Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 16. Nr. | August 2006 | |
2.1. WIEDERHOLUNG ALS ERNEUERUNG: Innovationsstrategien der Wiederholung in der Gegenwartsliteratur |
Zur poetischen Produktivmachung kultureller Tradition in Max Goldts "Tagebuch-Buch" "Wenn man einen weißen Anzug anhat"
Volker Mergenthaler (Universität Tübingen)
[BIO]
Als am 13. September 2002 "das neue Buch von Max Goldt"(1) erschien, konnten Interessierte (übrigens bereits am selben Tag)(2) hermeneutische und kulturkritische Orientierungshilfe in den einschlägigen Feuilletons in Anspruch nehmen.
Wer zu diesem Zweck auf die in der "Neuen Zürcher Zeitung" abgedruckte Kurzkritik von Wolfgang Schneider zurückgegriffen hat, sah sich allerdings gewarnt, denn Schneider (und diese Warnung blieb kein Einzelfall) registrierte "mit einer gewissen Betroffenheit, daß im neuen Buch nicht alles glänzt, was Goldt ist".(3) Max Goldt habe sich damit, so Elmar Krekeler in der "Welt", "zum wahren Dichter" "entwickel[n]" wollen.(4)
Verantwortlich für diesen mutmaßlich mißglückten Versuch der "Selbstvergoldung",(5) für die (auf die Integration in die "heiligen Hallen der Hochkultur"(6) zielende) Willensbildung des empirischen Autors macht Krekeler eine "verlegerische Fehlleistung",(7) als deren Resultat und Zeugnis das "Tagebuch-Buch" anzusprechen sei.
Goldt habe nämlich "auf Geheiß oder Vorschlag seines neuen Verlegers Alexander Fest Tagebuch"(8) geführt und daraus "Wenn man einen weißen Anzug anhat" hervorgehen lassen. Daß Fest "ihn vom Kolumnieren" habe "abbringen" wollen,(9) wird allem Anschein nach aus dem "Tagebuch-Buch" selbst abgeleitet. Darin heißt es nämlich gleich zu Beginn:
Eines Tages besuchte mich mein neuer Verleger in meiner alten Wohnung und erwähnte, daß ihm die tagebuchartigen Texte in meinem letzten Buch so gut gefallen hätten, daß er mir vorschlagen möchte, etwas Ähnliches über einen längeren Zeitraum zu versuchen.
"Warum?" fragte ich.
"Weil das eine andere Form ist.
"Was soll denn an der Form anders sein? Ist der Unterschied der, daß man über die Texte anstelle eines Titels ein Datum schreibt?"
"Nicht nur das. Die Tagebuchform würde Ihnen ermöglichen, die einzelnen Texte, mehr als sie es bisher getan haben, miteinander zu verknüpfen."
"Sind meine bisherigen Texte nicht ausreichend durch den Umstand verknüpft gewesen, daß sie alle vom gleichen Autor geschrieben wurden? Außerdem gab es noch Themen und Topoi, die immer wiederkehrten. Erinnern Sie sich nicht an das 'kaltgewordene' Würstchenheißmachwasser?"
"Nein, daran erinnere ich mich nicht. Versuchen sie doch einfach, meinen Vorschlag anzunehmen."
Ab Juli 2001 versuchte ich, aber mir gefielen meine Versuche nicht. Ich brach das Tagebuchvorhaben ab, Nur ein einziger Eintrag aus dieser Zeit schien mir vollkommen einleuchtend und notwendig zu sein: [...].
Nach einigen Wochen schrieb ich doch etwas Tagbuchartiges und fragte meinen neuen Verleger, ob wir uns noch mal treffen könnten.
"Mit ihrem Vorschlag", sagte ich zu ihm, "kann ich mich inzwischen anfreunden. Ich möchte aber nicht jeden Tag aufschreiben, wann ich aufgestanden bin, was ich gegessen und wen ich getroffen habe."
"Die Tagbuchform erlaubt enthaltsame Passagen beliebiger Länge."
"Ich würde in dem Buch aber auch ganz gern ein, zwei Texte vom Anfang des Jahres unterbringen, weil die sonst vermodern würden."
