Verkehrung ins Gegenteil der behaupteten Bekämpfung in Form medialisierter, quasi-religiös vorgebrachter Reformlitanei - bekämpft werden dabei zunehmend die Arbeitslosen und nicht die Arbeitslosigkeit -, die beschleunigte Ökonomisierung lebensweltlicher und kultureller Bereiche, die Privatisierung von staatlich kontrollierten, industriellen Schlüsselbetrieben, Wohlfahrts- und Versorgungseinrichtungen, die Risikoindividualisierung (z.B. in der Altersvorsorge), den linguistisch-symbolischen Sprachumbau (z.B. in Form des Einzugs ökonomischer Termini in die Alltagssprache oder der technokratischen Sprachperformanz) usw., beginnt die soziale Mitte zu erodieren - begleitet von mangelnden Alternativen reflexiver Bewältigung, die nicht den vorherrschenden neoliberalen Symbolisierungsstrategien entsprechen, sowie politischer Organisierung jenseits gewerkschaftlicher Traditionen, die für die aktuellen Entwicklungen oftmals als überholt erscheinen, weil sie den neuen Verhältnissen, die im soziogenetischen und psychodynamischen Befund von Pierre Bourdieu bereits 1998 formuliert worden sind, nicht mehr entsprechen:
"Die Einrichtung einer darwinschen Welt, in der die Bindung an Arbeit und Unternehmen ihren Antrieb schließlich der Unsicherheit, dem Leiden und stress verdankt, könnte zweifellos nicht so erfolgreich sein, wenn sie nicht die Komplizenschaft jener prekarisierten Habitus fände, die eine solche Unsicherheit ständig erzeugt, die Existenz einer auf jeder Ebene, selbst in den höchsten Stellungen durch Prekarisierung gefügig gemachten Reservearmee, und mit ihr die dauernde Drohung der Arbeitslosigkeit. Denn letzte Grundlage dieser ganzen wirtschaftlichen Ordnung, die sich auf die Freiheit des Einzelnen beruft, ist tatsächlich die strukturale Gewalt der Arbeitslosigkeit, der Verunsicherung, der Angst vor Entlassung: die Bedingungen des ‚harmonischen’ Funktionierens des individualistischen Modells der Mikroökonomie und die individuelle ‚Motivation’ zur Arbeit beruhen ganz auf einem Massenphänomen, der Existenz einer Reservearmee von Arbeitslosen. Einer Armee, die keine ist, weil Arbeitslosigkeit isoliert, atomisiert, individualisiert, demobilisiert und entsolidarisiert." (Bourdieu 1998b: 112-113)
Durch neue "Schieflagen der Leistungs- und Chancengerechtigkeit und durch zunehmende Risiken" verschärft sich, Michael Vester zufolge, insgesamt die "vertikale Dreiteilung der Gesellschaft:
Die sozialen Standards der privilegierten Oberschicht (knapp 20 Prozent) heben sich zunehmend von den Durchschnittswerten ab.
Die sozialen Standards der nicht privilegierten ‚respektablen’ Arbeiternehmermitte (um 65 Prozent) stagnieren und werden unsicher.
Die unterprivilegierten Verlierergruppen (um 15 Prozent) werden zunehmend von den ‚respektablen’ Standards sozialer Teilhabe ausgeschlossen."
