Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. März 2006
 

5.4. OPEN AND CLOSED SYSTEMS: The Improbable Way towards an Equilibrium
Herausgeber | Editor | Éditeur: Manuel Durand-Barthez (Toulouse)

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Die Angst in der Kultur

Hermann Brochs Massenwahntheorie im historischen Kontext.

Wolfgang Müller-Funk (Universität Wien, Österreich)
[BIO]

I.

Es gibt zumindest drei bedeutende Untersuchungen über die Masse, die mit dem Kontext der österreichischen Kultur und Gesellschaft verbunden sind: Sigmund Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921), Hermann Brochs unvollendete Massenwahntheorie (1939 - 1948)(1) und, gleichsam als Postskript und nachgereichte kulturelle Reaktionsbildung, Elias Canettis Werk Masse und Macht (1960), dessen Anfänge in die späten 20er Jahre zurückreichen. Das Bild wäre unvollständig, würde man nicht mindestens drei literarische Werke aus dem österreichischen Kontext anführen. Da ist zum einen Ernst Weiß’ Roman Der Augenzeuge (1939), der für den zeitgenössischen Leser leicht entschlüsselbar als eine literarisch überformte psychologische Fallstudie über Hitler und seine Kunst der Massenverführung gelesen werden muß. Und da ist zum anderen Heimito von Doderers Roman Die Dämonen, ein Werk, das der Autor in den 30er Jahren begann und das er erst 1956 beendete. Das architektonische Zentrum des Romans bildet der Brand des Wiener Justizpalastes am 15. Juli 1927, das Ergebnis einer spontanen Massendemonstration sozialistischer Arbeiter, die wütend gegen ein Fehlurteil des Gerichtshofes protestierten. Doderer, der stillschweigend vom Nationalsozialismus bekehrte, antitotalitäre Konservative deutet den Protest der sozialistischen Arbeiter negativ im Sinn der parteiisch-bewuβtlosen Masse ohne Verantwortung für das Ganze:

Eine von der sozialdemokratischen Führung am folgenden Tage, dem 15. Juli 1927, keineswegs vorgesehene Demonstration brachte die Arbeiter auf die Beine und in die Innenstadt. Sie marschierten nicht, weil die Mörder eines Kindes und eines Kriegsinvaliden frei gingen. Sondern weil jenes Kind ein Arbeiterkind gewesen war und der Invalide ein Arbeiter. Die >Massen< verlangten die Klassenjustiz, gegen welche einstmals ihre Führer so oft vermeint hatten, auftreten zu müssen. Das Volk schäumte gegen das Urteil des Volksgerichtes, gegen sein eigenes Urteil. Damit war der Freiheit das Genick gebrochen; sie hielt sich auch in Österreich nur mehr durch kurze Zeit und künstlich aufrecht. Die sogenannten >Massen< setzten sich immer gerne kompakt auf die ins Blaue ragenden Äste der Freiheit. Aber sie müssen sie ansägen, sie können’s nicht anders; und dann bricht die ganze Krone zusammen. Wer den Massen angehört, hat die Freiheit schon verloren, da mag er sich setzen wohin er will. [...] Am selben Mittage noch brannte der Justizpalast lichterloh. Im Kampfe mit der Polizei, welche vor allem der Feuerwehr den Weg bahnen wollte, gab es eine schreckliche Unzahl Toter.(2)

Nicht zuletzt ist aber auf das Meisterwerk der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts zu verweisen, Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, in dem die Dimension der Massen durchaus eine wichtige Rolle spielt. Nicht nur werden im Roman die nationalen Revolten in der zweisprachigen Industriestadt Mähren beschrieben. Vielmehr legt das anvisierte Ende des Romans nahe, daß die eigentliche Lösung des Problems, der "Parallelaktion" einen repräsentativen und sinnstiftenden Bezugsrahmen zu geben - in überraschender Analogie zu Broch(3)-, der Massenwahn ist. Das private Schicksal von Clarisse und Moosbrugger antizipiert - was die Figuren nicht wissen, wohl aber der nachzeitige Leser - gleichsam den kollektiven Wahnsinn, in den "Kakanien" am Ende versinkt, wie die Skizze eines Gespräches zwischen Ulrich und Agathe über die "Flucht aus dem Frieden" am prospektiven Ende des Romans verdeutlicht:

