Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 16. Nr. | Mai 2006 | |
3.1. Die globalen Probleme des modernen kulturellen Prozesses |
Oksana Nazarova (München)
[BIO]
1. Zur Person Simon Frank
2. Das Thema der Krise
3. "Das Unergründliche"
4. Theoretische Lösung des Problems der Theodizee
1) Religiöse Gründe
2) Moralische Gründe
3) Theoretische Gründe
5. Konkrete Lösung des Problems der Theodizee
6. Lösung des Problems der TheodizeeFranks als die "richtige" Interpretation der Bibelgebote
7. Philosophie Franks und die "östliche Philosophie"
8. Bedeutung des Problems der Theodizee im philosophischen Schaffen Franks
9. Bedeutung des Problems der Theodizee für Franks Leben
10. Schlussfolgerung
Simon Frank wurde 1877 in Moskau geboren. Nach seiner Ausweisung aus Sowjetrussland 1922 war er in Berlin an der Religions-Philosophischen Akademie und beim Russischen Wissenschaftlichen Institut als Professor tätig. Aufgrund seiner jüdischen Herkunft wurde er 1938 zur Emigration nach Frankreich und danach nach England gezwungen. Er starb 1950 in London.
Frank kann als einer der bedeutendsten systematischen Denker der russischen Geistesgeschichte angesehen werden. In den letzten Jahren wird seinem Schaffen sowohl in Russland als auch in Westeuropa größere Aufmerksamkeit zuteil. Seine Bedeutung besteht weiterhin darin, dass er als Vermittler zwischen der deutschen und der russischen philosophischen Tradition betrachtet werden kann. Franks Grundanliegen ist es, die Metaphysik der All-Einheit des Nikolaus von Kues im Kontext der modernen Philosophie neu zu entfalten.
Frank beherrschte die deutsche Sprache perfekt. Sein Hauptwerk "Das Unergründliche" wurde von ihm in Deutsch verfasst. Des Weiteren schrieb er in der Emigration etwa 68 deutschsprachige Artikel. Schon in Russland ist er als Übersetzer philosophischer Texte aus dem Deutschen bekannt geworden und war Redakteur der Übersetzung der Husserlschen "Ideen" ins Russische, der ersten Übersetzung von Texten Husserls in eine andere Sprache.
Seine Aufmerksamkeit widmete Frank ebenfalls dem Thema der kulturellen und gesellschaftliche Krise. Dieses wurde von ihm zum ersten Mal beim Internationalen Philosophischen Kongress 1934 in Prag angesprochen. In seinem Vortrag sagte Frank: "Es ist eine allbekannte Tatsache [...], daß wir in einem Zeitalter der Krisen leben: die traditionellen Grundlagen sind auf allen Lebensgebieten ins Schwanken geraten und teilweise schon umgestürzt. [...] Von politischen Prinzipien, wie Freiheit oder Rechtsgleichheit, und ethischen Werten, wie etwa Unantastbarkeit der Persönlichkeit oder Heilikeit der Ehe, bis zu theoretischen Axiomen, wie die unverbrüchliche Gültigkeit des Kausalitätsprinzips - alles gerät ins Schwanken, was vorher keinem Zweifel unterlag. [...] Jedem Tieferblickenden ist es auch klar, daß all diese mannigfaltigen Krisen - der Wirtschaft, der inneren und äußeren Politik, des sittlichen Lebens, der Wissenschaft - im letzten Grunde Auswirkungen einer allgemeinen geistigen Krise sind"(1).
Frank erlebt е persönlich solche gesellschaftlichen Krisen, wie den Ersten Weltkrieg, die Oktoberrevolution 1917 und den Bürgerkrieg in Russland, sowie die Entstehung des Nationalsozialismus in Deutschland. Als Philosoph ging Frank hierbei von der Wahrnehmung dieser empirischen Erscheinungen zur Analyse ihrer Gründe über. Danach folgte die Globalisierung des Problems: Er stellte die religiös-metaphysische Frage nach der Existenz des Bösen, zu dessen empirischem Ausdruck die oben genannten gesellschaftlichen Erscheinungen wurden. 1939 erschien das Hauptwerk seines philosophischen Schaffens "Das Unergründliche", in dem er das Theodizeeproblem analysierte.
