Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. August 2006
 

5.2. Innovation and Reproduction in Austrian Literature and Film
Herausgeber | Editor | Éditeur: Donald G. Daviau (University of California/Wien)

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Michael Hanekes filmische Annäherung an Joseph Roths Roman Die Rebellion

Annette Daigger (Saarbrücken)
[BIO]

 

Moses Joseph Roth wurde am 2. September 1894 in Schwaby bei Brody (damals Galizien, nun Ukraine) geboren. Seine schulische Ausbildung absolvierte er in Brody im humanistischen Gymnasium, wo Deutsch noch Unterrichtssprache war. Anschließend studierte er in Lemberg, dann ab Sommer 1914 in Wien Germanistik, Philosophie, Psychologie, Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Ethnologie. 1916 wurde er eingezogen und im Frühjahr 1917 an die galizische Front versetzt, wo er im Pressedienst tätig war. Der Krieg war, wie für alle dieser Generation, ein gewaltsamer und grausiger Einbruch in sein Leben. 1918 kehrte er im Dezember nach Wien zurück in eine harte, farblos gewordene Welt. Sofort fand er eine Tätigkeit als Journalist. Zuerst arbeitete er für Der neue Tag (dessen Redakteur Bruno Karpeles war, ehemaliger Herausgeber von Der Friede). Von einem überaus produktiven Eifer erfasst, schrieb er über 100 Artikel für diese Tageszeitung, in denen das Thema "Heimkehr" einen Niederschlag fand. Er beschrieb die Schwierigkeiten der Menschen, sich in einem neuen Staatsgefüge zurechtzufinden. Der Übergang von der Monarchie zur Republik, die wirtschaftliche Neuordnung, die Missstände, die Ungerechtigkeiten und das Aufkommen von Kriegsneureichen bereiteten viele große Anpassungsprobleme. Ausgehend von einem Detail teilt er dem Leser seine Beobachtungen mit. So analysierte er zuerst das Verhalten eines Menschen und zieht daraus Reflexionen über soziale Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Dabei stellte er eine allgemeine Brutalisierung der menschlichen Beziehungen fest und versuchte die gesellschaftlichen Mechanismen herauszuarbeiten. Am 30 April 1920 stellte Der neue Tag sein Erscheinen ein. Da Wien damals, nach Alfred Polgar, "ausgedörrt war", fuhr Roth nach Berlin und fand dort die Möglichkeit als freier Mitarbeiter für einige Tageszeitungen zu schreiben. In seinen Artikeln zeichnete er sich als hochbegabter Feuilletonist aus, der Phantasie und Nachdenklichkeit paarte. Sein humanes Empfinden äußerte sich darin, dass er das Zeitgeschehen ins Menschliche umsetzte. Die Weltgeschichte reduzierte er auf das Persönliche. Durch die Schilderung von Einzelschicksalen klagte er den grenzenlosen Glauben an die Technik an, die die Menschen verführte, sich als Meister der Dinge zu fühlen und dabei zu vergessen, dass immer etwas Hintergründiges existiert, das sich nicht nach Menschenregeln fügt und so die Menschenpläne zunichte macht. Gegen Ende 1922 machte sich die Inflation in Deutschland immer bemerkbarer, Roth kehrte für einige Monate mit seiner jungen Frau nach Wien zurück, aber seine schriftstellerische Tätigkeit wurde in keiner Weise eingeschränkt. Kurz hintereinander schrieb er drei Romane, die er jeweils zuerst als Fortsetzungen in Tageszeitung und dann in Buchform veröffentlichte: Das Spinnennetz 7 Okt.-6. Nov. 1923 in Arbeiter-Zeitung, Das Hotel Savoy 9. Februar - 16. März 1924 in der Frankfurter Allgemeine Zeitung und vom 27.Juli bis zum 23. August 1924 den Roman Die Rebellion in Vorwärts. Alle drei Romane wurden bei dem Verlag Die Schmiede, Berlin, veröffentlicht. Alle haben als Thema die veränderten Lebensbedingungen und die Verunsicherungen, die der Krieg mit sich brachte. Sie wurden alle in der Zeit der verheerenden Inflation geschrieben, wo innerhalb von 11 Monaten die Reichsmark verfiel: im Vergleich zum Dollar im Juli 1922 1:400 gehandelt, dann schon am 1.1.1923 1: 9.000, am 1.6.1: 100.000, danach fügte sich jeden Monat eine zusätzliche Null an, bis schließlich am 15.11 die Grenze von 4,2 Billionen Reichsmark für 1 Dollar erreicht wurde! Diese Ereignisse kommen in den drei Romanen nicht direkt vor, können aber nicht ausgeblendet werden, denn Joseph Roth ist fest davon überzeugt, dass diese Nachwirkung des Krieges nicht nur die Staaten sondern auch die kleinen Leute stark geprägt hat und sie sich nun in einer ganz neu strukturierten Welt politisch, wirtschaftlich und moralisch zurechtfinden mussten. So auch Andreas Pum, die zentrale Figur des Romans Die Rebellion. Durch sie zeigt Roth den zerstörerischen Effekt des Verlustes einer humanen Ordnung exemplarisch auf. Andreas Pum, kriegsversehrt, glaubt weiterhin an die überlieferte Ordnung, an das Kaiserreich. Er hat ein kindliches unreflektiertes blindes Vertrauen zur Obrigkeit.

