Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 16. Nr. | Juni 2006 | |
2.3. Liebe in der Dichtung |
Željko Uvanović (Osijek)
[BIO]
Prof. Dr. Günter Schnitzler zum 60. Geburtstag
und als Dank für seine Gastfreundschaft im Herbst 2004
Das dichterische Ehepaar Goll war nicht nur im Leben (gegenseitige Tolerierung von außerehelichen Abenteuern) innovatorisch, sondern auch in seiner Liebeslyrik. Yvan und Claire Goll experimentierten mit Ehebruch und Verkehrung der traditionellen gender-Rollen, mit Eifersucht und Tolerierung des Betrugs. Sie schufen keine klassische Erlebnislyrik, aber ihre Dichtung ist ohne das breite Spektrum der Lebens- und Liebeserfahrungen nicht denkbar. Zu den Ergebnissen ihrer Liebes-‚Alchemie’ zählen erstens Eröffnung der geographischen Koordinaten und kosmischen Räume, zweitens die Neigung zu alogischen, verfremdenden Amalgamierungen und drittens Ausschließung der Transzendenz. Die beiden blieben nonchalant im Diesseits verankert, obwohl dieses jedoch von Nonsense und Chaos durchdrungen ist.
Jede Überschreitung der Grenzen des Üblichen, Stereotypen scheint in sich die Gefahr der Ausgrenzung durch mediokre Mehrheit zu bergen, die eher die Reproduktion des Konventionellen - auch in Form bürgerlicher Maske - als wünschenswertes soziales Modell empfiehlt. Das Abenteuer des Ausfallens aus dem Rahmen des Durchschnittlichen, insbesondere das Wagnis des Innovierens im Bereich der Liebe, der Ehe, der Familie - also in zentralen Lebenssphären - ist eben eine Sache für Überdurchschnittliche, die an falschen oder als falsch empfundenen Vorstellungen und rigiden Regeln zu rütteln wagen. Den Mut, die üblichen Liebesvorstellungen zu korrigieren und die rigiden Ehe-Regeln zu brechen, hat eines der berühmtesten deutsch-französischen dichterischen Ehepaare des 20. Jahrhunderts aufgebracht: Yvan und Claire Goll. Ihre 400 Liebesgedichte und viele Liebesbriefe stellen die Dokumente einer dramatischen und zugleich gegenseitig befruchtenden persönlichen Entwicklung dar. Man könnte sicherlich die banale Frage stellen, ob diese Entwicklung nicht in ruhigeren, traditionellen Bahnen hätte stattfinden können, mit absoluter Treue in klassischer, geschlossener Ehe, innerhalb eines loyalen zwischenmenschlichen Bandes. Aber die Essenz der Kunst und des Künstlertums liegt gerade in Experimentierfreude hinsichtlich aller ethischer und ästhetischer Herausforderungen, in Bereitschaft, alle vorgegebenen Rahmen zu sprengen. Im Namen einer umfassenderen ethischen Grundüberzeugung neigen die Künstler bekanntlich dazu, einen gewissen moralischen Agnostizismus zu vertreten. Die Liebe - ob in Form erotischer Freizügigkeit, allgemeiner Brüderlichkeit oder der Beziehung zum Göttlichen - erweist sich dabei als ein mächtiges Bindeglied zwischen dem Ethischen und Ästhetischen, als paradoxe künstlerische Weisheit und Grundlage der licentia poetica. In puncto Liebe wollten Yvan und Claire Goll somit beweisen, dass Poeten besondere Privilegien und Freiheiten zukommen, deren der ängstliche Durchschnittsmensch wegen seines orthodoxen, kleinbürgerlichen Gewissens und wegen kollektiver Rücksichten sich lieber nicht bedienen sollte.
Ein Paar Jahrzehnte vor dem Ausbruch des sexuellen Revolution in der 60-er Jahren des 20. Jahrhunderts begannen die Golls mit dem Experiment der offenen Ehe:
Die Eheleute gestehen sich andere Partner zu, die Grenzen sind jedoch festgelegt. So verspricht sie ihm, nie für einen anderen die Lieder der Romantiker zu singen, im Gegenzug beteuert er, nie für eine andere Chopin auf dem Klavier zu spielen. (Nadolny 2002: 87)
Und das Experiment der innovativen, untreuen Ehe mit Romantikern und Chopin als einzigen Garanten und Bedingungen des Zusammenlebens scheint Erfolg gehabt zu haben:
Claire Golls Briefe, von denen allerdings nicht alle erhalten sind, zeugen von ihrer unbedingten Loyalität ihrem Ehemann gegenüber, auch wenn sie selbst sich nicht nur Affären, sondern sogar längere Parallelbeziehungen leistet.
Trotz aller Dramatik wird die unkonventionelle, bürgerlichen Moralvorstellungen bewusst entgegengesetzte »moderne Ehe«, auf die Claire und Yvan Goll sich verständigt haben, sämtliche Krisen, Trennungen und Versöhnungen überstehen. Auch wenn es vorübergehend nicht danach aussieht. (ebd., S. 89)
Das bizarre Ehepaar Goll, das ihr eheliches Leben im krassen Gegensatz zu allen bekannten religiösen Grundsätzen gestaltet hat, pilgerte schließlich fünf Monate vor dem Tod Yvans nach Assisi zum Heiligen Franziskus - allerdings war das nur ein Ausflug während des 21. Internationalen Pen-Kongresses in Venedig (10.-16. September 1949):
Von Venedig aus reisen sie über Florenz und Bologna nach Assisi, wo sie ihrem »Lieblingsheiligen« Franziskus von Assisi einen Besuch abstatten. Ihm zu Ehren hatten sie im Exil ihr einziges gemeinsam geschriebenes Prosawerk verfasst, die Neuen Blümlein des Heiligen Franziskus, eine Sammlung von Legenden, die sie in Ermangelung des Originals, der authentischen Fioretti, improvisierten. (ebd., S. 113)
Nach Claires Tod 1977 schmückte Marc Chagalls Doppelporträt des Ehepaares dessen gemeinsames Grabmal in Paris, das gegenüber dem von Frederic Chopin - des Patrons ihrer merkwürdig konzipierten ehelichen Treue - liegt.