"Ein Tagebuch erlaubt formale Mogeleien sämtlicher Art. Es ist die freieste literarische Form, die es gibt."
"Dann haben Sie meine Zusage." (9-11)(10)
Krekeler nimmt die Meta-Rede des Schreibers für bare Münze, bewertet sie als intime Auskunft des empirischen Autors über die Impulse und Rahmenbedingungen seiner Textproduktion, und leitet aus der Entscheidung des fingierten Schreibers, sich an der "literarische[n] Form" des "Tagebuch[s]" (11) versuchen zu wollen, das Bekenntnis des Autors ab, er habe sich auf diese Weise, wenn auch nicht mit dem gewünschten Erfolg, "zum wahren Dichter" promovieren wollen.(11)
Wie Krekeler stößt auch Volker Weidermann im "neue[n] Buch" auf (die "Lesefreude" trübende) Spuren eines neuerdings "sich [...] selbstmusealisierenden", "selbstbegeisterten Dichter[s]", und wie Krekeler verfolgt er diese Spuren bedenkenlos vom fiktiven Schreiber zum Autor, der sich neuerdings: "selbst für einen Großschriftsteller [hält], einen Klassiker, eine Art Präsident unter den Dichtern. So scheint es zumindest, wenn man sein neues Buch liest: Das Tagebuch-Buch 'Wenn man einen weißen Anzug anhat'".(12)
In die "heiligen Hallen der Hochkultur",(13) in die Reihe der Klassiker, so das Credo der Kritik, gelangt man eben nicht, indem man sich selbst (in den eigenen dichterischen Hervorbringungen zumal) "als geachtete Schriftstellerpersönlichkeit" (93)(14) bezeichnet, sondern (und gegen diesen Standpunkt ist nichts einzuwenden) indem man Texte schreibt, die eine Beförderung in den Kanon mit poetischer Qualität rechtfertigen. In den erlauchten Kreis solcher Texte aufgenommen zu werden, verdiene Max Goldts "Wenn man einen weißen Anzug anhat" jedoch nicht. Gegen diesen Standpunkt ist, wie ich meine, allerdings etwas einzuwenden.
Mir geht es aber im folgenden nicht (oder zumindest nicht vorrangig) darum, eine Lanze für die Kanonisierung des "Tagebuch-Buchs" zu brechen, ich möchte vielmehr deutlich machen, daß die Beurteilung des Textes in den Feuilletons als Effekt einer (vielleicht zeittypischen) Textstrategie entziffert werden kann, in deren Zentrum der Umgang mit Klassikern steht.
Genau dies übrigens, der ostentative Bezug auf den Literaturkanon, stellt ein überaus probates Verfahren dar, die fremde Kanonizität zu festigen oder zu erschüttern und (im selben Handstreich) die eigene zu begründen oder auszubauen - im intertextuellen Modus der Nachfolge oder der Überbietung.
Max Goldts "Wenn man einen weißen Anzug anhat" zeigt an dieser Strategie der "Selbstvergoldung" aber, wie es scheint, nur geringes Interesse. Aus dem Bereich der Literatur werden zwar "Stifters 'Nachsommer'" (24), "Snorri Sturluson" und "Eugenie Marlitt" (25), genannt, ferner "Ernst Jünger[s] [...] Kriegstagebuch 'Strahlungen'" (32), "Eckard Henscheid" (40), die "Harry-Potter-Bücher" (94), "Charles Bukowski" (60, 70-71), "der 'Kollege Stuckrad-Barre'" (86), "das Geburtshaus von Robert Musil" (106), die "Gruppe 47" (109), "Lou Andreas-Salomé", "Alma Werfel-Mahler" (112), "Max Frischs berühmte[r] Fragebogen" (120), "'Stufen' von Hermann Hesse", "'Die Todesfuge' von Paul Celan" und "'Die Made' von Heinz Erhard" (127).