Die Regierung ist etwas, das über den Menschen liegt wie der Himmel über der Erde. Was von ihr kommt, kann gut oder böse sein, aber immer ist es groß und übermächtig, unerforscht und unerforschbar, wenn auch manchmal für gewöhnliche Menschen verständlich.

Es gibt Kameraden, die auf die Regierung schimpfen. Ihrer Meinung nach geschieht ihnen immer Unrecht. Als ob der Krieg nicht eine Notwendigkeit wäre! Als ob seine Folgen nicht selbstverständlich Schmerzen, Amputationen, Hunger und Not sein müssten! Was wollten sie? Sie hatten keinen Gott, keinen Kaiser, kein Vaterland. Sie waren wohl Heiden. "Heiden" ist der beste Ausdruck für Leute, die sich gegen alles wehren, was von der Regierung kommt(1)

Andreas Pum ordnet in seinen Gedanken Gott, Kaiser und Vaterland in einem undurchsichtigen Zusammenhang. Alle, die sich gegen diese Ordnung auflehnen, sind für ihn Heiden, und als der Staat zusammenbricht, vermochte er nicht umzudenken. Seine Weltanschauung ist eine sehr einfache, er wünscht sich nur ein behütetes Zuhause an der Seite einer Frau. Beim Verlassen des Hospizes, wo er seit seiner Kriegsverletzung lebte, besitzt er nur "eine Krücke und eine Lizenz und eine Auszeichnung." (S. 24) Er besorgt sich dann einen Leierkasten, der nicht nur Walzer und die schöne Loreley spielt, sondern auch die Nationalhymne. Er findet bei einer gestrandeten Existenz, einem arbeitslosen Metalldreher, eine Unterkunft in einem kleinen Zimmer und teilt nun dieses nachts mit Willi und seiner Freundin Klara. Das Motto Willis lautet "Ordnung muss sein". Eines Tages macht Andreas beim Spielen in einem Innenhof die Bekanntschaft mit einer am Vortag verwitweten Frau, Katharina Blumich, und deren Tochter Klara. Bald findet er bei ihr ein neues Heim und heiratet Katharina. Andreas Pum stand nun auf dem Höhepunkt seines Glückes: "Was war er doch für ein Glückspilz! Dergleichen Dinge geschahen nicht alle Tage, es waren keine gewöhnlichen Dinge, es waren Wunder" (S. 36) und ein paar Seiten weiter: "Ja, Andreas war glücklich. Ein göttliches Weib wärmte sein Lager und wandelte es in ein Paradies." (S. 41)