(Vester 2005: 28):
Vergleicht man diese Zahlen mit jenen, die von der deutschen Caritas in einer Studie Anfang der neunziger Jahre ausgewiesen worden sind, so zeigt sich eine erhebliche Verschärfung der sozialen Situation der Mehrheit der deutschen Bevölkerung innerhalb der letzten zehn bis fünfzehn Jahre. Die Daten ergaben folgende Stufung der sozialen Lagen: Etwa 40% lebten in sicheren Verhältnissen, rund 20-25% waren durch eine Lebensweise der Knappheit verunsichert, zusätzliche 25-30% befanden sich bereits im Stadium des Wohlstands auf Widerruf, also in prekären Lebenslagen, und die restlichen 10% lebten bereits in dauerhafter Armut. (vgl. Hübinger 1996, zit. n. Vester et al., 2001: 88)
Während also zu Beginn der 1990er Jahre rund drei Fünftel tendenziell in die Zone sozialer Gefährdung und Verunsicherung gehörten, waren es nach 2000 bereits rund vier Fünftel, die im Umfeld unsicherer Verhältnisse lebten, die von allgemeinen Prozessen der Prekarisierung, im Sinne von Bourdieus Feldrelationen auch als gesellschaftliches Rückwirkungsphänomen von Prekarisierten auf (Noch-)Nichtprekarisierte verstanden, betroffen waren. Es ist somit anzunehmen, dass die prozessuale Stufung der sozialen Lagen und vor allem Lebensweisen in Zonen der Diskriminierung, Diskontinuität, Prekarität und Exklusion, wie sie in jüngerer Zeit von Vester et al. (2001: 88-90), aber auch, auf letztere bezogen, etwa von Martin Kronauer (2002) herausgearbeitet worden sind, aktuell und in Zukunft sich noch zugunsten prekarisierender und exkludierender Entwicklungen verlagern wird.(3) Extrapoliert man vorliegende Zahlen, so kann man mit einer Verschiebung und Annäherung von Prekarität und Exklusion in die Mehrheitszone innerhalb der nächsten 10-20 Jahre bei gleichzeitiger Erosion der verbliebenen sozialen Mitte und weiterer Reduktion der abgesicherten Wohlstandsspitze in Deutschland - und mit Abweichungen auch in Europa insgesamt - rechnen. An dieser Spitze wird die Zone der reichen (und, wenig statistisch erfasst,(4) superreichen) Eigentumsprivilegien- und Zinsprofiteure insbesonders im Bereich des spekulativen Kapitals vermutlich neben den intensivierten ökonomischen Vorteilen politisch zu weiteren Refeudalisierungs- und antidemokratischen Paternalisierungstendenzen führen, denen möglicherweise zivilgesellschaftlich immer weniger entgegenzusetzen sein wird, da auch - neben den die betroffenen Individuen für den politischen Widerstand schwächenden Lebensbedingungen - die medialen Kontrollinstanzen in gleicher Weise unter dem autoritären Druck von Eigentumsinteressen und Privilegienperpetuierung, wie bereits vermutet, die weitere Schwächung der öffentlichen Sphäre - hier insbesonders vermittelt über die kostenintensive Television und Telekommunikation -, auch aufgrund der anzunehmenden Prekarisierungstendenzen innerhalb des Journalismus zurückgebildet, entschärft und versagensförmig werden - der medienagitierte "Berlusconismus" hat in der ersten Hälfte der 2000er Jahre in Italien bereits einen Vorgeschmack davon vermittelt: Bonapartismus, Missachtung und Beugung rechtsstaatlicher Prinzipien, Vereinnahmung und Steuerung von Legislative und Exekutive für eigene unternehmerische Privatinteressen, Diskreditierung der Judikative, Medienmonopolisierung und Medienentpluralisierung, schamlose öffentliche Diffamierung politischer Oppositionen, Verharmlosung faschistischer Nationalgeschichte usw.
Zwei biographische Zeugnisse - die Stellungnahme eines britischen Bergarbeiters und einer an der Grenze von Ost- und Westberlin praktizierenden, deutschen Psychiaterin - sollen, damit den ersten Abschnitt abschließend, exemplarisch die sozialen Verschiebungen und deren individuelle psychische und kognitive Verarbeitung beleuchten.