Wer war Claire Goll eigentlich? Die in Nürnberg 1890 oder 1891 oder 1901 in jüdisch-bürgerlicher Oberschicht geborene Clara Aischmann war zunächst einmal das Opfer einer Rabenmutter und später auch das Opfer ihres ersten Ehemannes Studer aus der Schweiz. Infolgedessen entwickelte sie sich zu einer vehementen Gegnerin der Familie, der Ehe, der Mütterlichkeit - und sogar der Frauen, obwohl sie aus der lesbischen Liebe zur Schauspielerin Elisabeth Bergner keinen Hehl machte. Ihr Prosawerk Der Gläserne Garten (1919) ist als Dokument dieser Beziehung zu lesen, wovon der folgende Satz unmissverständlich zeugt: "Einzig wir Frauen wissen tief von einander. Der Mann sieht in uns nur sich selbst." (zit. n. Livingston 1997: 182) Sogar im ihrem letzten Prosawerk Ich verzeihe keinem (1978) ist der Eindruck von körperlicher Inkompatibilität von Mann und Frau, von Entkörperlichung der Frau durch den Mann die Rede: "Der Mann modelliert die Frau, von Natur aus, nach dem Bild, das er im Kopf trägt. [...] hat er [Yvan] mich je als das gesehen, was ich war, als eine Frau aus Fleisch und Blut? Goll und Rainer Maria Rilke machten aus mir eine Traumprinzessin, die in einer gläsernen Kugel schwebt." (zit. n. Littler 1997: 171)
Claire wurde zur Muse der expressionistischen Generation und war zugleich Geliebte namhafter Männer wie Kurt Wolff und Rainer Maria Rilke. Sie deklarierte sich als europäische Pazifistin, aber unternahm nach Yvans Tod eine maliziöse Rufmord-Kampagne gegen Paul Celan, der unter der Last der Plagiatsvorwürfe und infolge wachsender öffentlicher Isolierung zum Selbstmord getrieben wurde. Die Femme scandaleuse entpuppte sich als Teufelsweib schlechthin! Ihr schlechtes Image und verfälschendes Editionsverfahren bei der Herausgabe der Werke ihres Mannes waren die Ursache für die schlechte Rezeption Yvan Golls in Deutschland. Zu endlosen Kontroversen gesellte sich ihre obsessive Hass-Liebe ihrem toten Mann gegenüber: Sie betrieb einen vergötternden Persönlichkeitskult und gefährdete zugleich die Authentizität des literarischen Nachlasses ihres Mannes. Claire, die gegen das bürgerlich Falsche gekämpft hat, wurde in einem gewissen Maß zur Fälscherin des literarischen Testamentes ihres Mannes. Nadolny (2002: 21) hat eine plausible Erklärung dafür:
Vieles, was aus heutiger Sicht an Claire Golls Verhalten unverständlich erscheint, das bewusste Vernichten von Dokumenten und Briefen, das verfälschende Datieren und Bearbeiten von Gedichten, das Weglassen von Widmungen und anderes mehr ist im Hinblick darauf zu sehen, dass ihr offenbar vor allem anderen daran gelegen war, als ›große Liebende‹ in Erinnerung zu bleiben.
Man kann sich nur wundern über diese manipulierende Liebe und falsche Liebespose, die nun mit irrationalen, surrealistischen, spiritistischen Argumenten kaschiert werden musste: "Bevor sie eines seiner Gedichte überarbeite, befrage sie schließlich stets Yvans Büste, die vor ihr auf dem Schreibtisch stehe, und erst mit seiner Zustimmung nehme sie die ihr notwendig erscheinenden Änderungen vor." (Nadolny 2002: 119)
Was wissen wir andererseits über das Opfer dieser femme fatale und was war die Basis ihrer Beziehung, ihrer einzigartigen Ehe? Als Erstes muss etwas Enttäuschendes festgestellt werden: Am Anfang ihrer Interaktion stand keine romantische, wilde Affäre. Ganz in Gegenteil war es "eine mit Verzögerung und unter Vorbehalt begonnene Liebe" (ebd., S. 85), eine "verstandesmäßige Liebe" (S. 87). Yvan (1891-1950) war kein Macho-Wüstling, sondern eher ein Softie-Typ. Aber vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sie beide an die befreiende Wirkung des Geschlechtsaktes glaubten (vgl. Livingstone 1997: 176), erscheint Yvans sexuelle Reserviertheit seiner eigenen Frau gegenüber ziemlich kontradiktorisch. Livingstone (ebd.) unterstreicht diesen Befund: "Yvan was insufficiently masculine or at least too unassertive, particularly with regard to sex." Nadolny (2002: 85) bezeichnet diese Ehe als eine mit unsinnlicher, fast platonischer Qualität, die auch als tolerierbarer Verstoß gegen die Konvention der Ehepflicht verstanden werden kann:
Die Sexualität scheint dagegen in ihrer - wie Claire Goll es nannte - »komplizenhaften« Beziehung eine untergeordnete Rolle zu spielen. Die Zärtlichkeit, die sie ihrem Mann geben könne, sei nur eine »unsinnliche«, schreibt sie ihm einmal. Und sowohl in ihrem Tagebuch aus frühen Zürcher Tagen als auch in ihren Memoiren attestiert sie dem Geliebten in der körperlichen Liebe wenig Geschmack.