Um Andreas zu entlasten, wird ein Esel besorgt, Muli genannt. Die Harmonie ist vollkommen: Andreas stand "in dieser vollendeten Harmonie mit den irdischen und göttlichen Gesetzen, den Priestern ebenso nahe wie den Beamten der Regierung - wenn nicht ein ganz fremder Mann in Andreas Pums Leben getreten wäre, um es zu vernichten...." (S. 43). Dieser fremde Herr nennt sich Arnold. Er unterliegt der Versuchung, seiner Sekretärin, Fräulein Veronika Lenz, nachzustellen. Deren Verlobter bedroht Herrn Arnold, der klein beigibt und gegen seine Gewohnheit am Abend die Straßenbahn nimmt, um nach Hause zu fahren. Es kommt zu einem Eklat zwischen ihm und Andreas, weil er ihn als Simulant beschimpft. Andreas wird von der Straßenbahn verwiesen, glaubt sich in gutem Recht und weigert sich, seine Lizenz für den Leierkasten vorzuzeigen. Die Polizei kommt herbei, nimmt ihm seine Papiere weg, und plötzlich steht er da, herausgeworfen aus seinem fest gefügten Leben und gerät sehr schnell in die Willkür des Staates. Zuerst wirft ihn seine Frau aus der Wohnung, und er muss bei seinem Esel Zuflucht finden. Die ersten Zweifel an Gott werden sichtbar: "Wohnte Gott hinter den Sternen? Sah er den Jammer eines Menschen und rührte sich nicht? Was ging hinter dem eisigen Blau vor? Thronte ein Tyrann über der Welt, und seine Ungerechtigkeit war unermesslich wie sein Himmel?" (S. 65) Andreas versteht seinen Gott, seine Welt nicht mehr: "Gaben wir ihm Anlass, sich an uns zu rächen? Die ganze Welt so zu verändern, dass alles, was uns gut in ihr erschien, plötzlich schlecht ward?" (S.66). Nun beginnt der unaufhaltsame Abstieg von Andreas. Er wird selbst ein "Heide", was für ihn bedeutet, ein Mensch zu sein, der mit den Gesetzen in Konflikt kommt. Um 10.00 Uhr vor einem Gericht vorgeladen, wird er durch andere Ordnungshüter, Polizisten, verhindert, diesen Termin einzuhalten. Er versucht ständig auf der Polizeistation seinen Termin in Erinnerung zu rufen und wird immer zurückgewiesen. Als er schließlich vor dem Kommissar steht und seine Vorladung vor das Gericht nochmals zeigt, erhält er die Antwort: "Weshalb sagen Sie das nicht gleich?" Vom Zorn überwältigt, schlägt er mit seinem Stock auf den Schreibtisch und wird für 24 Stunden in Arrest gestellt.

"Ein Heide ist jetzt Andreas selbst. Er ist verhaftet worden. Man hat ihm die Lizenz genommen. Er ist, ohne Schuld, ein Heide geworden...zwar hat er nicht geraubt, aber er hat Gott verloren" (S. 79). Sein Leidensweg ist nicht beendet, er wird ins Gefängnis gebracht. Nun hadert er mit Gott und der Welt: "War Gott noch Gott, wenn er sich irrte?" (S. 89). Aus seiner Zelle sieht er Vögel und übernimmt, da er nun ganz an dem Rande der Gesellschaft gestellt ist, Verantwortung für sie. Aber auch im Gefängnis sind ihm die Menschen keine Hilfe. Als er vom Wächter eine Leiter verlangt, um die Vögel mit seinem Brot zu ernähren, bekommt er folgende Antwort: "Der Herr sorgt für die Vögel. Essen sie lieber das teure Brot allein" (S.95). Seine Antwort zeigt seine große Skepsis " Ist es so sicher, dass Gott für die Vögel sorgt?" Aus dem Gefängnis entlassen, wird für ihn die erste Handlung eine Art Rebellion. Er gönnt sich eine Bahnfahrt zweiter Klasse. "Er rebellierte gegen die ungeschriebenen und dennoch heiligen Gesetze der irdischen und der Bahnordnung, und sein trotziger Blick verriet den stillen und gutgekleideten Passagieren, dass er ein Rebell war" (S.101). In der Stadt angekommen macht er sich nun zum Vorsatz "zu rebellieren gegen die Welt, die Behörden, gegen die Regierung und gegen Gott" (102). Er findet bei Willi wieder eine Unterkunft und merkt auch bei ihm einen totalen Wandel. Im Geist der Zeit entpuppt sich Willi als Self-made-man, nennt sich jetzt Wilhelm Klinckowström und ist verantwortlich für die Toiletten oder die Garderoben der Cafés in der Stadt. Andreas Pum wird von ihm mit seiner alten Soldatenuniform eingestellt für die Toiletten des Cafés Halali. Er liest dort die Zeitungen und erfreut sich der mörderischen Taten: "Die Verbrecher, die "Heiden", waren seine stillen Freunde geworden" (S. 114).

Der Tod wird Andreas in den Toiletten ereilen und das Ende der Romans nimmt phantastische Züge an. In einem Todestraum steht er vor Gott und kündigt ihm seinen Glauben auf: "Aus meiner frommen Demut bin ich erwacht zu rotem, rebellischem Trotz. Ich möchte Dich leugnen, Gott, wenn ich lebendig wäre und nicht vor Dir stünde" (S.118). Sein Zorn steigert sich bis zu dieser Aussage: "Gegen Dich rebelliere ich, nicht gegen jene" (S. 119). Aber ein letzter Zweifel bleibt ihm: "Ach, ich wollte, ich könnte Dich noch leugnen. Du aber bist da" (S.120). Seine Leiche, die die gleiche Nummer wie seine Gefängniszelle trägt, wird abgeholt und er dient zum letzten Mal demütig der Wissenschaft: seine Leiche kommt zum Sezieren in die Anatomie.