Am 11. April 2006 wurde auf ARTE im Rahmen eines Themenabends zur aktuellen Arbeitsgesellschaft eine Dokumentation von Ted Anspach unter dem euphemistischen Titel "Die Thatcher-Therapie: Yorkshires kleines Wirtschaftswunder", produziert 2005, erstmals ausgestrahlt. Ausgangspunkt war das Dearne Valley in Yorkshire, in dem am 5. März 1984 durch die Schließung der Cortonwood-Zeche der große Bergarbeiterstreik von 1984/85 ausgelöst worden ist, "ein Arbeitskampf", so die Einleitung zu einer tendenziösen inhaltlichen Skizzierung auf der Homepage von ARTE, "der eine echte Wende für die Volkswirtschaft Großbritanniens brachte. Die Dokumentation schildert, auf welche Weise sich eine Gegend wie das vor 20 Jahren so bedrohte Yorkshire zu einer der dynamischsten Regionen Europas entwickeln konnte." ( www.arte.de - 29.5.2006) Wie dynamisch sich die Region entwickelt hat, zeigt sich im Folgenden an einer Aussage eines ehemaligen miner, der nach jahrelanger Arbeitslosigkeit unter widrigsten sozialen Umständen, bei der er (mit seiner Familie) von der Thatcher-Regierung weitgehend allein gelassen worden ist, schlussendlich wieder einen Arbeitsplatz gefunden hat. Auf die Frage, wofür er sich, vor die Alternative "Arbeitslosigkeit oder 12-Stunden-Tag sieben Mal pro Woche" gestellt, entscheiden würde, ohne auch nur einen Moment zu zögern, antwortet: "für die Arbeit". Unmittelbar davor hat er geschildert, dass er faktisch einen Job dieser neuen Kategorie bereits hat.(5)
Ein qualitatives Interview mit der deutschen Psychiaterin Juliane Krämer im Februar 2005 führte zu folgendem Resümee:
"Mit Empörung und Mitleid beschreibt Juliane die typischen Kreisläufe von Arbeitslosigkeit, ABM [= Maßnahme zur Reintegration von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt, RFR], Umschulungsmaßnahmen, Teilnahme an Profilern (vom Arbeitsamt angeordnete Maßnahmen zur Ermittlung des individuellen Kompetenzprofils) und wieder von vorne, die ob ihrer Sinn- und Ergebnislosigkeit den ihnen Unterworfenen nur den Verlust ihrer Würde demonstrieren, ihnen das Gefühl vermitteln, Menschen zweiter Klasse zu sein. Sie führen häufig zu typischen Abwärtskarrieren, die mit Ängsten, Selbstzweifeln und Versagensgefühlen beginnen, über Alkoholmissbrauch zum Zerbrechen der Familie führen und im hoffnungslosen Pendeln zwischen Alkoholgruppen, Krankenhausaufenthalten und einsamem Leben enden - oder im schlimmsten Fall in Selbstmordversuchen." (Schultheis/Schulz 2005: 198)
Schlecht bezahlte "Zwischenjobs" (Verkaufsmärkte, Kurierdienste usw.), Zwölfstundentage, unbezahlte Überstunden, durchgearbeitete Wochenenden, Arbeitszeiten wie im 19. Jahrhundert seien mittlerweile häufig anzutreffen. Insbesonders die zunehmende "Medikalisierung von Arbeitslosigkeit" (Schultheis/Schulz 2005: 198), so Juliane Krämer, sei in ihrem beruflichen Alltag gängige Praxis, die sie gesellschafts- und selbstkritisch, aber resignativ reflektiert.
Als Schlüsselgesetz, die die gerade erwähnten, sich verschärfenden Entwicklungen verstärken, sind in Deutschland in erster Linie die Reformen Hartz IV anzusehen, der letzte Teil der sogenannten Hartz-Reformen, benannt nach dem Manager und Personalvorstand der Volkswagen AG und in Kraft getreten am 1.1.2005, die die Beschleunigung der neuen sozialen Ungleichheit der dauerhaften Schieflage, die allgemein als Prekarität bezeichnet wird, zur Folge haben.(6) Durch diese Reformen, die von Thomas Gesterkamp treffend auch als "Deformen" (zit. n. Schultheis/Schulz 2005: 199) bezeichnet worden sind, haben sich die Armutslagen wesentlich verschärft. So liegen die Unterstützungssätze des Arbeitslosengeldes II, das als Neuerung nach der Zusammenlegung von früherer Arbeitslosen- und Sozialhilfe nach dem Arbeitslosengeld I ausbezahlt wird bzw. weiteren ‚Anspruchsberechtigten’ in sozialen Notlagen zukommen kann, rund 60 Euro unter der festgelegten EU-Armutsgrenze oder, wie Vester zu Recht herausstellt, "niedriger, wenn die Betroffenen ihre Rücklagen aufzehren müssen." (Vester 2005: 29) Hartz IV stürzt nicht nur geschätzte 2 bis 3 Millionen Menschen in Deutschland in die Armut, sondern belastet auch das Bundesbudget um die Hälfte mehr als ursprünglich angenommen worden ist (rund 30 Milliarden anstelle von 20 Milliarden Euro), weil weit mehr sozial Bedürftige in das Versorgungselend katapultiert worden sind.(7) Diese Verelendungstendenz wird begleitet von Vorgängen staatsgesteuerter, kalter Enteignung der Betroffenen (etwa Langzeitarbeitlosen oder aufgrund schwierigster sozialer Situationen temporär chronisch Depressiven oder Suchtkranken), denen auch das oftmals über Jahrzehnte mühselig Ersparte oder Erworbene genommen werden kann.