Zumeist bleibt es aber bei der bloßen Erwähnung des Autors oder Textes, was das Entstehen des Eindrucks fördert, das "Tagebuch-Buch" sei nicht in Tuchfühlung mit dem literarischen Kanon entstanden und nicht für die "heiligen Hallen der Hochkultur"(15) konzipiert worden, sondern dem kurzlebigen "Pop-Tralala"(16) (so "Der Spiegel") zuzurechnen, einem 'Label' mithin, für das das Nennen von Namen bekanntlich geradezu konstitutiv ist.(17)
'Klassiker' vom Schlage Stifters, Musils, Frischs oder Celans rangierten demnach auf derselben operativen Ebene wie Prominente und Prominentes aus Politik, Unterhaltungskultur und Warenwelt. Im Spiel sind (ich zitiere in Auswahl): "Uschi Glas" (17-18), "Die Prinzen" (58), "Mireille Mathieu" (87), "Marc Bolan" (57), "Björk" (85), "Hermes Phettberg" (105), "Paul Kuhn" (110), "André Rieu" (116), die deutschen Bundespräsidenten und -kanzler, (96-104), die Zeitschriften "'Chefbüro', [...] 'Cosmopolitan', 'Modern Living' und d[as] Schweizer Zigarrenmagazin 'Cigar'" (91), "Asterix und Obelix" (92), "Harley" Davidson (129) und "Landliebe" (115).
"Wenn man einen weißen Anzug anhat" wäre demnach von Harald Fricke durchaus treffend charakterisiert als "Buch [...] auf Augenhöhe mit den täglichen Banalitäten", als "prima Bettlektüre".(18)
Vor einer solchen Rubrizierung wird man allerdings gewarnt, und zwar bereits in der vierten von insgesamt 62 Tagebucheintragungen: "Mein neuer Verleger", so heißt es dort, "hat mich gebeten, ein Romanmanuskript zu lesen, damit er ein lobendes Zitat von mir auf den Buchrücken drucken kann. Da ich den Verleger nett finde und mit dem Autor befreundet bin, kann ich diesen Dienst nicht verweigern" (23). Der Schreiber verfährt, wie er wissen läßt, "sehr gnädig mit dem Buch" und setzt
den Korrekturstift sparsam ein. Einmal aber sehr energisch. Die Sätze 'Dunkelbraune, etwas hochstehende Augen gucken Nicole mit zurückhaltender Ungeduld an, das Weiß schimmert wie eben gespültes Porzellan. Auf den sonst frischen Wangen steht noch die Blässe aus dem Halbschlaf' streiche ich mit autoritärer Frische durch und schreibe an den Rand 'Triviale Beschreibungsroutine! Marlitt!' Und da ich nicht sicher bin, ob mein Freund Eugenie Marlitt, die talentvolle Autorin zaghaft frauenemanzipatorischer Gesellschaftsromane des 19. Jahrhunderts überhaupt kennt, schreibe ich noch dazu: 'Guck im Lexikon nach, wer das ist.' (25)
Die scheinbar beiläufigen Auskünfte über die "im Zug" (23) verrichtete Lektorentätigkeit lassen sich nicht nur im Hinblick auf ihren Informationsgehalt lesen, sie sind, wie ich zeigen will, zudem als Lektüreanweisung entzifferbar - als Anweisung, deren Ziel darin besteht, den Leser eines bloßen Namens nötigenfalls mit dem Wissen auszustatten, ohne das die Integration der jeweiligen Autornamen in das "Tagebuch-Buch" unverständlich bliebe.(19)
Wer nämlich mit den genannten Namen nichts anzufangen weiß, vermag das intertextuell eingespeiste Wissen nicht zu aktivieren und folglich auch nicht in eine hermeneutisch möglicherweise ergiebige Verbindung zum "Tagebuch-Buch" zu bringen. Daher werden diejenigen, die mit dem literarischen Diskurs nicht ausreichend vertraut sind, ermutigt, ihr Defizit auszugleichen und die aufgeführten Lemmata zum Vorteil einer komplexeren, die "Lesefreude"(20) vergrößernden Lektüre im Lexikon nachzuschlagen.