"Das Unergründliche" setzt sich zum Ziel, zwei grundlegende Tatsachen des menschlichen Daseins zu erfassen. Zum einen ist dies die Tatsache des unlösbaren ontologischen Zusammenhangs zwischen dem Menschen und Gott (Kapitel I-IX) und die Tatsache der realen Präsenz des Bösen in der menschlichen Welt (Kapitel X). Der erste Fakt erscheint den meisten Menschen der heutigen Zeit unreal(2), im Gegensatz dazu wird jedoch der zweite als eine präsente Tatsache aufgefasst. Frank stellte sich die Aufgabe zu beweisen, dass der Sachverhalt gerade umgekehrt ist: die ontologische Verwurzelung des Menschen in Gott ist absolut real, das Böse ist absolut unreal. Wieso? Die Menschheit befindet sich in einer Krise, die von Frank als Krise des "areligiösen Humanismus" bezeichnet wird. Das Wesen dieser Krise besteht im Aufbegehren der menschlichen Persönlichkeit gegen Gott.
An der Spitze der modernen europäischen Entwicklung steht das Streben nach der Behauptung des absoluten Wertes der menschlichen Persönlichkeit. Die Persönlichkeit selbst wird als eine Instanz bestimmt, die außerhalb ihres ursprünglichen und tiefen Zusammenhangs mit ihrer Urquelle - dem göttlichen Sein - existiert. Als ideale Grundlage der Persönlichkeit wird ihr abstraktestes Prinzip - die menschliche Vernunft - angesehen. Dies führt dazu, dass der Inhalt dieser allgemein menschlichen Persönlichkeit wesenlos geworden ist und dass in den konkreten Persönlichkeiten ein Despotismus dieser abstrakten Persönlichkeit entsteht. Die Russische Revolution 1917 und der Nazismus, die das Böse empirisch ganz offensichtlich wiedergeben, sind die zugespitzten Äußerungen dieser Krise und auch der Beweis für die unrichtigen Ausgangsbestrebungen des modernen Menschen und der Menschheit.
Was kann ein Philosoph unter diesen Bedingungen tun? Er muss mittels positiver Kritik Stellung nehmen und mögliche Auswege aus der Krise zeigen. Ein Philosoph ist kein Politiker, er macht keine Vorschläge zu konkreten Maßnahmen. Der Philosoph kann sich die Aufgabe stellen, die Begründung der "richtigen Weltanschauung" darzulegen. Wenn diese dem konkreten Menschen bewusst wird und er sie in seinem Inneren annimmt, dann wird sie sein Handeln bestimmen und die Möglichkeit liefern, die Krise zu überwinden.
Frank ist der Meinung, dass die Tatsache der Existenz des Bösen nicht nur eine Grenze im philosophischen Denken aufzeigt, weil sie offensichtlich demonstriert, dass die Philosophie nicht imstande ist, "das ganze Sein restlos zu erklären", sondern auch als eine absolute Grenze zu beliebigen menschlichen Weltanschauungen (religiösen und areligiösen) betrachtet werden kann, weil das Böse eine absolute Tatsache des menschlichen Daseins ist. Nach Frank ist das Problem der Theodizee theoretisch unlösbar. Warum? Nennen wir die Hauptgründe.
1) Religiöse Gründe
Die Haupttendenz des "Unergründlichen", genauso wie des ganzen philosophischen Schaffens von Frank, beinhaltet das Streben nach Synthese von Philosophie und Religion, das Bestreben, Philosophie auf Grund des Verständnisses von der persönlichen religiösen Erfahrung zu klären. Das Problem der Theodizee zu lösen bedeutet für ihn deswegen, dass er die Wesenheit des christlichen Glaubens selbst klärt. Mit anderen Worten bedeutet dies ebenfalls, dass er die Frage beantwortet, auf welche Weise der christliche Glaube folgende Vorstellungen von Gott in sich vereint:
Zum Einen: Gott, der den Sündenfall von Adam und damit das Entstehen dieser Welt mit ihrer ursprünglichen Sündhaftigkeit und der Präsenz des Bösen "zugelassen" hat. Gott, der den Menschen mit "schlechter" Freiheit beschenkte, die den Menschen zum Bösen zog. Gott, für den nicht die ursprünglich Gerechten, sondern die bereuenden reumütigen Sünder, also die Menschen, als erste das Himmelreich betreten.