Wie stellt sich nun die Frage der Prekarität und Prekarisierung im Bereich des Medienfeldes am Beispiel des Journalismus dar? Gibt es Tendenzen zur (möglicherweise liebsamen) Vermehrung der Prekarisierten? Welche Konsequenzen sind für die öffentliche Sphäre zu diagnostizieren?
Für den Raum Österreich weist etwa die Studie "Atypische Beschäftigung - Merkmale und Typen von Prekarität" von 2002 des Institute for Social Research and Analysis (SORA) unter der Projektleitung des Wiener Sozialwissenschafters Peter Fleissner - wie in Deutschland, Frankreich und anderen europäischen Ländern(8) - ganz allgemein eine Zunahme von Formen prekärer atypischer Beschäftigung (Neue Selbstständigkeit, Leiharbeit, Teilzeitarbeit, geringfügig Beschäftigung) aus. Die Ergebnisse der qualitativen Interviews mit atypisch Beschäftigten, darunter auch Beschäftigte im Medienbereich und JournalistInnen, zeigen massiv empfundene und vorhandene Problemlagen in den Bereichen der existenziellen Sicherheit (geringes Einkommen, unkalkulierbare Beschäftigungsstabilität sowie ökonomische Abhängigkeit), der Zeitautonomie (permanenter Zeit- und Leistungsdruck, zeitweise Unterbeschäftigung, Vermischung von Arbeitsplatz und Privatbereich sowie mangelnde Vereinbarkeit von Familie und Beruf), der Möglichkeit der persönlichen Einflussnahme (keine Wahlfreiheit, keine berufliche Perspektive, geringe Karrieremöglichkeiten sowie geringe inhaltliche und organisatorische Autonomie) und der Möglichkeit der kollektiven Einflussnahme (mangelnde betriebliche Mitbestimmungsmöglichkeit und geringe betriebliche Integration, ungenügende Interessenvertretung sowie Desolidarisierung unter den Beschäftigten) (vgl. Fleissner et al. 2002: 41-53)
Außerdem wurden gegenwärtige Armut und zukünftiges Armutsrisiko (z.B. Fehlen existenzsichernder Pension) festgestellt.
Eine allgemeine Tendenz, die auch für den Medienbereich des Journalismus zutrifft, wird in einer Gegenüberstellung zusammengefasst:
"Einerseits ist atypische Beschäftigung wichtig für die Bedürfnisse der ArbeitnehmerInnen und bedeutet arbeitsmarktpolitisch eine Umverteilung des knappen Gutes Erwerbsarbeit auf mehr Menschen, andererseits entsteht dadurch aber das Problem der Flexibilisierung des Arbeitskräfteeinsatzes und somit eine Polarisierung von Erwerbschancen. Das heißt, dass eine Gruppe Erwerbstätiger mit stabilen Beschäftigungsverhältnissen einer wachsenden Gruppe von Erwerbspersonen mit instabilen Beschäftigungskarrieren, gekennzeichnet durch Mehrfacharbeitslosigkeit und Diskontinuitäten, gegenübersteht." (Fleissner et al., 2002: 13)
Dieser Befund deckt sich in einigen Bereichen mit den von Richard Sennett (1998: 113-114) früher genannten drei Arten von Unsicherheiten im flexiblen Kapitalismus: 1. den mehrdeutigen Seitwärtsbewegungen in der Berufskarriere; 2. dem Aushalten retrospektiver Verluste sowie 3. den unvorhersehbaren Einkommensentwicklungen.