Claires liberale Auffassungen von Ehemoral und dichterischer Freiheit ihres Mannes erlaubten ihr, Yvans Untreue und Promiskuität als wichtige Voraussetzungen seiner literarischen Tätigkeit hochzustilisieren. In Ich verzeihe keinem steht diesbezüglich Folgendes: "Für Goll war Schreiben nicht nur eine Gehirnfunktion, sondern eine Angelegenheit des ganzen Körpers. Über die Liebe zu schreiben und sie zu praktizieren waren die beiden Aspekte derselben Tätigkeit." (hier zit. n. Littler 1997: 171) Die Lebenspoetik der ehelichen Untreue verteidigte sie mit dem Argument der Genialität ihres Mannes, wie es aus ihrer folgenden Äußerung in Taktlosigkeit ist international zu entnehmen ist:
Wohl aber fuhr er des öfteren, mit meiner Einwilligung (was unsere Briefe bestätigen), zu einer Anderen.
Und ich freue mich, dass er eine Anzahl von Geliebten gehabt hat, und bedauere nur, dass es nicht noch mehr waren. Denn wer würde sich unterfangen, an das amoureuse Leben eines außergewöhnlichen Menschen denselben Maßstab anlegen zu wollen wie an dasjenige eines Durchschnittsmenschen? (zit. n. Nadolny 2002: 10)
Unter allen Yvans außerehelichen Abenteuern stellte die Affäre mit Paula Ludwig, dem "seltsamen Bauernmädel" (ebd., S. 91), das auf Yvan eine "Wohltuende, animalische Ruhe" ausgestrahlt zu haben scheint, jedoch die größte Gefährdung ihrer Ehe dar, so daß Claires Selbstmordversuch vom 23. Juli 1938 tatsächlich als Erpressung und Signal der Verletzung des äußersten ehelichen Toleranzrahmens gedeutet werden kann. Der poetische Niederschlag seiner Affäre mit Paula Ludwig sind Chansons Malaises / Malaische Lieder (LG, S. 151-209). Eröffnet wird die lyrische Sammlung mit dem Gedicht mit der Anfangszeile »Zehn Welt tief unter uns« vom 2. März 1931. Die Herausgeberin Glauert-Hesse teilt uns den eigentlichen Charakter dieser Sammlung mit:
Fügt man die Zeit- und Ortsangaben heute den MALAISCHEN LIEDERN wieder bei, so lesen sich diese innerhalb der Gesamtkorrespondenz Goll/Ludwig wie lyrische Briefe. Goll sandte sie zum Teil allein, zum Teil mit seinen Briefen an Paula Ludwig, oder er gab sie ihr persönlich. (LG, S. 568)
Was jedoch Yvan Golls Malaische Lieder vom Rest seiner Liebeslyrik unterscheidet, sind zwei Umstände. Der erste Umstand ist bekannt: Alle Gedichte sind Paula Ludwig gewidmet. Der zweite Umstand ist überraschenderweise Yvans emotionale Hineinversetzung in die Gefühlswelt der Frau, also der Wechsel der Wahrnehmungsperspektive im Liebesempfinden. Diese Gedichte hätte nämlich Paula Ludwig an Yvan schreiben können. Wie ist dies zu deuten? Handelt es sich um psychologische Erforschung der Geliebten, die in allem das Gegenteil von Claire war, mittels einer fiktionalen Identifizierung? Oder war die Flucht von Claire sowie die Affäre mit Paula eine gut inszenierte Kulisse für wohl gesicherte bisexuelle Ausflüge mit der Erfahrung der erotischen Passivität? Wenn sich die Frauenfigur Manyana mit Paula Ludwig auch identifizieren ließe, wäre dagegen eine metaphorische Gleichsetzung zwischen dem exotischen Krieger Pa-Lu und Yvan ziemlich fraglich. Die folgenden Macho-Bilder aus der 2. und 3. Strophe des Gedichtes An Palu (LG, S. 188) von Manyana (entstanden in Paris am 3. April 1933) widersprechen dem üblichen Männlichkeitsbild Yvans:
Die Horden deiner Krieger sind gekommen
Mit nackten Schädeln
Mit nackten Augen
Sie haben den Halm zertreten
Mit der Blüte der LiebeVergiss den Mund
Der schon in starrem Schmerz
Sich nicht mehr schließen lässt:
Die Horden deiner Krieger singen
Du kannst mein Schweigen nicht mehr vernehmen.
Die wahren Konstellationen von Yvans Liebeskommunikation und tatsächlicher Sexualorientierung sind heutzutage wohl nicht mehr genau oder glaubwürdig zu rekonstruieren. Die tolerante Komplizenschaft seiner Frau Claire hat alle eventuellen Spuren seiner Liebesabenteuern jenseits der orthodoxen Heterosexualität verwischt. Was musste Yvan verbergen, indem er die beiden Frauen Claire und Paula hinters Licht geführt hat, wovon Nadolny (2002: 99) berichtet: "Er hält beide Frauen mit Versprechen hin. [...] Gemeinsame Reisen mit seiner Frau verschweigt er der Geliebten. Vielleicht auch die kleinen Affären zwischendurch." Wie sollte man schließlich die Tatsache psychoanalytisch deuten, dass Yvan seine Frau "in die Arme anderer Männer zu drängen" (ebd., S. 87) versuchte? Geschah das nur "aus schlechtem Gewissen", "aus masochistischem Vergnügen" (ebd.) oder dürften hier unbewusste bisexuelle Wünsche vermutet werden?
Im Folgenden wird aus allen oben angeführten Gründen die Identität des vom lyrischen Ich angeredeten Objekts des Liebebegehrens ignoriert. Was uns interessiert, ist Yvan Golls persönliches Erlebnis der Liebe als Summe seiner Erfahrungen aus seinem promiskuitiven Verhalten. Zur Objektivierung seiner Gefühle bediente sich Yvan Goll bekanntlich der kabbalistischen und hermetischen Symbolik (vgl. Perkins 1970). Esoterik, das Okkulte und die Alchemie waren wichtige Quellen seines Schaffens, insbesondere um 1915, 1936 und 1945/46. Er glaubte an die kausale Analogie und gegenseitige Abhängigkeit zwischen dem Makrokosmos und dem Mikrokosmos sowie an die Möglichkeit der Aufhebung des Dualismus durch Androgynität, die ihre Ausformung in Hermaphrodit und Lilith erfährt. Aus diesem Grunde dürfte man sein Opus der Liebeslyrik auch als symbolisches alchemistisches Laboratorium begreifen. Kosmos, Alogik, Chaos - das sind die drei wichtigsten Pfeiler seines Surrealismus. Das Leben in der Großstadt, dynamisiert durch die Verwendung der Technik, ist dazu ein wichtiger Kontext seines Schaffens, und zwar mit Hinzufügung der futuristisch-kubistischen und dadaistischen Elemente (vgl. Knauf 1996).