Das Schattende des Todes wird plötzlich sichtbar. Des persönlichen Todes, ohne daß man etwas ausgerichtet hat u. unerachtet dessen das Leben weiter holpert u. seine Vergnügungen weiter entfaltet. In der Mobstimmung glauben übrigens alle Leute, dauernd auf Vergnügungen zu verzichten. [...]
Häuser - Hauchartige Masse, Niederschlag an sich darbietenden Flächen.
Außerhalb der Bindungen deformiert jeder Impuls des Menschen.
Der Mensch, der erst durch den Ausdruck wird, formt sich in den Formen der Gesellschaft. Er wird vergewaltigt u. erhält dadurch Oberfläche[...]
Er wird geformt durch die Rückwirkungen dessen, was er geschaffen hat. Zieht man sie ab, bleibt etwas Unbestimmtes, Ungestaltes. Die Mauern der Straßen strahlen Ideologien aus. [...]
U. [...] fühlt, wie der ganze Mensch in Unsicherheit geschleudert ist. Nach Ja u. Nein verlangt.(4)

Natürlich waren die österreichischen Intellektuellen und Literaten nicht die Erfinder dieses Diskurses über die Masse und die Massen. Aber immerhin scheint Österreich ein fruchtbares kulturelles Territorium für diesen Diskurs darzustellen, zum einen im Sinne Michel Foucaults wegen des archäologischen Blicks auf ein nicht mehr existierendes politisches Gebilde, zum anderen aber auch wegen der Instabilität des weltpolitisch nichtig gewordenen Nachkriegsösterreich. Immerhin, als Freud unter dem Eindruck des Zusammenbruchs der Monarchie seine Massenpsychologie verfaßte, sah er sich bereits mit anderen Werken konfrontiert, mit Le Bons Psychologie der Massen, das 1912 ins Deutsche übersetzt worden war, mit Kraškovics Die Psychologie der Kollektivitäten (1915), Trotters Instincts of the Herd in Peace and War sowie mit McDougalls The Group Mind(1920). Während sich die Analyse des akademischen Außenseiters Le Bon ganz offenkundig auf Erfahrungen der Vorkriegszeit, auf das von Streiks und radikalen populistischen Rechts- Bewegungen geschüttelte Frankreich zwischen 1871 und 1914 bezieht, gründen all die anderen Untersuchungen (einschließlich jene Freuds) auf der Bedeutung der Massen im ersten Weltkrieg, wobei die vollständige ideologische Mobilisierung unmittelbar zuvor und die bürgerkriegsähnlichen Entladungen danach in dieses historische Gesamtfeld eingeschlossen sind. Es ist kein Zufall, daß Brochs erste Replik auf das Phänomen "Masse", der Brief an Franz Blei, unmittelbar in das Jahr 1918 fällt.(5)

Die Epiphanie des ersten Weltkrieges, dem eine levee en masse in allen anderen Ländern vorausgeht, eine Aktualisierung der Massen, für die das Wort Kriegsbegeisterung ein verharmlosender Euphemismus ist, verändert den Diskurs über die Massen nachhaltig.(6) Denn bis dahin findet sich, sozusagen von Rosa Luxemburg bis Georges Sorel, eine durchaus positive theoretische Bezugnahme auf die unterdrückten proletarischen Massen, die- um mit Hegel zu sprechen- zu sich selbst kommen, zum historischen Subjekt werden, indem sie sich manifestieren. Die Ideen werden- so Marx- zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreifen. In diesem Radikaldemokratismus nach 1848 verändern die Massen auf eine militante, aber letztendlich doch ungrausame Weise die Welt in Richtung einer politisch wie ökonomisch demokratischen Gesellschaft.(7) Während hier also der historische Auftritt der Massen das Ergebnis eines hoch entwickelten Klassenbewußtseins ist, läßt der biologisch-anthropologische und psychologische Diskurs die Masse als leichtgläubige und manipulierbare Größe erscheinen, wie Freud hervorhebt. Insofern markieren die Idee eines spontan anwachsenden Bewußtsein in und durch die Masse einerseits und die Vorstellung einer unberechenbaren und bedrohlichen Massenhysterie andererseits die beiden Extrempole im Diskurs über die Massen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so bestimmend waren: hier Selbstbefreiung und Emanzipation, dort Unterwerfung und Fremdbestimmung.