Wie im Folgenden zu sehen sein wird, treffen die genannten Problemlagen in besonderem Maße auch für prekarisierte JournalistInnen zu.
Unter der Leitung des Soziologen Alain Accardo, der bereits in Pierre Bourdieus Studie über "Das Elend der Welt" (Bourdieu et al. 1997) mitgearbeitet und dabei einen Journalisten interviewt hatte, wurden von der Gruppe "Sociologie des pratiques journalistiques" an der Universität Metz 1996 im Anschluss an das berühmte Bourdieu-Projekt siebzehn qualitative Interviews mit JournalistInnen, die sich in prekären Lebens- und Arbeitssituationen befanden, durchgeführt. Die Ergebnisse dieser Untersuchung, die im deutschsprachigen Raum bis dato nicht rezipiert wurden, zeigten einen zunehmenden und beschleunigten Prekarisierungsprozess, in dem die Arbeitsbedingungen in den Medienunternehmen mehr und mehr den Marktgesetzen unterworfen werden. Damit gingen zum Teil desaströse Wirkungen sowohl im Bereich der Berufsausübung - und damit der Qualität des Journalismus - als auch im persönlichen Bereich der Betroffenen einher. So zeigen Accardo und seine MitarbeiterInnen, die allesamt zum Erhebungszeitpunkt im Feld des Journalismus, teils in Festanstellungen, teils in unabhängigen, oftmals prekären Positionen, tätig gewesen sind, dass auch im Journalismus Entwicklungen festzustellen sind, die in größerem Maße im tertiären Sektor auftreten und hier vor allem in den Sektoren der Produktion und Verbreitung symbolischer Güter.
Eine Art neues ‚Proletariat’, so die AutorInnen, sei erkennbar, das mit dem Industrieproletariat des 19. Jahrhunderts vergleichbar sei, sich allerdings davon auch stark unterscheide, da seine VertreterInnen als ‚neue Arme’ der Symbolproduktion über Eigenschaften wie kulturelles Kapital, sozialer Hintergrund oder spezifische Dispositionen verfügen, die es ihnen erlauben, sich Illusionen über ihre Lage zu machen. Einerseits sind sie Komplizen der ausbeutenden Zustände, die sie selbst aufrechterhalten, aber andererseits leiden sie natürlich als unglückliche Opfer selbst oftmals extrem darunter.
Außerdem zeigte sich, dass die journalistische Prekarität genau in jenen Mediensektoren auftritt, die am meisten investieren wie etwa im Bereich der Publikums- und Special-Interest-Zeitschriften und des Fernsehens (vgl. Accardo et al. 1998; sowie Balbastre 2000). Die Arbeitsrechte werden auf den Kopf gestellt: Arbeit und Bezahlung auf Honorarbasis ohne Sozialleistungen. Die Arbeitsbedingungen verschärfen sich: Arbeit in der Regel auch an Wochenenden und an Feiertagen, vorauseilende Orientierung an Marktbedingungen, Vermeidung von ökonomisch oder gesellschaftlich sperrigen Themen. Häufig sind Singledasein und Scheidungen in diesem prekarisierten Milieu die Folge. So zeigt etwa die Durchsicht der 17 Kurzbiographien, dass ein größerer Teil der allerdings relativ jungen InterviewpartnerInnen ledig (10 Personen) ist - bei einer Scheidung, fünf Ehen und einer Nichtnennung.