Das bescheidene Leben Andreas Pums, sein Sturz aus gefügten Bahnen durch von außen hereingebrochene Zufälle, widerspiegelt für Joseph Roth die Wirrungen und Irrungen seiner Zeit. Andreas ist in seinem unreflektierten Glauben an Gott, Staat, Religion, ein Paradebeispiel für die einfachen Menschen, die Krieg, Umsturz, Unsicherheit erduldet haben, sich aber in der neuen Gegebenheit nicht einordnen konnten.

Dieser sehr menschliche Roman Joseph Roths inspirierte gleich zweimal bekannte Regisseure: 1962 Wolfgang Staudte für das deutsche Fernsehen (mit Josef Meinrad, Ida Krottendorf und Fritz Eckhardt) und 1992 Michael Haneke für das österreichische Fernsehen mit folgenden Darstellern Branko Samarovski, Judith Pogany, Thierry van Werveke. Als Michael Haneke diesen Film drehte, war er kein Unbekannter mehr. Einige TV-Filme nach literarischen Vorlagen wie 1976 nach der Novelle Ingeborg Bachmanns Drei Wege zum See und 1984 Wer war Edgar Allan Poe nach einer Novelle von Peter Rosei brachten ihm die Aufmerksamkeit und das Lob der Kritik und sein erster Spielfilm, der viele Preise erhielt, lag hinter ihm: Der siebente Kontinent 1988. Seine Verfilmung von Die Rebellion wurde mit mehreren Preisen gekrönt.(2)

Wie steht Michael Haneke, der ein philosophisches Studium absolviert hat, zu der Novelle von Joseph Roth? Wie überträgt er dieses Schicksal eines einfachen Mannes in das Medium Film?

Haneke ist der Handlung der Novelle treu geblieben, prägte sie aber durch eine persönliche "Übersetzung" getreu den Richtlinien, die er in einem Interview mit Alexander Horwath anführte.(3) Er setzt die Kamera für die Szenen, die Andreas Pum betreffen, sehr minimalistisch ein, und es entstehen oft Einstellungen, die an den expressionistischen Film erinnern. Ein Sprecher übernimmt die Rolle des Erzählers, so dass Andreas sehr wortkarg bleibt. Der Schwerpunkt fokussiert sich auf seinen langsamen sozialen Abstieg, den er ziemlich hilflos hinnimmt.

Die Gleichstellung von Obrigkeit, Staat und Gott in seinem Geist wird im Film nicht hervorgehoben, und es ist auffallend, dass erst ganz zum Schluss, wo der gestorbene Andreas Pum vor dem "Jüngsten" Gericht steht und mit Gott hadert, die Problematik Gott zur Sprache kommt.

Die Umsetzung des Romans ins Medium Film ging vor allem in Richtung der Gesellschaftskritik, der Inhaber des Gesellschaftsapparates wie Polizei und Gericht, die ihre Macht willkürlich einsetzen.

Der Beginn des Niederganges von Andreas war die Auseinandersetzung in der Straßenbahn mit Herrn Arnold, der mit seinem Gerede die Kriegsverletzten als Simulanten abstempelte.

Die Teilnahmslosigkeit der Mitfahrer, ihre Gleichgültigkeit, das Beharren auf der kleinen Macht des Straßenbahnschaffners und später auch der Polizei zeigen eine Welt der kleinen Leute, wo Kampf und Macht durch das Verhalten und die Sprache ausgeübt werden. Die Absurdität dieser Kommunikation erreicht ihren Höhepunkt bei der Polizei. Eine Nahaufnahme von Andreas, wo sich sein Holzbein gegen eine grellweiße Wand scharf abhebt, erinnert sehr stark an expressionistische Mittel. Die Intensität der Bilder macht sie aus sich selbst heraus aussagekräftig.