Und andererseits: Gott, dessen Sohn die Sünden der ganzen Menschheit büßt, der mit der gesamten Menschheit leidet, der gekreuzigt wurde.
In anderen Worten fordert das Problem der Theodizee die Antwort auf die Frage, wie man die Vorstellung von Gott als Gott, der die Menschheit "bestraft" und deswegen absichtlich die Existenz des Bösen gestattet und die Verantwortung dafür trägt, mit der Vorstellung von Gott als grenzlose Liebe vereinigen kann. Eine Antwort auf diese Frage zu geben, käme für Frank als Christen einem Sakrileg gleich.
2) Moralische Gründe
Frank behauptet, dass der Versuch der theoretischen Lösung des Problems der Theodizee auch moralisch nicht gestattet ist. Wenn man eine Lösung finden würde, bedeutete dies, die Stelle des Bösen in der All-Einheit zu finden und damit seinen problematischen Charakter zu beseitigen, d.h., dass man die Tatsache seiner Existenz rechtfertigte. Dadurch würde die Verantwortung für das Böse von jedem konkreten Menschen genommen und eine theoretische Grundlage für die menschliche Gleichgültigkeit geliefert. Genau das möchte Frank vermeiden. Seiner Meinung nach können und dürfen wir uns nicht "gelassen" mit der Tatsache der Existenz des Bösen abfinden. Frank will dies problematisieren, um damit dem Menschen zu helfen, sie als grundsätzlich in seinem Leben, als sein Schicksal wahrzunehmen: " Das Schicksal der ganzen Welt ist es, gemeinsam am Bösen beteiligt zu sein und unter ihm zu leiden "(3).
Man muss die Paradoxie der von Frank vorgeschlagenen Lösung beachten: Der Fatalismus in Hinsicht auf die Existenz des Bösen in der Welt sanktioniert keine Zurückhaltung des Menschen in Bezug auf diese Tatsache. Es scheint, dass dies der calvinistischen Idee der Vorausbestimmung des Schicksals jedes Menschen, die mit der Forderung an seine maximale Aktivität in der Welt verbunden ist, sehr nah steht. Man kann nicht sagen, ob es für Frank selbst offensichtlich war.
Die Existenz des Bösen ist eine Antinomie. Sie widerspricht dem Wesen Gottes, der das Allgute ist. Nach Meinung von Frank kann das Problem der Theodizee theoretisch genauso wie jede beliebige Antinomie erfasst werden: nicht dadurch, dass man seine Existenz ignoriert, d.h. die "Augen" vor der Existenz des Bösen "schließt", und nicht durch die Absolutsetzung eines ihrer Momente, sondern darin, demütig anzuerkennen, dass das "schlechthin unauflösbare Geheimnis" hier verborgen ist, und nur zu versuchen "klar zu machen, worin die Natur dieser Unergründlichkeit selber besteht". Das Höchstergebnis dieser theoretischen Überlegung kann in folgenden Thesen formuliert werden:
a) das Böse ist nicht absolut;
b) Gott ist absolut;
c) eine Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des Bösen aus Gott ist unmöglich zu geben: es ist ein Geheimnis "seines grundlosen Auftauchens als ein unverständliches Herausfallen aus dem Sein, als seiende, von Sein erfüllte, seinswidrige Realität des 'Abgrundes', 'Abfalls'"(4).3) Theoretische Gründe
Theoretisch formuliert kann man den Ursprung des Bösen aus dem göttlichen Urgrund mit Hilfe einer universellen Formel der Frankschen Philosophie - der Formel des "thetischen" Urteils "X ist A" - ausdrücken.
Die Gottheit ist eine All-Einheit. Das bedeutet, dass sie einen "überschüssigen" Inhalt hat; so als ob sie über die Ränder der beliebigen Sphäre "überfliesst", mit deren Hilfe wir versuchen, sie zu bestimmen. Sie hat außerhalb ihrer Grenze nichts Äußeres. Der Mensch ist verdammt, nur in Form von Begriffen zu denken. Aber die Realität von Gott kann man unter der Form des Begriffes nicht herbeiführen. Gott ist transrational: er bleibt für uns für immer ein Geheimnis, ein X.