"Wenn man einen weißen Anzug anhat" stellt sich damit nicht nur auf unterschiedliche Rezipienten ein, auf literarisch gut unterrichtete und auf weniger beschlagene; das "Tagebuch-Buch" gibt zugleich zu erkennen, daß es auf zwei Ebenen lesbar ist, zum einen "auf Augenhöhe mit den täglichen Banalitäten", als "prima Bettlektüre",(21) zum andern aber als Text, der Einlaß zu fordern sucht in die "heiligen Hallen der Hochkultur".(22)
Zu den Gegenständen, an deren Bearbeitung das "Tagebuch-Buch" sich poetisch hätte auszeichnen können, gehören die gegen die Vereinigten Staaten gerichteten Terroranschläge, die in den vom Tagebuch erfaßten Zeitraum fallen. Allerdings meint Jörg Plath im "Tagesspiegel", daß es "ein Jahr danach" "für anspruchsvolle Romane" noch "zu früh" sei.(23) "Und nun?", fragt Barbara Oetter, "was tut ein Ereignisverächter" wie Goldt, wenn er mit dem "11. September 2001"(24) konfrontiert wird?
Das "Tagebuch-Buch", so der Tenor der Kritik, zeige dem "Datumsvulkan",(25) dem "heavy Datum"(26) die kalte Schulter. Nach einem nur wenige Seiten umfassenden Streifzug durch die Abgründe der Berichterstattung über die Ereignisse widme sich "Wenn man einen weißen Anzug anhat" wieder "alltagsbanalen Beobachtungen",(27) "das Komische" gewinne "relativ schnell wieder [...] die Oberhand".(28) "Vor den terroristischen Zumutungen", so faßt es Walter van Rossum in der "Zeit", "hat Max Goldt das Weite gesucht", um sich ungehindert den "Gänseblümchen" der Alltagskultur widmen zu können.(29)
Daß Goldt sich "dünn machen" wollte "aus der fackelnden Weltgeschichte",(30) gewinnt an Plausibilität, sobald man in Rechnung stellt, daß lediglich elf von 159 Seiten auf die Terrorakte bezogen sind.(31) "Viel mehr Aufhebens", ich zitiere Fricke, "macht Goldt nicht um den 11. September",(32) und trotz einer Neigung zu "Selbstbezüglichkeiten"(33) wird diese Entscheidung, wie es den Anschein hat, kommentarlos getroffen.
Fast hundert Seiten später stößt man allerdings auf eine Eintragung, die vor diesem Hintergrund an der "Beiläufigkeit"(34) der Nine-Eleven-Abstinenz zweifeln läßt - eine Eintragung, die Kontakt aufnimmt mit dem literarischen Diskurs, genauer: mit den "heiligen Hallen der Hochkultur".(35) Während der Tagebuch-"Max Goldt" Umzugskisten packt, hört er eine CD: "Die Lieblingsgedichte der Deutschen" (127) und kommentiert:
Das beliebteste Gedicht der Deutschen ist 'Stufen' von Hermann Hesse. Das kannte ich gar nicht, doch es ist ordentlich. Auf Platz 19 steht die 'Todesfuge' von Paul Celan, auf Platz 34 'Die Made' von Heinz Erhardt. Was hätten die CD-Compiler getan, wenn 'Die Made' im Hörer-Votum direkt nach 'Die Todesfuge' gekommen wäre? Hätten sie die authentische Reihenfolge respektiert oder irgendwie geschummelt, um dem harten Bruch in der Stimmung auszuweichen? (127)
Da keines der genannten Gedichte in die Eintragung mit aufgenommen wird, läßt sich freilich nur dann nachvollziehen, warum es zu einem "harten Bruch in der Stimmung" kommen könnte, wenn man die Gedichte kennt oder bereit ist, der am Fall "Marlitt" entwickelten intertextuellen Gebrauchsanweisung zu folgen und nachzulesen. Ein wenig wird man von dieser Aufgabe entbunden, da man über einen der Dichter, über Paul Celan, im Anschluß etwas mehr erfährt:
Die Gedichte von Paul Celan habe ich mit ca. vierzehn beim Stöbern in der Stadtbücherei entdeckt und fand sie sofort wunderbar. [...] Ich kannte den Hintergrund der Celan-Texte nicht, und so las ich sie 'oberflächlich', ganz dem schönen Schimmer ergeben; also genau so, wie ich mich zum Beispiel an den Songtexten von Marc Bolan erfreute. [...]