Der kosmische Raum in der Liebeslyrik Yvan Golls scheint durch dessen titanische Rebellion gegen die falschen Normen des ordinären bürgerlichen Lebens, durch die Sprengung des persönlichen Rahmens der bürgerlichen monogamen Ehe ins Leben gerufen worden zu sein. Einige Gedichte aus der Sammlung Poèmes d’amour (1925) enthalten Claires Klage über den Verlust des Ehemannes in symbolischen kosmischen Sphären: Mal ist er "allein zu den Sternen abgereist" (»Ich fürchte mich, wenn du schläfst«, LG, S. 39), mal ist er etwas leichter lokalisierbar: "Ich hab meinen Geliebten/ Auf dem Spielplatz der Engel/ Zwischen Mars und Frankreich verloren." (»Ich hab den Abendstern verloren«, LG, S. 43). Etwas romantischer formuliert es Claire im Gedicht mit der Anfangszeile »Ach die Straße ist naß« (LG, S. 41):
Zwei Tauben küssen sich
Eine Amsel ruft nach der andern
Nur mein Schrei erreicht dich nicht.Schon zu weit ist dein Herz
Auf der Strecke
Zwischen Paris und Saturn.
Die Angst davor, dass sich ihr Mann in seinen makro-mikrokosmischen Experimenten, in der Beschäftigung mit Astrologie und Alchemie endgültig verlieren könnte, scheint der Zweizeiler aus dem Gedicht mit der Anfangszeilen »Ich fürchte mich, wenn du schläfst« (LG, S. 39) zu vermitteln: "Zittre vor einer Planetenkatastrophe,/ Aus der du nie mehr wiederkehren wirst!" 1926 steigert sich das Gefühl von Claires Verlassenheit in der Sammlung Poèmes de jalousie. Im Gedicht mit der Anfangszeile »Ich hatte alles verloren« (LG, S. 59) beklagt sie den Verlust der kosmischen Verwandtschaft und ihres himmlischen Geliebten:
Ich hatte alles verloren.
Meine Kusinen die Sterne,
Meine Tante die Sonne
Und dich, meinen blauen Geliebten.
In Poèmes de la vie et de la mort (1927) wird auch das Gefühl von der Vergeblichkeit der Suche nach dem Geliebten artikuliert, wie z. B. im Gedicht mit der Anfangszeile »Einst griffst du meinen Namen« (LG, S. 81):
Umsonst such ich dich:
Du bist abgereist
Nach dem sechsten Kontinent
Und nahmst unsre Sonntage mit
Die Situation kompliziert sich, indem sich Einsamkeit zur Gefangenschaft verwandelt. Das Gefühl der Gefangengenommenseins durch die kosmische Macht des Saturn teilt das Gedicht mit der Anfangszeile »Mein Erzengel im himmelblauen Anzug« (Poèmes d’amour, 1930, LG, S. 123): "Ich bin so tief allein!/ Der Reif des Saturn/ Liegt schwer um mein Herz". Der unheilverheißende Saturn mit möglicher astrologischer Bedeutung als Hindernis, Ohnmacht, Paralyse (vgl. hierzu z. B. Chevalier / Gheerbrant 1990) wird hier in Claires Gedicht zum Symbol leidvoller, äußerster Verlassenheit. Der Reif bezeichnet dabei gleichsam die Festungsmauern der Einzelhaft.
Obwohl Claire und Yvan bereit waren, gegenseitige außereheliche Abenteuer zu tolerieren, stellt sich heraus, dass der sexuelle Liberalismus unvermeidlich Bitternis und Frustration zur Folge hatte. Die Eifersucht erweist sich in ihrem Fall somit als anthropologische Konstante, die zur Treue und Monogamie aufzufordern scheint. Sie reproduziert sich eben trotz den innovativen libertinistischen Bestrebungen. Denn hinter der Maske der Toleranz und Gleichgültigkeit verbarg sich offensichtlich das Gefühl des Betrogenseins sowie der Eindruck gegenseitiger Bestrafung durch Verweigerung der Kontaktaufnahme. Aus dem folgenden Gedicht Claires aus der Sammlung Poèmes de jalousie (LG, S. 57) ist klar zu entnehmen, wie wichtig dieser Kontakt ist, auch der auditive Kontakt via Telefonkabel.
Immer horch ich am Telefon
Als leite der kalte Draht
Noch deine warmen WorteAus all deinen Träumen:
Von Grönland, vom Kaukasus, selbst vom Orion,
Von überall her
Rief deine Stimme mich an.Aber nicht mehr rufst du nach mir
Durch die Kabel der Erde. -
Zwischen uns versagte der Strom.Mein Herz ist verkohlt
An der Hochspannung
Der kupfernen Netze,
Die Sehnsucht über das All gespannt.
Solange die Tele-Kommunikation tatsächlich da war, steigerte sich die Begeisterung der an der Kommunikation Beteiligten bis zum Kosmischen: Claire glaubte "selbst vom Orion" her die Stimme des Geliebten zu hören. Die Verweigerung des Telefonkontaktes resultiert hingegen mit modernem, verfremdendem Ausdruck: "Zwischen uns versagte der Strom", sowie mit dem Bild des vor Sehnsucht verbrannten, verkohlten Herzens. Claires Gedicht mischt Technik, Liebesmetapher und den Kosmos in eine Einheit. Dem Zerfall der Liebestreue scheint der Zerfall der Logik zu folgen, aber davon erst nachdem zunächst im folgenden Schritt auf Yvans Sprengung des persönlichen Rahmens sowie Erreichung von kosmischen Dimensionen eingegangen wird.