Das Böse existiert, weil es "ist". Also ist es auf irgendeine Weise mit dem Urgrund des menschlichen Daseins und der Welt verbunden, die als eine alleinheitliche Gottheit existiert: "X ist A".
Wenn Frank die Tatsache solcher Entstehung feststellt, kann es scheinen, dass er den Gedanken nicht zu Ende führt, weil er ihren Mechanismus nicht erklärt. Dieser Vorwurf ist jedoch unberechtigt. Wenn man den Zusammenhang erklärt, so bedeutet das, dass man das Rätsel des göttlichen Schaffens löst. Der Mensch kann lediglich die Tatsache der Schöpfung von der Konkretheit feststellen ("X ist A"), einige Vermutungen äußern, wie das geschieht, und die Eigenart ihres Inhalts beschreiben, den Mechanismus der Schöpfung jedoch nicht erklären. Das Geheimnis der Theodizee liegt entweder im göttlichen Schaffen selbst oder im Geheimnis des Geschaffenen verborgen, was nicht vorausbestimmt wurde.
Der höchste Gradmesser der Existenz jeder beliebigen Erscheinung ist für Frank ihre Gegebenheit in der Erfahrung. Aber nicht nur das. Genau so relevant ist der Kennwert der Gegebenheit der Erscheinung in einem Wort, in einem Begriff, das auf der Vorstellung vom intellektuell-intuitiven Charakter des "lebendigen Wissens" (= Wissen als "denkendes Erleben") beruht. Das Wort ist eine ausgesprochene Idee, eine Realität. Wenn wir einen Begriff für Etwas haben, bedeutet es, dass dieses Etwas real ist und dass wir das potentielle Wissen von diesem Etwas besitzen(5). Jedoch das Wort selbst soll eine Möglichkeit geben, die von ihm widergespiegelte Realität zu interpretieren. Die Negation der ontologischen Realität des Nichts gründet sich auf den Bedeutungsmangel dieses Wortes. "... das im absoluten Sinn, als etwas an sich Seiendes gefasste «Nichts» undenkbar ist und nichts bedeutet"(6). Dies ist ein weiterer Grund für den Verzicht auf eine ausführliche theoretische Erklärung des Problems der Theodizee.
Folglich ist das Problem theoretisch unlösbar. Es kann nur konkret gelöst werden.
Um die Lösung des Problems der Theodizee zu finden, muss man den Ort bestimmen, in dem das Böse entsteht. "Der Ort der grundlosen Urzeugung des Bösen ist jener Ort in der Realität, wo sie aus Gott geboren und in Gott seiend aufhört, Gott zu sein. Das Böse entsteht aus dem unsagbaren Abgrund, der gewissermaßen genau auf der Schwelle zwischen Gott und "Nicht-Gott" liegt". Das Böse ist "Nicht-Sein in mir"(7).
Daraus ergibt sich Schlussfolgerung, die für die praktische Ethik äußerst wichtig ist: Weder die Welt noch die äußere Realität ist für das Böse verantwortlich, sondern der Mensch selbst. Diese Schlussfolgerung hilft, eine der Bedeutungen des Begriffs "Welt" in der Philosophie von Frank zu erkennen. Von der gewöhnlichen Bedeutung des Wortes ausgehend, assoziiert sich die "Welt" vor allem mit etwas Äußerem im Verhältnis zum Menschen. Andernfalls benötigt dieser Begriff eine Konkretisierung, z. B. "die innere Welt des Menschen". Die Paradoxie der Bestimmung dieses Begriffs von Frank besteht darin, dass sich die Welt sozusagen aus dem ontologischen Urgrund der Person, dem geistigen Leben, entwickelt: "... das "weltliche Sein" seiner Natur nach mit dem zusammenfähllt, was ich als das letzte Wesen meines Ich erfahre"(8).
Das gewöhnliche menschliche Bewusstsein sieht die Quelle des Bösen entweder in der Außenwelt oder in den Mächten, die in der menschlichen Seele durch unbekannte Weise entstehen und, sozusagen, diese "erfassen". Im Begriff "Welt" stellt Frank eine gewisse Tatsache fest, die vom verantwortlichen moralischen Bewusstsein nicht abgelehnt werden kann: die Außenwelt hängt in vielem von der inneren Welt des Menschen ab. Der Grad ihrer Moral ist dadurch definiert, wie hoch die moralische Verantwortlichkeit jedes einzelnen Menschen ist. Hier kann man eine Ähnlichkeit zwischen Simon Frank und dem berühmten russischen Schriftsteller Leo Tolstoj erkennen, der auch zuallererst nicht an den sozialen Aufbau, sondern an die persönliche Tat des Menschen glaubte.