Der erste Weltkrieg markiert dabei einen wichtigen Einschnitt in der Geschichte der modernen Massenbewegungen und des sie begleitenden Diskurses. Dieser Krieg begann wie gesagt in allen zivilisierten Ländern Europas mit einem kollektiven Enthusiasmus, einem Massenwahn, der sich vom Krieg kollektive Erlösung verspricht und kollektive Gemeinschaft erfahrbar macht. Der historische Auftritt der Massen in einem globalen, kollektiv erfahrenen Krieg offenbart die Verbindung von kollektiver Anonymität und Gewalt. Der moderne Krieg bedeutet nicht zuletzt: Massenvernichtung. Es war auch dieser erste "Weltkrieg", der die "Welt von Gestern" (Stefan Zweig), jenes alte halb liberale, halb autoritäre, semi-demokratische und semi-aristokratische System, unter sich begrub und durch einen historisch vollkommen neuen Typus von Massendemokratie ersetzte. Nach dem Ersten Weltkrieg avancierten die Massen unwiderruflich zu einem unhintergehbaren konstanten Faktor in Politik, Wirtschaft und Kultur.

Das alte paternalistische System -in der Doppelmonarchie, wie in England und dem Wilhelminischen Deutschland- war bis dahin relativ erfolgreich darin, diesen gesellschaftlichen Wandel zu verlangsamen und zu kanalisieren, wie er von radikalen sozialistischen, aber auch nationalistischen Gruppen gefordert wurde. Aber nach dem Ende des Ersten Weltkrieges griffen die bewährten Herrschaftstechniken nicht mehr. Die durch den Krieg entfesselten Massen forderten ihr Recht an politischer Mitbestimmung und an radikaler Umgestaltung der Gesellschaft ein. Neue politische Bewegungen wurden öffentlich, nicht zuletzt dadurch, daß sie sich auf der Straße zeigten: faschistisch- autoritäre und linksradikale kommunistische Bewegungen, aber auch die Frauenbewegung wurden zu Massenerscheinungen des politischen Lebens, die die Politik fortan ins Kalkül zu ziehen hatte.

Dieser radikale Wandel in Politik und Gesellschaft vollzog sich in Österreich besonders dramatisch, nicht zuletzt deshalb, weil dieser mit einem radikalen Identitätsverlust einherging.(8) Unversehens hatten die Menschen im Kernland der Monarchie ihre kulturelle und politische Heimat verloren, eben jenes eigentümliche polyethnische, aus einer langen Vergangenheit in die Moderne hineinragende Herrschaftsgebilde, das in den letzten Dekaden seiner Existenz ganz bestimmte, schier unnachahmliche Herrschaftstechniken des Ausbalancierens entwickelt hatte und das ausgesprochen vorsichtig und auch ängstlich gegenüber den aufkommenden modernen Massenbewegungen der unerlösten Klassen und Nationen agierte, wie Robert Musil es am Beispiel der Figur des Grafen Leinsdorf und des Generals Stumm von Bordwehr im Mann ohne Eigenschaften exemplifiziert. Letzterer leitet die Legitimation eines aufgeklärten Paternalismus unmittelbar aus der Anfälligkeit der Massen ab. Kakanien wird in diesem weise-abgeklärten Autoritarismus abermals zur ganzen Welt:

"Das ist die Psychologie der Masse, Erlaucht!" mischte sich der gelehrte General wieder ein. "Soweit es die Masse angeht, versteh ich das sehr gut. Die Masse wird nur von Trieben bewegt und dann natürlich von denen, die den meisten Individuen gemeinsam sind: das ist logisch, sie benützen logische Gedanken gerade nur zum Aufputzen! Wovon sie sich wirklich leiten lassen, das ist einzig und allein die Suggestion! Wenn Sie mir die Zeitungen, den Rundfunk, die Lichtspielindustrie und vielleicht noch ein paar andere Kulturmittel überantworten, so verpflichte ich mich, in ein paar Jahren -wie mein Freund Ulrich einmal gesagt hat- aus den Menschen Menschenfresser zu machen! Gerade darum braucht die Menschheit ja auch eine starke Führung!"(9)