Die Hybris der menschlichen Annäherung an das Göttliche in Yvans Gedichten kennt in ihrem Verlauf zwei Phasen: erstens die Phase der orgastischen Überschwänglichkeit und zweitens die Phase der kosmischen Tristesse und Bestrafung. Die merkwürdige Dialektik des Genusses und des Leidens könnten je zwei Gedichte veranschaulichen - einmal aus dem Jahr 1930 und dann aus dem Jahr 1935.
Sind wir nicht Göttermenschen, du und ich?
Wir schreiten über Wolken hin
Und staunend wie am ersten Tag
Sieht uns das fünfzigste Jahrtausend!
Es blüht und leuchtet
Dein Blumengesicht
Ein Spiegel des Himmels
Und alle Seligen erkennen sich drin!
Das erste Gedicht (Liebesgedichte, 1930, LG, S. 132) vermittelt uns das Bild des übermenschlichen Wolkentanzes eines Liebepaares. Dabei wird die Symbolik der Zahl fünf (Sinnenleben, Eros, Natur) (vgl. hierzu z. B. Endres / Schimmel 1995) extrem umfassend, in temporalem Sinn intensiviert. Das Gesicht der Geliebten - ob es sich um Claire oder eine andere Frau handelt, kann nicht mit Glaubwürdigkeit bestimmt werden - erhält zuletzt die Bedeutung eines Schönheitsideals, in dem das Himmlische und das Irdische miteinander verwoben sind. Betrachten wir nun das zweite Gedicht aus dem Jahr 1930 (Poèmes d’amour, LG, S. 113):
Am fünftausendsten Abend unsrer Liebe
Bin ich noch immer so schüchtern wie einst:
Beflecke meine weißen Handschuh mit dem Blau
Zu feucht gepflückter Glockenblumen
Und ersticke ungeschickt die Lerche
Die ich dir mitgebracht in meiner Tasche
Noch immer weiß ich nicht wie ich dir lächeln soll
Um die Traurigkeit meines Glücks zu verstecken
Und wenn ich dich umarmen will
Werf ich die Sonne um
Dieses Gedicht handelt von Begegnung zwischen Yvan und Claire, und zwar in der negativen Phase ihrer dialektischen Beziehung. Das lyrische Yvan-Ich wendet sich an das lyrische Claire-Du mit der Erklärung, dass seine ursprüngliche Zurückhaltung, seine Hemmung ihr gegenüber auch am symbolisch gemeinten "fünftausendsten Abend" ihrer Liebe ungemindert besteht. Dem folgen zwei masochistisch anmutende Imperativsätze (selbstverständlich bei Goll ohne Interpunktionszeichen!) mit dem Wunsch, dass seine "weißen Handschuh" - als Schutz vor der Berührung mit dem Profanen interpretierbar - durch Kontakt mit dem feuchten Naturelement entehrt werden bzw. dass die Lerche - als Symbol für Sublimation, vertikale Bewegung, Gebet vor Gottes Thron - "ungeschickt" erstickt wird. Im nächsten thematischen Element des Gedichts verrät das lyrische Ich die maskenhafte Natur seiner höflich lächelnden Beziehung zur Geliebten. Hinter der Maske des ehelichen Glücks verbirgt sich eigentlich tiefste Traurigkeit. Die Spannung zwischen dem vorgetäuschten Schein und dem tatsächlichen Zustand steigt, die Distanz zwischen den Liebespartnern wächst und wird unüberbrückbar - so dass sogar die erwogene Absicht einer privaten, intimen Geste der Umarmung geradezu kosmische Konsequenzen mit sich zieht: Die Sonne wird umgeworfen, zunichte gemacht.
Das nächste Paar der Gedichte, das die besprochene Dialektik zu unterstützen scheint, stammt aus der Sammlung Malaiische Lieder (1935). Das lyrische Ich feiert im Gedicht mit der Anfangszeile »Seit immer bin ich geschmückt« (LG, S. 186) die eigene Omnipotenz als Gigant bzw. körperlicher Dämon der Nacht. Es genießt die eigene Omnipräsenz und Macht über der Geliebten, die dem Ring der Obsession nicht entfliehen kann:
Nun wachse ich über die ganze Erde
Mein Körper breitet sich aus
Von Sonnenuntergang
Bis Sonnenaufgang
Wohin du schreitest
Wohin du dich wendest
Trittst du auf mich
Andererseits verhält sich das lyrische Ich im "Kampf mit Wind und Göttern", so das Gedicht mit der Anfangszeile »Schlief ich in deinem Arm?« (LG, S. 195), eher masochistisch. Im Gedicht mit der Anfangszeile »O du mein Adler« (LG, S. 178f) bedient sich Yvan Goll des Bildes eines kaiserlichen Adlers als Symbols für höhere geistige Wesen negativen Vorzeichens. Das lyrische Ich wendet sich an den Adler, der bekanntlich auch Väterlichkeit und Männlichkeit symbolisieren kann, mit der Bitte, ihn einer sadistischen Prozedur zu unterziehen: "Schlag deine Fänge/ In meine Brust". Darauf folgt eine merkwürdige Szene, in der sich das lyrische Ich ebenfalls als ein fliegendes Wesen entpuppt, das seinen Adler in die "goldene Heimat" der beiden hinaufziehen möchte. Das Subjekt der Liebe ist hier kein Mann, das Objekt der Liebe keine Frau. Es handelt sich um zwei seltsame Wesen, die einander "fort von der Erde" locken. Was ist das Ziel? Egoistische, exklusive Reservierung des begehrten Objekts nur für sich selbst. Wo wird die Liebe konsumiert? Tief im Kosmos, wo keine kleinbürgerliche Gravitationslast der vorgeschriebenen Liebekonventionen mehr herrscht:
Hinauf hinauf
Wo dein Auge nichts mehr erfasst
Als mich
Als mich
Als mich