Der prekarisierte Journalist kommt dabei in Frankreich vor allem unter den sogenannten pigistes vor - aber auch unter den JournalistInnen, die immer wieder nur über zeitlich begrenzte Arbeitsverträge [CDD= le contrat à durée déterminée, RFR] verfügen. Gemäß der Definition und Berufsbeschreibung der französischen Journalistengewerkschaft "Syndicat national des journalistes" ist ein/e pigiste jemand, der/die für die einzelne Reportage, den einzelnen Artikel oder das einzelne Foto bezahlt wird. Häufig fallen DebütantInnen oder junge JournalistInnen unter diese Kategorie. Sie gehören weder einer Redaktion noch einem bestimmten Presseorgan an.(9) Der Kategorie der pigistes entspricht etwa im Deutschen die Bezeichnung ‚freie MitarbeiterIn’ im Sinne von free lancer. Es handelt sich also um - euphemistisch gesprochen - unabhängige, frei schwebende JournalistInnen ohne fixe Publikationsmöglichkeiten, die ständig oder häufig auf der Suche nach Aufträgen bzw. Kunden sind, denen sie ihre Arbeiten verkaufen können - gewissermaßen ‚Berufsnomaden’ oder ‚freie Elektronen’ im Dauerstress der Ideen-, Themen-, Auftrags- und Kundenjagd ohne kalkulierbares, fixes Ein- und Auskommen. Dabei müssen die gewählten und angebotenen Themen "répondre à des critères de marché. Et ce qui ne peut pas se vendre ne peut pas se faire." (Balbastre 1999)
Innerhalb eines Zeitraums von fast zwanzig Jahren hat sich in Frankreich der Anteil der freien Mitarbeiter an den Journalisten von 9,6% im Jahre 1980 auf 18% im Jahr 1997 nahezu verdoppelt, wobei, wie in anderen Sektoren der Wirtschaft auch, die Jungen und die Frauen besonders betroffen sind. Außerdem hat sich der Zuwachs von Jahr zu Jahr beschleunigt (vgl. Accardo 1998: 15). Gleichzeitig sind damit die Senkung der Honorare, die Gefährdung der sozialen Absicherung und des grundlegenden Rechts auf Arbeit sowie andere Phänomen wie die Zerstörung familiärer Bindungen verbunden. (vgl. Balbastre 2000)
Anfang 2006 hat Alain Accardo in einem Internet-Interview die weiter zunehmende, kontinuierliche Verschlechterung der sozialen Situation von JournalistInnen seit dem Erscheinen von "Journalistes précaires" festgestellt. Demnach ist in Frankreich die Zahl prekarisierter JournalistInnen, die über einen Presseausweis verfügen, seit 1998 von fünftausend auf über sechstausend gestiegen. Dazu kommt eine unbekannte Anzahl von journalistisch Arbeitenden, die sich mit diversen Arbeitskombinationen im Feld des Journalismus und anderen Felder durchschlagen.
Vergleicht man nun diese Ergebnisse mit der jüngst erschienen Studie über die Arbeitspraxis und die Arbeitsbedingungen österreichischer Print-JournalistInnen, die unter der Leitung des Kommunikationswissenschafters und Medientheoretikers Stefan Weber erstellt worden ist, so sind ähnliche Ergebnisse feststellbar. Weber ortet drei aktuelle Tendenzen, die er als "Feminisierung, Akademisierung, Flexibilisierung" (Weber 2006: 88) bezeichnet. Neben der Zunahme des Frauenanteils und der AkademikerInnenquote (vgl. Weber 2006: 88-92) wird die zunehmende Flexibilisierung besonders herausgestrichen.
"Zwar verfügt die Mehrheit der Journalisten noch über eine Anstellung (62,2 Prozent), doch sind freie und flexible Dienstverhältnisse sichtbar auf dem Vormarsch: Je knapp ein Fünftel der Printjournalisten sind Werkverträgler oder verfügen über einen freien Dienstvertrag - die nicht Angestellten machen somit fast schon 40 Prozent aus." (Weber 2006: 93)
Weber schließt an diese Daten, die sich verstärkende Tendenzen zeigen, die spekulativ These an, dass "jene Journalisten, die über keine Position in der Redaktionshierarchie verfügen (rund 21 Prozent), großteils die Werkverträgler sind (rund 19 Prozent)", was bedeuten würde. "dass sich unter den Redakteuren (und sogar unter den redaktionell noch höher Gestellten?) nicht wenige befinden, die einen freien Dienstvertrag haben. Redakteur und Anstellung ist auf alle nicht mehr unbedingt gleichzusetzen." (Weber 2006: 93-94)
Weiters ergab die Studie, dass der zunehmende Verlust an journalistischer Autonomie unter dem steigenden Außendruck von Wirtschaft und Politik seitens der JournalistInnen beklagt wurde. So wurde eine Zunahme des Einflusses der Werbewirtschaft, allerdings als Ergebnis einer unpräzisen, zu allgemeinen Fragestellung, festgestellt. Dem Satz "Die Werbewirtschaft diktiert immer deutlicher die Spielregeln des Journalismus" stimmten 40 Prozent zu. 1998 waren es - bei divergierender Erhebungsmethode - lediglich 34,5 Prozent. Konflikte zwischen Redaktion und Anzeigenabteilung haben allerdings nicht zugenommen.