Der Erste Weltkrieg hat nicht zuletzt die Welt der herrschenden Klassen zerstört. Diese irritierende "Störerfahrung" (Peter Sloterdijk)(10) erzeugte -kulturwissenschaftlich gesprochen- das Bedürfnis nach symbolischer Klärung. Diese Krise ist es, der die österreichische Literatur der "klassischen Moderne" ihre ungeheure Produktivität verdankt. Und in diesem kulturellen und politischen Umfeld muß man auch die durch und durch ambivalente Faszination österreichischer Intellektueller und Schriftsteller für das Phänomen der Masse ansiedeln. Autoren wie Broch und Musil, aber auch Freud und Canetti versuchen- auch wenn sie es nicht immer thematisieren- zu verstehen, was nach dem Untergang des alten Imperiums geschehen ist. All ihre analytischen Anstrengungen zielen letztendlich darauf ab, den Aufstieg der Massen als einen unvermeidlichen Faktor modernen kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Lebens zu begreifen. Der Prozeß, den sie beschrieben haben, ist bis heute nicht zu einem Ende gekommen, auch wenn sich die Erscheinungsformen der Massen verändert haben.

Der Brand des Justizpalastes war vermutlich kein welterschütterndes Ereignis, ebensowenig wie die Ereignisse von 1934 und die Etablierung einer halbfaschistischen, spezifisch österreichischen Rechtsbewegung, die, um mit Marx zu sprechen, mit dem italienischen Faschismus verglichen, sich als eine Farce ausnahm. Aber mit Hitlers triumphalem Auftritt auf dem Heldenplatz anno 1938- eine so eindringliche wie erschreckende Offenbarung der Masse- kehrte Österreich, wenigstens für einen kurzen Augenblick, auf die Bühne des Weltgeschehens zurück. Aber was die Ereignisse von 1927, 1934 und 1938 so bedeutsam macht, ist, daß sie, weit über ihre marginale oder nicht-marginale historische Bedeutung hinaus, eine generelle symptomatische Bedeutung besitzen. Sie lassen sich wie ein politisches und ein kulturtheoretisches Lehrstück betrachten. Auf diese Weise haben sie Broch, Musil und auch Doderer gelesen. Aber während sich Doderer und Weiß ganz direkt mit dem historischen Kontext beschäftigen, versuchen Canetti und Broch den Eindruck zu vermeiden, es seien eben diese spezifisch österreichischen Ereignisse, die für ihre Theorien der Masse bestimmend gewesen sind. Wir wissen im Fall Canettis aus seiner Autobiographie, daß es zwei prägende Initialerlebnisse gewesen sind, die in dem jungen, nach Wien gekommenen Intellektuellen einen tiefen Eindruck hinterlassen haben: der Auftritt der Massen im Sport, im Fuβballstadium von Rapid Wien in Hütteldorf und der Justizpalastbrand. Und wie so ganz anders als der Rückblick Doderers nimmt sich der ebenfalls retrospektivische Augenschein Canettis aus. Im Nachhinein wird der 15. Juli zum Schlüssel- und Initialerlebnis für die eigene Theorie der Masse:

Ein für allemal hatte ich hier erlebt, was ich später eine offene Masse nannte, ihre Bildung durch das Zusammenfließen von Menschen aus allen Teilen der Stadt, in langen, unbeirrbaren, unablenkbaren Zügen, deren Richtung bestimmt war durch die Position des Gebäudes, das den Namen der Justiz trug, aber durch den Fehlspruch das Unrecht verkörperte. Ich habe erlebt, daß die Masse zerfallen muß und wie sie diesen Zerfall fürchtet; daß sie sich selbst im Feuer sieht, das sie entzündet, und um ihren Zerfall herumkommt, solange dieses Feuer besteht.[...]

Ich erkannte, daß die Masse keinen Führer braucht, um sich zu bilden, den bisherigen Theorien über sie zum Trotz. Einen Tag lang hatte ich hier eine Masse vor Augen, die sich ohne Führer gebildet hatte.(11)

Broch wiederum bezieht sich in seinen verschiedenen Versionen einer Theorie des Massenwahns lediglich in seinem Vorschlag zur Gründung eines Instituts zur Erforschung des Massenwahns auf den historischen Hintergrund seines Projekts, freilich recht kursorisch, indem er recht allgemein argumentiert, daß " die Gefährdung des Menschen durch massenmäβig orientierte Geistesverwirrung [...] ein offenes Geheimnis und eben hiedurch auch ein offenes Problem sei" (KW 12,11). Ähnlich wie Canetti versucht Broch den Eindruck zu vermeiden, daß er das Material für seine Untersuchung in erster Linie aus den unmittelbaren politischen und historischen Ereignissen bezieht.