Die Sprengung des monogamen Eherahmens als tradierter kleinbürgerlicher Konzeption scheint bei den Golls gewissermaßen zur Entstehung einer Vorliebe für alogische Verbindungen in der Natur unvereinbarer Konzepte beigetragen zu haben. Claire wie auch Yvan verwenden verfremdende Bilderkombinationen heterogener Herkunft. Betrachten wir zunächst die Fälle der Montage zeitlicher und räumlicher Kategorien. Im Gedicht mit der Anfangszeile »Ich fürchte mich wenn du schläfst« (Poèmes d’amour, 1925, LG, S. 39) bedient sich Claire des fast grotesken Montageverfahrens, um ihrem Gefühl der Traurigkeit und der Verlassenheit vom Geliebten Ausdruck zu verleihen:
Verlassen zittre ich im Wartesaal der Zeit,
Mit meinem kleinen Koffer voller Tränen,
Der Photographie deines Herzens
Und einem Strauß welker Lächeln -
Claire kombiniert wiederum kosmische Dimensionen ("Wartesaal der Zeit") mit den privaten, mikrokosmischen Einzelheiten in ungewöhnlicher, aber origineller Selektion. Sie amalgamiert Konkretes mit Abstaktem mit Effekt der Steigerung der Traurigkeit: "Koffer voller Tränen", "Strauß welker Lächeln". Die Interpretation der dritten Zeile muss jedoch ambivalent bleiben: Sollte mit "Herz" das körperliche Organ gemeint sein, handelte sich um moderne medizinische Unterwanderung der Liebeslyrik; sollte mit "Herz" das Symbol für Liebe assoziiert werden, handelte sich um die schon erwähnte Verschmelzung des Konkreten mit Abstraktem.
Das exotisch-esoterische Moment fungiert im Gedicht mit der Anfangszeile »Träumte ich nur« (Liebesgedichte, 1930, LG, S. 135) als Zusatz bei der Formung exzentrischer Kombinationen: Das lyrische Claire-Ich fährt mit dem lyrischen Yvan-Du in "smaragdnem Taxi" - Smaragd dürfte hier esoterische Transzendenz und hellseherische Transparenz versinnbildlichen - mit "goldenen Rädern/ Durch den zarten Montag/ Ins Paradies". Vermisste die Autorin in ihrem Leben die eheliche Treue und längere Phasen der Zweisamkeit unbewusst aber so intensiv, dass sie in ihren poetischen Wunschträumen gerade Liebepaare ins Paradies fördern muss? Davon zeugt auch das folgende Gedicht mit der Anfangszeile »Ach die Straße ist naß« (Poèmes d’amour, 1925, LG, S. 41), in dem statt des Taxis ein Pferd auftritt:
Ein Pferd geht müd durch mich hindurch
Schon das Jenseits in den großen Augen
Und fährt ein Liebespaar
In seiner Kutsche in den Himmel.
Als letztes Beispiel für Claires ironische, frustrierte Beziehung zu ihrem Mann, den sie nun einen Erzengel nennt, sei wiederum das Gedicht mit der Anfangszeile »Mein Erzengel im himmlisch blauen Anzug« (Poèmes d’amour, 1930, LG, S. 123) herangezogen, in dem das Geistige mit dem Trivialen und dem zugleich grotesk, absurd wirkenden, normalerweise Unvereinbaren kombiniert wird:
Mein Erzengel im himmelblauen Anzug,
Wann kommst du
Einen Psalter aus Asbest aufs Herz mir legen?
[...]
Wo schwebst du, mein Erzengel?
Vielleicht so nah,
Und ich hör dich nicht,
Weil du Gummisohlen trägst,
Um die Vögel nicht zu wecken!
Claire verbindet oben das Heilige mit dem Alltäglichen (Erzengel vs. Anzug, Gummisohlen), das Psalmenbuch mit feuerfestem Schutzmaterial. Ähnlich alogisch verfährt sie auch im Gedicht mit der Anfangszeile »Wem wirst du deinen samtnen Schatten vermachen« (Poèmes de la vie et de la mort, 1927, LG, S. 85):
Wem wirst du deinen samtnen Schatten vermachen
Der so duftet nach Teer
[...]
Deinen wasserdichten Schatten gegen den Landregen
Deinen Schatten, in den so scheu ich mich schmiegte
Aus Angst vor zu blendendem Glück!
Claire brilliert mit absurden, alogischen Gedankengängen und umkippenden Pointen. Teilweise mischt sich da in die Verehrung des Mannes indirekt die Sehnsucht nach dessen Tod, wobei der eigene Standpunkt in die Pose der Bescheidenheit und Unbeholfenheit maskiert wird.
Yvans Alogik besitzt hingegen etwas mehr Logik und Rationalität, aber scheint eine ähnliche Entstehungsgeschichte zu haben wie bei Claire. Die Vorliebe, Elemente aus unvereinbaren Bereichen mit Effekt der surrealen Verfremdung miteinander kombinieren zu wollen, entspringt sehr wahrscheinlich dem psychischen Zustand, in dem die Traurigkeit wegen Untreue der Partnerin sowie die eigene vorgetäuschte Gleichgültigkeit nicht mehr unterdrückt werden können. Das Grübeln über die Treue der Partnerin, wobei "sterbende Lilien" pessimistische Assoziationen nahe legen, sowie die Erwartung ihrer Telegramme verwandeln normale Sommer in "elektrische Sommer", wie es im Gedicht mit der Anfangszeile »Ich bin gealtert vor Sehnsucht« (Poèmes d’amour, 1930, LG, S. 115) zu lesen ist:
Wie viele bleiche Nächte hab ich gewacht
Um den Mond zu befragen
Ob deiner Treue
Ich habe elektrische Sommer ertragen
Dein Telegramm erwartend
Und an den Abenden der Traurigkeit
Streichelte ich die Hände sterbender Lilien
Auch Yvan zeigt ferner die Fähigkeit, die Attribute seiner Partnerin in leicht ironischem Ton, halb spöttisch, mit einigen gewagten Metaphern zu beschreiben. Das Gedicht mit der Anfangszeile »Dein Haar ist die große Feuersbrunst des Jahrhunderts« (Poèmes d’amour, 1925, LG, S. 19) mutet wie eine moderne, leicht parodistische, modernisierte Variante des biblischen Hoheliedes an:
Dein Haar ist die große Feuersbrunst des Jahrhunderts.