Haneke zeigt plastisch die Veränderung des Lebens, die sich in Andreas vollzieht: nach der Szene von der Vertreibung durch seine erst vor kurzem geehelichte Frau, Katharina Blumich, aus seinem neuen Zuhause blendet die Kamera nochmals den gepflegten Innenhof ein und schwenkt dann hinüber zu dem heruntergekommenen Innenhof der Wohnung Willis, wo er Zuflucht findet. Der Abstieg wird immer stärker thematisiert, die Bilder werden düster und fokussieren auf das kleinste Detail: die Katze vor dem Gefängnis, den Tausch der eigenen Kleider mit der Gefängniskleidung, die Nummer 73. Diese Bilder werden in Zeitlupe wiedergegeben, gleichsam als würde die Zeit stehen bleiben.

Dazwischen geschnitten sind Rückblenden auf die glückliche Zeit mit farbigen Bildern. Und das Motiv der Vögel, die sich vor einem blinden Fenster abheben, alles rundherum ist dunkel, folgt dem Buchtext "sind Sie sicher, dass Gott für die Vögel sorgt?" und übernimmt eine metaphysische Dimension.

Am Ende des Filmes übernimmt Willi eine führende Funktion in der Resozialisierung von Andreas. Willi tritt dezidiert und in neuen Kleidern auf, ist er doch Chef der Toiletten der Café-Häuser der Stadt - so entwickelt er eine Self-made-man-Mentalität. Er hat die Idee, Andreas als Toilettenwächter einzustellen. Aber dafür muss Andreas die Kleider seiner früheren gesellschaftlichen Position anziehen, das heißt: seine Militäruniform. Willi holt die Uniform mit Chauffeur und Andreas bei Frau Katharina Blumich. Eine köstliche Szene, die in Bildern genau das ausdrückt, was in 8 Zeilen beschrieben wurde:

Die neue Uniform war noch vorhanden. Willi drohte mit einer Anzeige wegen des verkauften Leierkastens und erreichte, dass man ihm die Uniform sofort übergab. Er pfiff, und der Chauffeur, mit dem er dieses Zeichen verabredet hatte, kam. Willi überreichte ihm den Anzug, sagte drohend "Guten Abend" und ging. Der Unterinspektor war gewiß, soeben den Besuch eines großen Mannes erhalten zu haben. (108)

Hier treffen sich die Beobachtungs- und die erzählerische Gabe von Joseph Roth mit den filmischen Augen Michael Hanekes.

In der Szene der Verwandlung von Andreas Pum durch Willi bringt der Regisseur einen sehr ironischen Einfall. Andreas Pum wird in den alten Kaiser Franz Joseph verwandelt: gleicher Bart und Uniform. Er spannt einen Bogen zwischen diesem Roman und dem bekanntesten, Joseph Roths "Radetzkymarsch".

In dieser Aufmachung sitzt nun plötzlich Andreas in einer Toiletteneinrichtung von höchster Sauberkeit, alles ist weiß, von einem grellen Licht beleuchtet, mit einer Mischung von Jugendstil und Bauhaus, Ankündigung der hereinbrechenden Modernität. Der alte Mann sitzt da mit seinem Papagei wie eine Wachsfigur, heimatlos in diesem weißen Prunk In seinem Todestraum steht er nun vor dem "Jüngsten" Gericht (vor Gott und allen Protagonisten), spricht zornige Worte und leugnet Gott. "Gegen Gott rebelliere ich. Was bis du für ein Gott? Schick’ mich in die Hölle." Wie der Roman endet der Film mit dem Weggang von Willi, pfeifend durch einen langen und schmalen Korridor. Die strengen Strukturen des Raumes ersetzen die innere Bewegtheit Willis.

Die Frage nach dem Gelingen der literarischen Verfilmung und wie weit die Bilder des Filmes den Roman wiedergeben, kann man bejahen.

Michael Haneke ist dem roten Faden dieses Romans gefolgt, hat nur 1 Kapitel ausgeklammert, und zwar das, in dem der Werdegang von Herrn Arnold dargestellt ist und dessen Versuch Veronika Lenz, seine Sekretärin, zu verführen. Diese Gestalt, die im Roman und für Andreas Pum eine zentrale Rolle spielt, hat im Film keine Vorgeschichte. Haneke konzentriert sich mehr auf Katharina Blumich und ihre Tochter Anna, auf Willi und auf die Verkörperung der Staatsmacht Polizei. Er bettet seinen Film in das Zeitgeschehen ein. So werden zu Beginn Archivfilme des Ersten Weltkrieges gezeigt. In der Mitte des Filmes findet wiederum ein Einschub statt mit Archivfilmen von Massenprotesten in der Ersten Republik. Damit wird der langsame Abstieg von Andreas angekündigt. Diese Zusatzinformation ist ja für ein Publikum gedacht, das diese geschichtliche Epoche nicht mehr persönlich erfahren hat. Somit rückt diese Einblendung auf die Zeitgeschichte dem Zuschauer den historischen Hintergrund näher. Der Leierkasten von Andreas erhält im Film die Funktion eines Leitmotivs. Er wird immer farbig eingesetzt und im Zusammenhang mit Erinnerungen an eine schöne Zeit, gekoppelt mit Großaufnahmen von Anna. Der buntbemalte Leierkasten entspricht genau der Beschreibung im Roman:

Das Bild stellte die Szenerie eines Puppentheaters dar und einen Teil eines Stehparketts. Blonde und schwarze Kinder spähten in die Richtung der Bühne, auf der sich spannende Ereignisse vollzogen. Eine grau- und wirrhaarige Hexe hielt eine Zaubergabel in der Hand. Vor ihr standen zwei Kinder, auf deren Köpfen Geweihe wuchsen. Über den Kindern weidete eine Hirschkuh. Es war kein Zweifel, dass dieses Bild eine Verzauberung menschlicher Wesen durch ein böses Weib darstellen sollte. Andreas hatte niemals an die Möglichkeit solcher Ereignisse in der wirklichen Welt gedacht. (S. 20)

Die Kameraführung Hanekes übernimmt die Schreibweise Roths: Minutiös, auf viele kleine Details gerichtet, aus denen sich eine Gestalt, ein Geschehen herauskristallisieren. Das Spiel mit den Farben, ganze Abschnitte sind in Chamois wiedergegeben, dann wieder farbige Bilder. Dieser Kontrast zwischen chamois und farbig unterstützt das Erzählen durch plastische Aussagen. "Farbig" entspricht den glücklichen Momenten im Leben Andreas, chamois der schwierigen Gegenwart. Michael Haneke distanziert sich von der göttlichen Präsenz der literarischen Vorlage. So wird der lange innere Monolog von Andreas, als er, nach der Straßenbahnepisode und dem Zerwürfnis mit seiner Frau, anfängt, an Gott zu zweifeln, filmisch nicht transponiert. In diesem Monolog hatte Andreas seine ersten metaphysischen Anwandlungen, gepaart mit dem Zweifel an Gott: Wie kann Gott den Jammer eines Menschen überhören und die Frage nach Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Dieser Linie folgt Haneke nicht. Seine Interpretation weist vor allem auf den langsamen Abstieg eines Menschen hin, der durch zufällige Kettenreaktionen im Getriebe der Macht zermahlen wird. Die Frage nach Gott, nach der Vermischung von Politik, Ordnung und Religion ist im Film nicht vordergründig gestellt. Die zentrale Problematik ist das Schicksal eines Menschen, der durch Zufälle in das Labyrinth der Macht gerät und von ihr zugrunde gerichtet wird. Eine unterschwellige Gewalt, die nicht direkt ausgesprochen wird, ist aber durch das Spiel mit den Räumen, den schlichten Bildern und Großaufnahmen der Protagonisten ausgedrückt. Haneke führt eine sehr minimalistische Camera, die über die Geschichte Andreas Pums eine starke melancholische Note ausbreitet, was zu einer sehr gelungenen Ästhetisierung des Filmes beiträgt. Die Übersetzung von Literatur in Film ist mit dieser Verfilmung des Romans Die Rebellion von Joseph Roth modellhaft gelungen.

© Annette Daigger (Saarbrücken)


ANMERKUNGEN

(1) Joseph Roth: Die Rebellion. Köln: Kiepenheuer & Witsch (=Kiwi 907) 2005, S. 8

(2) Preise für die Verfilmung von Rebellion: Goldener Kater for "Best TV-Film",1994 "Fernsehpreis der österreichischen Volksbildung", 1994 und "Fernsehspielpreis der deutschen Akademie der darstellenden Künste", 1994)

(3) Haneke sagte: "Kunst muss eine Art Übersetzung leisten" und "Es geht nicht nur darum, etwas zu verstehen, sondern es auch zu empfinden" In: Christian Wessely: Michael Haneke und seine Filme. Marburg Schüren, 2005


5.2. Innovation and Reproduction in Austrian Literature and Film

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For quotation purposes:
Annette Daigger (Saarbrücken): Michael Hanekes filmische Annäherung an Joseph Roths Roman Die Rebellion. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/05_2/daigger16.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 11.8.2006     INST