Ganz offenkundig verfolgt Broch- wie Canetti und Freud- in seinem Projekt das Ziel, ein theoretisches Konzept zu erstellen, das eine allgemeine und breite universale Gültigkeit für sich reklamiert. Die Theorie des Massenwahns versteht er nicht als eine spezifische Fallstudie über die nationalsozialistische Massenbewegung. Eine Theorie der Masse muß imstande sein, ganz generell, die verheerende Neigung des Menschen, sich in der Masse zu formieren, zu erklären, jener Masse, die seine moralische Verantwortlichkeit tilgt und die es gestattet, zu Außenseitern deklarierte Menschen auf die grausamste Weise zu massakrieren. Das Phänomen moderner gewaltbereiter Massen stellt eine der bedeutsamsten Störerfahrungen für den traditionellen Humanismus (und dessen Selbstbildlichkeit) sowie für das klassische Konzept von Aufklärung dar: sobald sich Menschen in Massen organisieren, sind sie potentiell in der Lage, jedwedes "humanes" Verhalten und jedwede Fähigkeit zur Selbstverantwortung abzustreifen und zu >vergessen<.

Was Brochs unvollendetes, mehrere Fassungen enthaltendes Projekt, das in der Sekundärliteratur nur allzu häufig als Kommentar und Beigabe zu seinem Romanwerk gelesen worden ist, so anziehend und anregend erscheinen läßt, ist die Tatsache, daß diese Irritation, diese "Sorge" (im schweren Sinn von Heideggers Sein und Zeit) in die tastenden und zögernden theoretischen Anläufe eingeschrieben ist, das offene Problem der Verbindungen zwischen Masse, Wahn und Gewalt zu klären. Im Unterschied zu Canetti und zu Freud (jedenfalls dem Freud von 1921, Das Unbehagen in der Kultur [1930] spricht eine andere Sprache) stellt sich Broch die Frage nach Alternativen und Antworten. Seine Psychologie der Politik ist darin konsequent, daß sie nach einer kollektiven Therapie Ausschau hält. Die offene, zuweilen auch inkohärente Struktur seiner Argumentation und die post-humanistische Sorge um die politische Zukunft der westlichen Welt, die er mit der Brieffreundin Hannah Arendt teilt(12), steht in auffälligem Gegensatz zum -vorsichtig gesprochen- politischen Gleichmut Freuds und Canettis. Während Freud, etwa in seinem berühmten Brief an Einstein, sich in Gelassenheit und gedämpfter Zuversicht übt,(13) betrachtet Canetti, der sich ganz offenkundig als ein Anti-Freud verstanden hat(14), Masse und Macht als ein unaufhebbares menschliches Desaster. Jenseits der aufklärenden Wirkung und des kathartischen Schocks, die der Befund selbst auslöst(15) gibt es keinen Ausweg aus dieser Welt der Grausamkeit, die auf anthropologischen Konstanten beruht.

Trotz aller philologischen Bemühungen ist Hermann Broch bis heute der Autor im Schatten anderer geblieben, jenem Freuds, Thomas Manns, Musils und Canettis. Aber im vorliegenden Fall läßt sich zeigen, daß sein Konzept des Massenwahns einen originellen Beitrag darstellt, der ganz und gar nicht, übrigens im Unterschied zu Ernst Weiß, der im "Augenzeugen" eine psychoanalytische Vulgata vorlegt(16), eine Kopie des Freudschen Ansatzes darstellt. Im Hinblick auf Canetti wiederum sind weniger die (ohnehin geringen) Gemeinsamkeiten als vielmehr der Kontrast der beiden Denkansätze von Belang. Obschon sich Canetti auch mit dem Phänomen des Wahns beschäftigt- interessanterweise aber nur im Zusammenhang mit seiner Phänomenologie der Macht- und obwohl er in einem Kapitel einige Massensymbole moderner Nationen analysiert (es gehört nicht zum besten Teil seines Buches), schenkt er doch sein Hauptaugenmerk der realen Bewegung und Entwicklung der Massen in ihrer physischen, ja fast physikalischen Eigendynamik. Während Canetti die Masse überwiegend als eine bedrohlich handgreifliche Entität beschreibt, bei deren Zustandekommen der symbolische "Überbau" eigentlich sekundär ist, laufen Brochs Überlegungen darauf hinaus, eben gerade diesen symbolischen Formen und den kollektiven mentalen und emotionalen Befindlichkeiten, die mit ihnen einhergehen, das Hauptaugenmerk zu schenken. Für Freud hingegen ist die Masse als Produktion des Unterbewußten vornehmlich ein libidinöser Vorgang, der in der Übertragung und Gegenübertragung zwischen Führer und Masse Gestalt annimmt.(17)

Demgegenüber ist Broch, vereinfacht gesprochen, der Theoretiker der symbolischen Formen und psychischen Befindlichkeiten der historischen und der modernen Massen.