Deine Stirn die Leinwand, hinter der geheimnisvolle Filme Laufen.
Deine Augen zwei Diamanten aus den Augenhöhlen der Sphinx.
Deine Nase ein Eiffelturm, rosa gestrichen.
Deiner Lippen Zwillingsbarke tanzt auf dem Roten Meer.
Deine Zähne sind regelmäßiger als die Tasten des Klaviers.
Wenn du sprichst, blühen Akazien
Und lächeln zehn Bäche zugleich.
Wenn du schreitest,
Wiegt sich die ganze Erde.
Yvan schwankt in diesem Gedicht ambivalenterweise zwischen der Bewunderung und Verklärung sowie humorvoller Untertreibung einerseits und der Tendenz andererseits, Claires Merkmale mit technischen ("Leinwand", "geheimnisvolle Filme", "Eiffelturm", "Tasten des Klaviers") und unorganischen ("zwei Diamanten") und mythologischen ("Augenhöhlen der Sphinx") Bildbereichen zu verbinden, die wohl dem Alltag mit Claire entstammen. Yvans Amalgamierungen hinterlassen jedoch den Eindruck von Nonchalance und Sympathie. Ausserdem sind sie durch "natürliche" Bildbereiche ausgewogen.
Liebe und Tod, Eros und Thanatos berühren sich, ergänzen sich, gehen ineinander über. Liebe könnte manchmal stärker sein als der Tod, ihn transzendieren, das Jenseits - egal welcher religiöser oder mythologischer Färbung - erreichen. Jedoch in den Liebesgedichten von Yvan und Claire Goll erscheint die materielle Komponente des Menschen als zu dominant, um dem Geist eine eventuelle Himmelfahrt zu gewähren. Dies ist Claire Golls Beschreibungen des chaotischen Zustandes nach dem Tod sehr eindeutig zu entnehmen. Im Gedicht mit der Anfangszeile »Wenn ich tot bin« (Poèmes de la vie et de la mort, 1927, LG, S. 89) unterstreicht sie die Tatsache, dass für sie die Beständigkeit der körperlichen Reste eine Vorbedingung zur Erhaltung der psychischen Inhalte darstellen würde. Eine Balsamierung des Herzens sollte somit ewiges Gedächtnis der Liebe garantieren, eine Formol-Behandlung des Leibes würde gemeinsam geteilte Wahrnehmungen aus der Natur konservieren. Nur in der ersten Strophe ist Claire ironisch-spöttisch gestimmt, zu verfremdenden Amalgamierungen bereit: Die Balsamierung des Kopfes wäre eine Maßnahme auch gegen die Verrostung der Augen und sogar gegen die Oxydierung des Kusses! Die bizarren Gedanken finden ihre Fortführung im Gedicht »In unsrem Grabe wird mein Haar« (Poèmes de la vie et de la mort, 1927, LG, S. 85). Hier wächst das Haar der Geliebten weiter "nach der Mode des Himmels", aber das ist nicht alles: Kosmetik ihres Mannes (Verkehrung der gender-Stereotype!) würde sie ungestört weiterhin betreiben:
Und deine Manicure wird ich sein,
In deine Nägel Muscheln ziselieren
Und deine Hände küssen
Bis zum Jüngsten Gericht.
Yvans Todesvorstellungen sind ebenfalls im Diesseits verankert, aber dafür mit viel mehr Aufrichtigkeit sowie ohne Absurdität und Chaotisches. Was den Tod zu überdauern scheint, ist nach ihm eine intensive Erinnerung an die Frau und an die Natur. Auf den "Kuß aus Honig und Radium" zwischen Mann und Frau (»Erwarte nicht von der finstern Erde«, Poèmes de la vie et de la mort, 1927, LG, S. 97) seien die Götter eifersüchtig. Der Kuss verewigt die beiden, wovon auch im Gedicht mit der Anfangszeile »Die Ewigkeit ist nicht im Tod« (Liebesgedichte, 1930, LG, S. 132) die Rede ist. Diesseitige Ewigkeit ohne Himmel und ohne Hölle ist Yvan Golls These, die im Gedicht mit der Anfangszeile »Nein, ich will nicht sterben« (Poèmes de la vie et de la mort, 1927, LG, S. 95) aufgestellt wird:
Nein, ich will nicht sterben
In keinem Himmel fände ich wieder
Das seltene Blau deines Lächelns,
Keine Hölle reproduzierte mir
Das Feuerrot deiner Locken,
Ich erwarte nichts außerhalb deiner Lippen!
Neben den küssenden Lippen faszinieren Yvan auch die Augen der Frau, wovon das Gedicht mit der Anfangszeile »Was klage ich, solang noch deine Hand« (Neila-Abendgesang, 1954, LG, S. 381) am besten zeugt:
Mein Aug wird nimmer hart und blind
Solange die zwei Sonnen deiner Augen
Die Nächte und die Tage
Auf ewig gleichen Liebesschalen wiegen
Yvan Goll verwandelte sein ganzes Leben und sein ganzes Fassungsvermögen zum Lieben: "Weib, Freund, Antlitz, Wasser/ Alles lieben und nichts fassen" (»Unwirklicher als Wasser«, Neila-Abendgesang, 1954, LG, S. 373). Man dürfte aus diesem Grund annehmen, dass er leicht auch die Zone des Jenseitigen - ob christlich-franziskanischer oder kabbalistischer oder irgendwelcher anderen Natur - erreicht haben könnte. Claire scheint hingegen nicht so viel Spontaneität und Bereitschaft zur unbedingten Liebe in ihrer Lyrik ausgedrückt zu haben. Statt Echtheit bot sie sogar Affektiertheit und Nonsense, was die folgenden Zeilen am klarsten veranschaulichen: "Die falschen Rosen blühn auf meinem Hut/ Und von de Glaslaternen hab ich Sommersprossen" (»Ach die Straße ist naß«, Poèmes d’amour, 1925, LG, S. 41).