Der Begriff "Welt" wird von Frank auch darum in seiner spezifischen Bedeutung eingeführt, um dem Menschen keine Möglichkeit zu geben, kein Schuldbewusstsein zu haben und die Verantwortlichkeit für das Böse zu leugnen. Darin besteht das Wesen der möglichen konkreten Lösung des Theodizeeproblems: "Und da alles Begreifen bzw. Ergründen letzten Endes ein Erfassen des Zusammenhangs mit dem Urgrund, mit Gott ist -, so wird gerade dadurch das Böse als Grundlosigkeit und Nichtsein überwunden und die gestörte Einheit mit Gott wiederherstellt. Das einzig mögliche Begreifen des Bösen ist seine Überwindung und Tilgung im Schuldbewusstsein. Eine rationale und abstrakte Theodizee ist unmöglich; aber eine lebendige Theodizee, die nicht im Denken, sondern im Leben erreicht werden kann, ist bei all ihrer Unergründlichkeit und Transrationalität möglich"(9).
Gott hat dem Menschen die Freiheit gegeben. Dies ist kein leichtes Geschenk. Freiheit bedeutet in erster Linie Verantwortlichkeit. Indem der Mensch die Verantwortung für das Böse auf Gott, auf die ihm von außen erfassten bösen Mächte, auf die Außenwelt, auf die anderen Menschen usw. abschiebt, wird er unfrei. Das bedeutet, er ist nicht mehr er selbst, weil die Freiheit sein eigenes Wesen bestimmt.
Das Begreifen des Theodizeeproblems in den "lebendigen" Kategorien der persönlichen Verantwortlichkeit und der Schuld führt Frank zur Notwendigkeit, Antwort auf die Frage zu geben, auf welche Weise diese Schuld überwunden werden kann. Seine Antwort ist: durch Leiden. Das menschliche Sein ist voll von Leiden, was bedeutet, dass das Leiden einen Sinn haben muss. Das Streben, Realist zu sein, verpflichtet Frank, Erklärungen für diese Tatsachen zu suchen: "Wenn das Leiden überhaupt keinen Sinn hat, keine Rechtfertigung ..., so bleibt unser ganzen Sein sinnlos, trotzt der Selbstevidenz seines göttlichen Urgrundes"(10).
Leiden zerstört die Harmonie menschlichen Lebens und erscheint somit als etwas Böses für den Menschen. Das Böse aber ist ein Phänomen ohne idealen Inhalt. Grundsätzlich unterscheidet sich das Leiden vom Bösen dadurch, dass es seinen Grund in Gott, das bedeutet, Sinn hat: "Das reine Wesen des Leidens zeigt sich uns in jeder Form seiner Überwindung, die in der geistigen Annahme und ihm Erdulden des Leidens besteht, - in unserer Fähigkeit, es bis ans Ende durchzustehen"(11).
In einem seiner Beiträge - "Die Kirche und die Welt, der Segen und das Gesetz" (1927) - nannte Frank "die Verbrennung und das Verschwinden des weltlichen Elementes im Feuer des gottmenschlichen Lebens" als Hauptmittel der Umwandlung oder "Kirchenverwirklichung" der Welt(12). Wahrscheinlich fand er im Phänomen des Leidens diejenige konkrete Form, in der diese Verbrennung des weltlichen Elements, also seine Verklärung, möglich ist. Die lebendige Intuition des Seins hat viele Formen ihrer Verwirklichung: die Erfahrung des Erlebens der Schönheit, der Liebe sowie das mystische Erleben; das Leiden ist eine dieser Formen. Dies ist der Weg zum Begreifen des höchsten Geheimnisses des göttlichen Urgrunds und es ist der kürzeste Weg, weil er dieses Geheimnis mit großer Evidenz eröffnet.