 

II.

Wenn man die Lektüre von Brochs sprödem opus infinitum angeht, dann wird man sogleich jenes zögerlichen, vorsichtigen und provisorischen Duktus’ gewahr, mit dem sich Broch seinem "Gegenstand" der Untersuchungen und Forschungen nähert, der so real wie non-real und der vor allem vage und transitorisch ist. 1940, in einem Kommentar zum Roman Die Verzauberung, in dem er exemplarisch und modellhaft das Phänomen des Massenwahns in der überschaubaren Welt eines (österreichischen) Alpendorfes vorführt, schreibt Broch:

Zweifelsohne kann man ein massenpsychisches Geschehen durch >objective Darstellungen< lebendig machen: man kann einen Flagellantenzug darstellen, oder das Gebrüll bei einem Fußballmatch, oder die Volksmengen vor dem Reichskanzlerpalais, von dessen Balkon aus Hitlers merkwürdige Stimme ertönt, und man kann auch alle Pogromschrecken sehr anschaulich schildern; aber all diese Schilderungen sind - auch wenn sie einen historischen Hintergrund haben- gewissermaßen leere Behauptungen, sie sagen bloß aus, daß es massenpsychische Bewegungen gibt, verschweigen jedoch alles über deren eigentliche Funktion und Wirksamkeit. Will man hierüber Bescheid haben, so muß man die Einzelseele befragen, man muß sie fragen, warum und auf welche Weise sie jenem an sich unverständlichen Geschehen verfällt, welches wir massenpsychisches Verhalten nennen, ja, gerade die darin enthaltene Unverständlichkeit fordert zu solcher Befragung auf: innerhalb des Massenpsychischen ist der Einzelmensch ohneweiters bereit, die plumpsten Lügen als Wahrheit zu nehmen, sind Männer von großer Nüchternheit und Selbstkritik für die phantastischesten Unternehmungen zu gewinnen, brechen archaische Tendenzen auf, die man längst in dem Abgrund der Zeit gedacht hat, hebt ein mythisches Denken innerhalb aller Rationalität an, nur die Einzelseele, welche zur Beute solcher Unbegreiflichkeiten wird, vermag hierüber Aufschluß zu geben. (18)

Theoretisch expliziter formuliert das Broch im ersten Entwurf zu seiner Massenwahntheorie, im Vorschlag zur Gründung eines Forschungsinstitutes für politische Psychologie und zum Studium von Massenwahnerscheinungen (1939):

Nur Konkretes kann beobachtet werden, also konkrete Dinge in ihren konkreten Verhaltungsweisen. Das menschliche Einzelindividuum ist ein derartig konkretes Beobachtungs- und Untersuchungsobjekt. Eine Menschenmasse hingegen hat nicht die gleiche Konkretheitsdignität. (KW12, 13)

Die Masse stellt eine Zumutung und eine Herausforderung dar, moralisch wie epistemologisch. Das Problem hat augenscheinlich damit zu tun, daß sich die Masse nicht leicht klassifizieren läßt. Will man die Entstehung der Masse analysieren, so muß man auf die dahinterliegenden psychischen Beweggründe rekurrieren. Umgekehrt stellen Massen soziale Entitäten dar und sind somit klassische Gegenstände der Sozialwissenschaften, die sich mit sekundären "Gegenständen" beschäftigen und die von daher nicht die gleiche "Konkretheitsdignität" besitzen. Und schließlich sind Massen -im Terminus der Kulturwissenschaften- in bestimmte symbolische (und auch reale) Kontexte eingebettet, die mit Begriffen wie Narrative, Symbole und Medien angemessen umschrieben sind.