Später erzählte mir ein Lehrer, daß Paul Celan seine Gedichte geschrieben habe, um seine Erfahrungen im Konzentrationslager zu verarbeiten. Diese Information verleidete mir die schönen Texte vorübergehend. Gewiß war mir aufgefallen, daß in ihnen häufig vom Tod die Rede ist, aber es gab ja schon Black Sabbath und andere düstere Musik, und den Tod, der ein Meister aus Deutschland war, hatte ich mir als eine Art Heavy-Metal-Skelett vorgestellt, das auf einer Harley durch die Nacht braust. Vom Lehrer aufgeklärt, empfand ich es nun als unpassend, Freude an Gedichten zu haben, hinter denen leidvolles Erleben steht. Wie konnte ich mich nur an deren Sprache aufgeilen? Ich sah in mir einen unwürdigen Leser und legte den Celan beiseite. Etwas später dachte ich: Hätte er nicht auch ohne seine grauenvolle Erfahrung so gute Gedichte geschrieben? (128-129)
Mit dieser privaten Rezeptionsgeschichte kommt ein etho-poetologisches Problemfeld ins Spiel, das für das "Tagebuch-Buch" von geradezu herausragender Bedeutung ist. Aufgeworfen ist nämlich die Frage nach der Legitimität von "Kunst", "hinter" der "leidvolles Erleben steht". In der Nachbarschaft von Hermann Hesse und Heinz Erhart, im Bezug auf die Ikonen der "Heavy-Metal"- und Jugendkultur der 1970er Jahre: Marc Bolan, Black Sabbath und Harley Davidson, vor allem aber im Kraftfeld der liebevoll ironisierenden Selbstcharakterisierung des Sprechers als vierzehnjähriger Leser, plaziert in diesem Milieu also, scheint der Problemkomplex allerdings eher zum launigen Konsum einzuladen und nicht unbedingt zur etho-poetischen Reflexion.
Nimmt man allerdings die auf die Erwähnung Marlitts gemünzte, zur Konsultation eines Lexikons ratende Randbemerkung eben so Ernst wie den Hinweis auf die Differenz von "oberflächlich[er]" (128) und tiefergreifender Lektüre und schlägt nach, so man es nicht weiß, wer Celan, wer der Verfasser der beiden im "Tagebuch-Buch" erwähnten Gedichte "Die Todesfuge" und "Sand aus den Urnen" ist, so gerät man (weit jenseits vom "Pop-Tralala") auf die Spuren einer der wichtigsten intellektuellen Auseinandersetzungen nach und seit Kriegsende, zu deren Protagonisten Paul Celan und Theodor Adorno gehören.
Zu den wirkungsmächtigen Beiträgen dieser Debatte auf dem Feld der Ästhetik gehört Adornos 1949 erschienener Essay "Kulturkritik und Gesellschaft", worin es am Ende - vielzitiert - heißt: "nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch".(36) Für den Essay leitend ist die Überzeugung, daß Gedichte nicht kulturkritisch sein können, weil sie eine Sprache affirmieren, die eigentlich - ebenso wie die Ordnung, der sie Halt gibt (und gab) - Gegenstand eben dieser Kritik sein sollte.
Und diese Sprache heißt barbarisch deshalb, weil sie in das totalitäre Gefüge des NS-Regimes verstrickt war, die Sprache der Täter und daher ungeeignet ist, einen kritischen Standpunkt einzunehmen, solange sie, und sei es nur oder vor allem in der Form, bei sich selbst bleibt.
Bekanntlich war Adornos Diktum nicht das letzte Wort in der Sache. Den Abschluß eines Jahre währenden Dialogs zwischen ihm und Celan bildet die Revision der Äußerung von 1949 in der "Negativen Dialektik": "Das perennierende Leiden", so heißt es dort, "hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben".(37)
"Leidvolles Erleben" auf der einen, Produktion und Rezeption von "Kunst" auf der anderen Seite, werden in "Wenn man einen weißen Anzug anhat" zwar nicht am Fall 'Auschwitz' erörtert, sehr wohl aber, wie ich meine, an einem anderen 'Fall', am 'Fall' der (übrigens am Geburtstag Adornos) gegen die Vereinigten Staaten gerichteten Terrorakte.