Inkonsequenz in einer Liebesbeziehung, d.h. Offenheit für Liebesabenteuer außerhalb des definierten Bundes eines Liebespaares, kann nicht nur eine dramatische Bereicherung darstellen, sondern sich auch als eine enorme emotionale, körperliche und moralische Belastung auswirken. Das Treugelübde vom 19. Oktober 1917 (vgl. Nadolny 2002: 52) haben Claire und Yvan Goll nicht eingehalten. Claires Treuschwur lautete folgendermaßen: "Ich schwöre Treue; denn nur so kann ich mir selber treu bleiben." Meineidig wurde sie aber in der Folgezeit sogar mit dem Dichter-Konkurrenten Rainer Maria Rilke. In den Poèmes d’amour (1925) artikulierte sie in zwei Gedichten ihre Betrugslust. Im Gedicht mit der Anfangszeile »Du bist zart« (LG, S. 33) begründet sie ihre Untreue mit Mangel an Yvans Männlichkeit: "Und ich betrüge dich./ Gerade weil du so sanft bist/ Und so vollendet traurig." Von Leichtigkeit des Fallens in Liebesbetrug singt sie im Gedicht mit der Anfangszeile »Nur noch einmal wird ich dir untreu sein« (LG, S. 45). Aber der Betrug provoziert immer Betrugsrache seitens des Partners, die wiederum die Eifersucht der untreuen Partnerin verursacht, so dass ein tödlicher Teufelskreis der Leidenschaften und Eifersucht hergestellt wird: Die Partnerin glaubt, die Mordgedanken des Partners und seiner Geliebten detektieren zu können, wie im Gedicht mit der Anfangszeile »Eine Nacht, in einer Straße« (Poèmes d’amour, 1930, LG, S. 125):
Und als mein Blick
Wie eine Sternschnuppe auf euch fiel,
Wünschtet ihr etwas:
Vielleicht meinen Tod?
Die Frage, wer wen mehr betrogen hat, kann nicht beantwortet werden. Ebenfalls die Frage, wessen Schuld daran größer wäre. Auf jeden Fall hat sich die innovative, antibürgerliche Kraft des Liebesbetrugs auch als subversiv und schädlich erwiesen. Vor dem Hintergrund dieser intensiven anthropologischen Erfahrung kann das Gedicht mit der Anfangszeile »Kehr mir zurück« (Poèmes de jalousie, 1926, LG, S. 71) nur als großzügiges Versöhnungsgesang und -Vorschlag Yvan Golls gedeutet werden: "Aus den Kalendern streichen/ Will ich die Tage, die du mich betrogst,/ Aus allen Landkarten/ Die Straßen deiner Fluchten" (2. Strophe). Darüber hinaus verspricht sich das lyrische Yvan-Ich sogar die Erneuerung der ganzen Welt: Eine richtige Privattat hätte nämlich auch gute globale Konsequenzen! Die gemeinte Erneuerung bedeutet bei Goll jedoch nicht die Wiederherstellung der alten Ordnung der Natur. Die neue Goll’sche Ordnung der Liebe und der Natur ist entscheidend surrealistisch geprägt. Die poetischen Umgestaltungen der Welt sind tatsächlich tiefgreifend: "Die Kompasse verlockt ein neuer Nord: Dein Herz!" Aber die Klimaveränderungen mit dadaistisch verfremdenden Effekten sind der Welt ebenfalls nicht erspart, was wir in der ersten Strophe des Gedichtes zu lesen bekommen:
Kehr mir zurück:
Ich will uns eine fünfte Jahreszeit erdichten:
Die Austern werden Flügel haben,
Die Vögel nur Strawinsky singen,
Und an den Feigenbäumen werden
Die Hesperiden reifen.
© Željko Uvanović (Osijek)
LITERATURVERZEICHNIS
LG = Yvan Goll: Liebesgedichte1917-1950. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse. In: Yvan Goll: Die Lyrik in vier Bänden. Bd. 2. Berlin: Argon Verlag 1996.
Chevalier, Jean / Alain Gheerbrant 1990: Dictionnaire des symboles. Mythes, rêves, coutumes, gestes, formes, figures, couleurs, nombres. Paris: Laffont. 12. Aufl.
Endres, Franz Carl / Annemarie Schimmel (1995): Das Mysterium der Zahl. Zahlensymbolik im Kulturvergleich. München: Diederichs.
Knauf, Michael (1996): Yvan Goll. Ein Intellektueller zwischen zwei Ländern und zwei Avantgarden. Bern et al.: Lang
Livingstone, Rodney (1997): Eroticism and feminism in the writings of Claire Goll. In: Yvan Goll - Claire Goll. Texts and Contexts. Hg. v. Eric Robertson u. Robert Vilain. Amsterdam, Atlanta: Rodopi, S. 175-188.
Littler, Margaret (1997): Madness, misogyny and the feminine in aesthetic modernism: Unica Zürn and Claire Goll. In: Yvan Goll - Claire Goll. Texts and Contexts. Hg. v. Eric Robertson u. Robert Vilain. Amsterdam, Atlanta: Rodopi, S. 153-173.
Nadolny, Susanne (2002): Claire Goll. Ich lebe nicht, ich liebe. Eine biografische und literarische Collage mit Texten, Bildern und Fotografien [...] Berlin: edition ebersbach.
Perkins, Vivien (1970): Yvan Goll. An iconographical study of his poetry. Bonn: H. Bouvier u. Co. Verlag
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