Weiters wurde die Zunahme des Arbeitsstresses (durch Internet, E-Mail-Kommunikation), der Informationsflut (91,9) und von Zeitdruck (75,2) sowie dadurch die Tendenz zur Übernahme von unbearbeiteten Textpassagen (Copy/Paste-Journalismus) erhoben, wobei allerdings dabei ein Unterschied bei der Verwertung von Informationen aus PR-Agenturen und Presseagenturen gemacht wird. Erstere werden mit größter Vorsicht bewertet, letztere in üblicher Form redigiert.
Webers Studie bestätigt, wie gesehen, noch einen weiteren Trend: die Arbeitsverhältnisse werden immer "flexibler", sprich die Zahl der Angestellten sinkt, Werkvertrag oder freier Dienstvertrag sind immer mehr im Kommen - 38 Prozent der Befragten zählten sich diesen Gruppen zu. Die so genannten Freien sind laut Studie auch deutlich unzufriedener, was ihre Rechte und ihre Bezahlung anbelangt. Dabei brachte die Printstudie im Vergleich zur Gesamtsituation sogar noch geschönte Resultate, sind doch die Arbeitsverhältnisse am Privatrundfunk- und im Onlinesektor noch wesentlich prekärer. (vgl. Weber 2006: 91-93)
Der Frauenanteil im Printjournalismus ist mit 40 Prozent so hoch wie noch nie. Bei Neueinsteigern in den journalistischen Beruf (Menschen mit weniger als fünf Jahren Berufserfahrung) liegt der Frauenanteil bereits bei 58 Prozent. Auch der Anteil der Studienabsolventen steigt: Schon 47 Prozent der österreichischen Printjournalisten sind Akademikerinnen und Akademiker. (vgl. Weber 2006: 88-90)
Ob durch die Feminisierung und Akademisierung eher eine Abwertung des journalistischen Berufes vorliegt denn eine Aufwertung, ist nicht sicher, aber wahrscheinlicher als das Gegenteil. Die Zukunft wird dies wohl zeigen.
Die gesellschaftlich allgemein auftretenden Prekarisierungstendenzen und ihre Beschleunigung lassen sich auch im Feld des Journalismus anhand der genannten Entwicklungen in Frankreich und Österreich belegen. Dies führt zu erheblichen Konsequenzen für die journalistische Arbeit wie Selbstausbeutung, vorauseilender Anpassung an gängige Themen, alleiniger Orientierung am Sensationalismus und Ereignishaften oder unzulänglicher Qualitätssicherung durch Vernachlässigung der Recherche und Quellenprüfung. Eine erhebliche Qualitätseinbusse innerhalb des journalistischen Feldes kann auf der Basis der Stellungnahmen der prekarisierten JournalistInnen am Beispiel Frankreichs bereits um das Jahr 2000 diagnostiziert werden (vgl. u.a. abschließend Abou 1998; Accardo 1998a; Balbastre 1998 und 2000; Bourdieu 1997, 1998a und 1998b). Die seitdem nochmals verstärkte Ausrichtung an puren Marktkriterien, die zu weiterem Außendruck und erheblichen Mehrbelastungen führt, zeitigt gerade bei prekarisierten JournalistInnen die deutlichsten Auswirkungen auf ihre Arbeit in der erwähnten Form und beeinträchtigt damit massiv die Möglichkeiten für einen demokratisch-aufgeklärten, medialen öffentlichen Diskurs.
© Robert F. Riesinger (Graz)
ANMERKUNGEN
(1) Adorno, Theodor W. (2006): Aufarbeitung der Vergangenheit. Originalaufnahmen aus den Jahren 1955-1969. Berlin.