Unterzieht man die Tagebuch-Eintragungen aus dem September 2001 nun, nötigenfalls gewitzigt durch den Blick in das Lexikon, einer neuerlichen Lektüre, so verführen sie vor diesem Hintergrund zur Neuformulierung des anhand der Celan-Rezeption aufgeworfenen Problemkomplexes: Zur Debatte, so könnte man zunächst meinen, stünde nun, selbstreferentiell, inwiefern dem "Tagebuch-Buch" die ethische Legitimität zukommt, "leidvolles Erleben" in "Kunst", in einen literarischen Text zu überführen, an dem seine Leser "Freude" haben, ja "sich aufgeilen" könnten.
Dieser Transfer führte allerdings, wie ich meine, in die Irre, denn das Sprecher-Ich des "Tagebuch-Buchs" artikuliert sich im Unterschied zu Paul Celan weder als Opfer noch in der Sprache der Täter.
Gleichwohl zeigt die Celan-Adorno-Reminiszenz im "Tagebuch-Buch" Wirkung, und zwar genau dann, wenn man sie umakzentuiert, wenn man sie nicht produktions-, sondern rezeptionsästhetisch auszuloten versucht und nicht Celan, sondern Adorno als Fluchtpunkt bestimmt. Nicht als Dichtung faßt sich das "Tagebuch-Buch" demnach, sondern als (allerdings mit poetischen Mitteln sich artikulierende) Kulturkritik.
Unmerklich ist damit das das "Tagebuch-Buch" grundierende Nachdenken über richtiges Verhalten, vor allem aber über angemessenes Sprechen, sein Benimmbuch-Charakter, eine Verbindung eingegangen mit dem vermeintlich so stiefmütterlich behandelten Problemkomplex 'Nine-Eleven'. Als "Knigge für unsere Zeit"(38) reguliert "Wenn man einen weißen Anzug anhat" eben auch den Umgang mit den Terroranschlägen. Nicht nur "Was man nicht sagt" (52) kommt zur Sprache, sondern auch, wie Literatur sich dem zu Verschweigenden gegenüber zu verhalten hat.
Im Horizont der Adorno-Anspielung gilt es dabei eine wichtige Akzentverschiebung vom "Was" zum "Wer" zu beachten: Über 'Nine Eleven' zu sprechen, ist als Sache der "Gemarterten", nicht des "Tagebuch-Buch"-Schreibers bestimmt. "Schweigen und Schreien" (26), der Titel der Eintragung vom 13.9.2001, benennt das Oppositionspaar von Adorno aufgreifend die angemessenen Modi auch der literarischen Auseinandersetzung mit den Terrorakten: "Schreien" bleibt den Opfern vorbehalten.
Das "Leiden" des "Tagebuch-Buch"-Schreibers entzündet sich konsequenterweise nicht an den schrecklichen Ereignissen,(39) sondern daran, wie über sie kommuniziert wird:
Eine erste Ernüchterung trat ein, als Angela Merkel im Studio erschien. Mein Gott, warum interviewen sie die denn jetzt? Angela Merkel sagte das, was Angela Merkel halt zu sagen pflegt, wenn Terroristen in Hochhäuser hineinfliegen, und dann kam auch noch Edmund Stoiber, und ich glaube, er war es, von dem ich zuerst den Satz hörte, nun sei nichts mehr wie zuvor.
Nach Edmund Stoiber stellte ich den Fernseher aus. (21)
Nach nur wenige Seiten umfassenden Aufzeichnungen den 11. September auszublenden, kennzeichnet das "Tagebuch-Buch" demnach als Frage des Anstands.(40) Und es gibt eine im Rekurs auf einen Klassiker der Nachkriegsmoderne profilierte, etho-poetisch stichhaltige Begründung dafür - eine Begründung, die allerdings nur denjenigen sich erschließt, die nicht nur "oberflächlich" (128) lesen, sondern den hermeneutischen Imperativ "Guck im Lexikon nach, wer das ist", beim Wort nehmen und das erforderliche Wissen entweder aus dem eigenen Fundus oder aber aus den entsprechenden Nachschlagewerken schöpfen.