Gemäß dem Kommentar Franks beruht das von ihm vorgeschlagene Verständnis des Theodizeeproblems auf der Bibelgeschichte über den Sündenfall der Welt. Die vorgeschlagene konkrete Lösung, laut der man die persönliche Verantwortung für das Böse erkennen muss, ist nichts anderes als die Interpretation des Gebots, nicht fremde, sondern seine eigene Schuld zu suchen.
Seine eigene Philosophie kann man schlussfolgernd als Versuch darstellen, über die ewigen Bibelwahrheiten nachzudenken, was in seinem gesamten Ausmaß in seinem späteren Werk "Das Licht in der Finsternis" (1949)(13) realisiert worden ist. Wahrscheinlich prägten solche Überlegungen auch die Methode, die Frank in diesem Werk benutzt: die Postulate eigener Weltanschauung werden als Kommentare zu den Bibelwahrheiten betrachtet und durch Beispiele aus seiner Lebenserfahrung versetzt. Frank benutzt die Bibelgebote nicht, um die Richtigkeit seiner eigenen Philosophie zu beweisen, es ist vielmehr ein Vergleich eigener phänomenologischer Erfahrung mit der biblischen phänomenologischen Erfahrung.
Wagen wir zu behaupten, dass man die Themen vom Bösem und Leiden den Hauptthemen und wesentlichen Grundlagen des Schaffens von Frank in der Emigration zurechnen kann. Unter Berücksichtigung ihrer Bedeutung in der allgemeinen philosophischen Weltanschauung Franks kann man seine Philosophie beispielsweise mit der Philosophie des Buddhismus vergleichen, die sich aus der Notwendigkeit entwickelt, diese zwei Tatsachen zu begreifen.
Die Kommentare von Frank selbst berücksichtigend, bestimmen wir in Thesen die hauptsächlichen Unterschiede, ohne auf die Einzelheiten des Vergleichs dieser beiden Philosophien einzugehen:
а ) die Welt ist keine Illusion, sondern Realität, deren Existenz der Mensch akzeptieren muss;
b) obwohl das Böse im absoluten Sinn nicht real ist, ist es real im empirischen Sinn;
с ) das vollkommene Leben ist nicht die Seligkeit der Ruhe "im Sinne eines durch nicht getrübten Glückes, einer unversehrten Freude und eines Genießen"(14);
d) das Leiden ist nichts Böses, deshalb verlangt es keine eigene Behebung. Das Leiden ist der kürzeste Weg zu Gott. Das bedeutet, es muss erlebt werden.
Auf den ersten Blick scheint es, als ob das Problem der Theodizee keine besonders wichtige Frage in Franks Schaffen sei, weder in der Religionsontologie von Frank noch in seinem Gesamtwerk, da er es nur auf den letzten Seiten des "Unergründlichen" diskutiert(15). Dem ist jedoch nicht so. Das Problem des Ursprungs des Bösen ist eines der zentralen Themen seines Schaffens. Man kann zu dieser Schlussfolgerung kommen, wenn man nicht nur seine "großen" philosophischen Werke, sondern auch sein "kleines" Schaffen - die Aufsätze - berücksichtigt. Die meisten von ihnen sind den Ereignissen gewidmet, die die Tatsache der Existenz des Bösen in der Gesellschaft offensichtlich machten. Das waren der Erste Weltkrieg und die sozialistische Oktoberrevolution in Russland.
Man kann dieser Thematik auch die Frankschen Aufsätze zuordnen, die der Analyse des Ideennachlasses der russischen Literaten, in erster Linie Fedor Dostoevskij, auch Nikolaj Gogol, Alexander Puschkin, Leo Tolstoj, Maxim Gorkij gewidmet sind. Frank behauptet, dass das Böse eine geistige Erscheinung sei. Er meint ebenfalls, dass das Genie des Dichters und des Schriftstellers immer der lebhafteste Ausdruck der Menschenseele in ihrem ontologischen Urgrund ist. Wenn man diese Thesen in Betracht zieht, wird offenbar, dass Frank die Werke der literarischen Genies als eine Art "Erforschung" des Problems des Kampfes zwischen dem Guten und dem Bösen in der Menschenseele betrachtet.