(2) Zur Herkunft und Kritik am Begriff des Humankapitals siehe Altvater (2005).
(3) "Die Zumutungen liegen für viele in der Veränderung ihrer Lebensweise insgesamt. Der ökonomische Lebensstandard sinkt ‚nur’ relativ ab, aber um den Preis und im Kontext ungewohnter Zumutungen an Belastung und Streß, Unsicherheit und Zukunftssorgen, Fremdbestimmung und autoritärer Bevormundung. [...] Auch wenn diese Lebensweise ein soziales Absinken verhindert, wird sie viel eher als Hamsterrad denn als Hängematte erfahren." (Vester et al. 2001: 90)
(4) Auf die mangelhafte oder fehlende Erfassung der Superreichen (ca. 0,25% bis 0,75%, also unter 1%, der Bevölkerungen in den reichen Industrienationen) in den Statistiken als Verschleierungsstrategie weist H.J. Krysmanski (2001: 134-135) hin. Diese Lücke in der Statistik, extremster Ausdruck vieler statistischer Lücken, ist das machtpolitische Pendant zum realen Einfluss der ‚Unsichtbaren’. Krysmanski: "Milliardäre bestimmen - mittels eines Geflechts von Stiftungen und Organisationen und durch die Informationsindustrie - das Bildungswesen ganzer Länder, ihnen gehören Privatuniversitäten, große Teile des Gesundheitswesen, die wichtigsten Zeitungs-, Fernseh- und Filmkonzerne. Sie verfügen über Privatarmeen. Wissenschaftliche Berater, Kunst- und Kulturstrategen, Politiker werden ohne große Umstände ‚eingekauft’. Ein amerikanischer Präsident ist wahrscheinlich billiger zu haben als eine ordentliche 70-Meter-Luxusmotoryacht." (2001: 139).
(5) Die ganze Dokumentation ist ein einziger Jubelfilm auf den Thatcherismus mit dem Fazit: die wirtschaftliche Kur musste sein, erzwungen durch die Globalisierung; das Wirtschaftswunder in Yorkshire war die Folge. Kein Ton fand sich in diesem erbärmlichen Machwerk über die Zerstörung der Mindeststandards in den Arbeits- und Sozialbedingungen wie Acht-Stunden-Tag, garantierter freier Tag oder Sonntag etc. Hier finden sich medial in einem temporär ethisch verwüsteten "Kultur"sender postfeudale, an das aktuelle China gemahnende, neoliberal-kapitalistische Verhältnisse ideologisch affirmiert eingezogen. Der Rückfall in Arbeitsverhältnisse des 19.Jahrhunderts oder - gar schlimmer, wenn das Recht auf den freien Sonntag nicht einmal mehr Erwähnung findet - wird offenbar als naturgesetzliche Bewegung (oder göttlicher Wille) hin- und dargestellt. Wenn dies die positive Utopie aus Herrschaftsperspektive ist, wird aus Untertanenperspektive mit einer radikaleren Zweiten Aufklärung geantwortet werden (müssen).
(6) Peter Hartz trat im Übrigen im Zuge einer Korruptionsäffäre, in der Mitglieder des Betriebsrats durch finanzielle Zuwendungen, Luxusreisen und Dienstleistungen von Prostituierten bestochen wurden, wegen des Verdachts der Untreue im Juli 2005 zurück.
(7) Nach einem Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 23.5.2006 (S. 6) lagen nach dem jüngsten Monatsbericht des Finanzministeriums die Ausgaben für das Arbeitslosengeld II "in diesem Jahr bis April mit 9,2 Milliarden Euro etwa 1,2 Milliarden Euro höher als 2005. Hochgerechnet auf das Gesamtjahr würde Hartz IV drei Millionen Euro teurer als veranschlagt." Womit die 2005 genannten Zahlen weitgehend bestätigt sind. Allerdings wurde der Voranschlag jahresbezogen um rund 4 Milliarden Euro nach oben korrigiert.
(8) Siehe dazu die angegebene Literatur am Ende des vorliegenden Textes.
(9) Vgl. http://www.cidj.com/Viewdoc.aspx?docid=454&catid=1 - 7.6.06
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