Max Goldt und sein "Tagebuch-Buch" haben, wie ich meine, die der gegenwärtigen Literaturproduktion auferlegten Bedingungen(41) sehr genau im Blick - Bedingungen, die auch (und nicht zuletzt) den spannungsreichen Bezug der Literatur zur Tradition auf der einen und zur Gegenwartskultur auf der anderen Seite berühren.
Am Umgang mit den "täglichen Banalitäten"(42) auf der einen, mit der "Hochkultur"(43) auf der anderen Seite zeige es sich nämlich, ob man es mit spröder "Stipendiatenprosa",(44) mit "im schlechten Sinne abstrakt[en]" Texten zu tun hat oder mit Literatur, die keine Scheu "vor allzu expliziten Zeitbezügen" zeigt und dennoch - im Rekurs auf die Tradition - einen "Veredelungsprozess"(45) durchläuft.
"Wenn man einen weißem Anzug anhat" (und das mag den Erfolg des Textes am Buchmarkt erklären)(46) bedient beide Forderungen zugleich. Das "Tagebuch-Buch" ist "experimentell" und "traditionell",(47) steht im besten Einvernehmen "mit den trivialen, anrüchigen und flüchtigen Gegebenheiten des profan Gegenwärtigen" und ist "abstrakt",(48) ist "Pop-Tralala" und hat (wenn man weiß oder im "Lexikon" nachschlägt, was in den Reminiszenzen auf die literarische Tradition anklingt) das Zeug zum "Klassiker".(49)
© Volker Mergenthaler (Universität Tübingen)
ANMERKUNGEN
(1) Florian Illies: Auf weisen Sohlen und hohen Absätzen. Klofußumpuschelungsfluch: Max Goldt schreibt ein seltsames Tagebuch. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 233, 8.10.2002, S. 7.
(2) Die erste Besprechung erschien noch vor dem Buch selbst: Ijoma Mangold: Nichts ist provinzieller als das betont Legere. Das aktuelle Benimmbuch: Heute erscheint Max Goldts "Wenn man einen weißen Anzug anhat". In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 212, 13.9.2002, S. 16.
(3) Wolfgang Schneider: In der selbstreflexiven Endlosschleife. Eine "Tagebuch-Buch" von Max Goldt. In: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 279, 30.11./1.12.2002, S. 35.
(4) Elmar Krekeler: Da plustert sich einer noch mal richtig auf. In: Die Welt, Nr. 302, 28.12.2002, S. 4.
(5) Volker Weidermann: Der Präsidentendichter. Max Goldt feiert sich in seinem neuen Buch selbst. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 37, 15.9.2002, S. 24.
(6) Ulrich Rüdenauer: Ornament und Versprechen. Max Goldts Tagebuch "Wenn man einen weißen Anzug anhat". In: Der Tagesspiegel, Nr. 17908, 9.10.2002, S. 31. Zum selben Ergebnis kommt auf der Basis desselben Interviews Weidermann (Anm. 5).
(7) Krekeler (Anm. 4).
(8) Krekeler (Anm. 4). So auch Illies (Anm. 1).
(9) Krekeler (Anm. 4).
(10) Max Goldt: Wenn man einen weißen Anzug anhat. Ein Tagebuch-Buch. Reinbek 2002. Nachweise stehen in Klammern.
(11) Krekeler (Anm. 4). So auch Illies (Anm. 1).
(12) Weidermann (Anm. 5).
(13) Rüdenauer (Anm. 6).
(14) Daran Anstoß nimmt Weidermann (Anm. 5).
(15) Rüdenauer (Anm. 6).
(16) Volker Hage: Literatur: Vorbeben der Angst. In: Der Spiegel, Nr. 41, 8.10.2001, S. 224-232., hier S. 224.
(17) Vgl. Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München 2002, S. 160-183.