Franks Interesse am Theodizeeproblem und die von ihm vorgeschlagene Weise seines Begreifens haben ihre Gründe auch im privaten Leben des Philosophen. Die Oktoberrevolution, die für Frank das Problem der Existenz des Bösen mit dem höchsten Grad der Evidenz eröffnete, zerstörte sein wohlversorgtes Leben eines Universitätslektors, bereicherte ihn mit der Erfahrung des unmittelbaren Erlebens einer harten Realität und führte ihn zum Weg des Leidens, von dem er im Grunde genommen bis zum Ende seines Lebens nicht abkam(16).
Die Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des Bösen zu geben und das Leiden zu verstehen, bedeutete für ihn vor allem, die Frage nach dem Sinn seiner eigenen Existenz zu beantworten. Daraus folgte das Streben, den anderen Menschen mitzuteilen, was er persönlich in seinem Leben ertragen musste, das Streben, den Menschen den Glauben an Gott zurückzugeben und ihre Existenz zu verbessern.
Das Problem der Theodizee ist eines der zentralen Probleme in Franks Philosophie, die logische Fortsetzung seiner Sozialphilosophie und der Versuch, seine eigenen Erlebnisse zu deuten. Sein Lösungsansatz enthält dieselben Denkschemata wie seine frühen Texte (vor allem "Der Gegenstand des Wissens" 1915). Frank vertritt die Meinung, dass das Begreifen der persönlichen Verantwortung für das Böse, das demütige Erdulden des Bösen und die Liebe als höchster Wert unseres Lebens die Beweggründe darstellen, die den Menschen helfen können, einen Ausweg aus der Krise zu finden.
© Oksana Nazarova (München)
ANMERKUNGEN
(1) Frank S. Die gegenwärtige geistige Lage und Idee der negativen Theologie // Actes du 8 congrès international de Philosophie à Prague 2-7 Septembre 1934. Prague, 1936, S. 444-445.
(2) Nach Meinung von Frank kann es nicht nur um Atheisten gehen, sondern auch um Menschen, die sich für Gläubige halten, für die der Glaube an Gott jedoch keine Anleitung für ihr tatsächliches Benehmen ist. Wie Frank selbst in seiner späteren Philosophie formuliert, meint er "Pharisäer". Das heißt, dass Frank das Wesen des Problems tiefer als z.B. W. James betrachtet, für den die Aufgabe, Menschen von der Tatsache der Gottesexistenz zu überzeugen, eben auf Atheisten gerichtet ist.
(3) Frank, Simon. "Das Unergründliche". Freiburg-München, 1995, S. 447.
(4) Ebd., 458.
(5) Di e Logik, die ihn mit dem Thomismus vereinigt und von den russischen Kantianern kritisiert wurde.
(6) Ebd., 444.
(7) Ebd., 458.
(8) Ebd., 436.
(9) Ebd., 460.
(10) Ebd., 462.
(11) Ebd., 463.
(12) Frank, Simon. Zerkov i mir, blagodat i zakon // "Put". № 8, 1927, S. 15.
(13) Frank, Simon. Swet vo tme. Paris, 1949.
(14) Frank, Simon. "Das Unergründliche", S. 462.
(15) Diese Meinung drückt z.B. I. Evlampiev im Buch " Istorija russkoj metafiziki v XIX-XX vekach" (S.110) aus.
(16) Das wurde im Werk von P. Boobbyer eindrücklich beschreiben. (Boobbyer, P. S.L. Frank. The life and work of a russian philosopher 1877-1950. Athens, 1995.)
(17) Außer den Äußerungen von N. Losskij, V. Senkovskij, N. Berdjaev und G. Florovskij zu diesem Thema, die man schon als "klassisch" betrachten kann, ist auch das Buch von I. Evlampiev "Die Geschichte der russischen Metaphysik im XIX-XX Jh." ("Istorija russkoj metafiziki v XIX-XX vekach", Sankt-Petersburg, 2000, Band 2) und der Beitrag von Pater Ignatij Krekschin "Die Metaphysik des Bösen" ("Metafizika zla" // "Voprosi filosofii". Moskau, 2002, N 12) bemerkenswert. Als erster versucht Krekschin, von der oberflächlich-kritischen Beziehung zu Franks Metaphysik des Bösen zur Erklärung der theoretischen Grundlagen ihrer Lösung überzugehen.
3.1. Die globalen Probleme des modernen kulturellen Prozesses
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