(18) Harald Fricke: Flecken auf dem Teppich. In: die tageszeitung, Nr. 6873, 9.10.2002, S. IX.
(19) "Wer nun aber die Stimmen, die sie [die Künstler] imitieren, verfremden oder auch bekämpfen, gar nicht kennt, dem entgehen entscheidende, sinntragende Elemente auch desjenigen Werks, das er gerade vor sich hat. Und das mindert nicht nur die Urteilsfähigkeit, es mindert vor allem auch den Spaß" des Rezipienten am jeweils zitierenden Kunstwerk, meint Moritz Baßler: Was blitzt und funkelt, in Reichtum und Fülle. Woran erkennt man einen Klassiker? Drei Thesen zum Umgang mit kanonischen Meistern. In: Literaturen. Das Journal für Bücher und Themen 2005, H. 1/2, S. 9-17, hier S. 10.
(20) Weidermann (Anm. 5).
(21) Fricke (Anm. 18).
(22) Rüdenauer (Anm. 6).
(23) Jörg Plath: Nun trifft es auch dich und dein Buch. Nine-eleven und die deutschen Schriftsteller: Warum es so schwer ist, aus dem Trauma Literatur zu machen. In: Der Tagesspiegel, Nr. 17881, 11.9.2002, S. 31.
(24) Barbara Oetter: Das Valium des Künstlers. In: Freitag, Nr. 27, 27.6.2003, S. 14.
(25) Walter van Rossum: Das Tagebuch eines Gänseblümchens. Max Goldt mäandert durch die Welt und bleibt einfach der Größte. In: Die Zeit, Nr. 41, 2.10.2002, Belletristik, S. 7.
(26) Klaus Nüchtern: Wie Max es sah. In: Falter, Nr. 41, 11.-17.10.2002, Beilage Bücherherbst, S. 6.
(27) Nüchtern (Anm. 26).
(28) Rüdenauer (Anm. 6).
(29) Van Rossum (Anm. 25).
(30) Van Rossum (Anm. 25).
(31) 20-26, 30-33.
(32) Fricke (Anm. 18).
(33) Schneider (Anm. 3).
(34) Nüchtern (Anm. 26).
(35) Rüdenauer (Anm. 6).
(36) Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft. In: Gesammelte Schriften 10,1. Frankfurt a.M. 1977, S. 11-30, hier S. 30.
(37) Ich habe diesen Zusammenhang bereits an anderer Stelle eingehender untersucht; vgl. Volker Mergenthaler: Katastrophenpoetik. Max Goldts und Ulrich Peltzers literarische Auseinandersetzungen mit Nine-Eleven. In: Wirkendes Wort 55 (2005), S. 281-294.
(38) Schneider (Anm. 3).
(39) Als "seine [Max Goldts] Reaktion auf den Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001" liest Dirk Knipphals: Goldt, Max. In: Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945. Hg. v. Thomas Kraft. Bd. 1. München 2003, S. 419-421, hier S. 420, die Aufzeichnungen im "Tagebuch-Buch".
(40) Daher wird zwar erwähnt, daß "der 11.9." zu den "Gesprächsthemen" gehört habe, die während der Henscheidschen Geburtstagsparty "an unserem Tisch" (41), also unter Beteiligung des "Tagebuch-Buch"-Schreibers gewählt worden sind, referiert wird das Gespräch allerdings nicht.
(41) Vgl. Nicola Bock-Lindenbeck: Letzte Welten – Neue Mythen. Der Mythos in der deutschen Gegenwartsliteratur. Köln, Weimar, Wien 1999, S. 7; Baßler (Anm. 19), S. 14, und van Rossum (Anm. 25).
(42) Fricke (Anm. 18).
(43) Rüdenauer (Anm. 6).
(44) Van Rossum (Anm. 25).
(45) Baßler (Anm. 19), S. 14.
(46) Verlagsauskunft gegenüber Verf. vom 16. u. 20.8.2004.
(47) Bock-Lindenbeck (Anm. 41).
(48) Baßler (Anm. 19), S. 14.
(49) Baßler (Anm. 19), S. 14.
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