Die erkenntnistheoretischen Skrupel, einer traditionellen philosophischen episteme entsprungen, die den neuen Sozialwissenschaften mißtrauisch gegenübersteht (denn was Broch über die Masse sagt läßt sich cum grano salis über alle Kategorien des Sozialen sagen), stellt eine eminent wichtige Weichenstellung dar. Auch wenn Broch im folgenden durchaus soziale und ökonomische Faktoren für die Entstehung des Massenwahns gelten läßt und Sozialwissenschaften und Anthropologie als Fächer in sein transdisziplinäres Forschungsprojekt einbezieht, ist sein Ansatz im Kern antisoziologisch. Mit Broch läßt sich die Masse nicht als eine soziologische Kategorie oder als eine anthropologische Konstante denken (wie das Canetti tut), sie stellt sich vielmehr als ein ephemerer Effekt einer darunterliegenden prima causa dar, die sich für Broch vornehmlich im "Beziehungsdreieck" von Philosophie, Kulturwissenschaft und Psychologie schlüssig erklären läßt.

Freuds Modell besticht durch seine raffinierte Einfachheit und Eindeutigkeit. Da er im Führer das entscheidende Moment und den freilich seiner Motive unbewußten Komponisten und Arrangeur der Massen sieht(19), der im magischen Rapport von Übertragung und Gegenübertragung steht, ist Freud nicht wirklich an den Erscheinungsformen der Masse(n) selbst interessiert, sondern analysiert ihr Zustandekommen im vis à vis von Führer und Publikum vornehmlich als einen Effekt menschlichen Begehrens. Auf jeden Fall ist Freuds Ansatz universalistisch und anthropologisch und es gibt keinen Hinweis darauf, daß Kulturen und Epochen sich hinsichtlich des Massenphänomens unterscheiden können oder daß divergierende Symbolsysteme Hand in Hand mit verschiedenen Formen der Gruppenbildung und der Sozialisation gehen. Zudem ist Freud durchaus nicht an der Analyse von Ideogrammen, Narrativen, Symbolen, Bannern und Slogans interessiert, unter denen sich Massen scharen.

Auch Canettis Konzept ist, ungeachtet seines Mißtrauens gegen die Freudsche Psychoanalyse durch und durch universalistisch und anthropologisch. Das zeigt sich in seiner Unbekümmertheit, ethnographische Befunde und Beschreibungen nicht-europäischer Kulturen ganz unproblematisch mit Material aus dem Islam, dem Christentum und dem Judentum zu verknüpfen. Gegen Freud bestreitet Canetti die Bedeutung des Führers und sieht in ihm lediglich einen Effekt, nicht aber die Ursache für die Massenbildung. Weder spielen bei ihm symbolische Formen für die Entstehung der Massen eine signifikante Rolle, noch ist Canetti an einer psychoanalytischen Theorie interessiert, die die Masse als einen Effekt menschlicher Libido-Maximierung beschreibt. Aus der Perspektive des Einzelnen bietet -so Canettis verblüffende entrada- die Masse die einzige Möglichkeit, seine und ihre Berührungsfurcht vor Anderen, Fremden zu überwinden.(20) Diese elementare Scheu hat zwei Seiten: die Angst, jemanden zu berühren und die Angst, von jemandem berührt zu werden. Die Masse ist jenes Angebot an den einzelnen, diese Berührungsfurcht zu überwinden. Canetti liefert uns keine Erklärung dafür, warum es überhaupt eine solche Sehnsucht gibt, die Berührungsfurcht zu überwinden. Zwei Formen von Angst stehen dabei einander gegenüber: die Furcht vor der bedrohlichen Berührung und die Angst vor der Einsamkeit. Mit der Angst kommt ein Moment zum Tragen, das auf ganz andere, nämlich existenzphilosophische Weise bei Broch zentral ist. Mit Canetti und Broch und gegen Freud läßt sich daher konstatieren, daß nicht die Lust, wohl aber die Angst das treibende Motiv der Massenbildung darstellt.

Ungeachtet der Gegenläufigkeiten von Freud und Canetti, dem programmatischen Anti-Freudianer, sind strukturelle Gemeinsamkeiten der beiden Konzepte unübersehbar: beide operieren mit anthropologischen Universalien, die biologische Elemente enthalten: hier die Berührungsfurcht als gleichsam instinktive Abwehrreaktion, dort das vitale Werk einer unersättlichen Libido. Bei beiden sind die Grenzen zwischen biologischer und kultureller Anthropologie verwischt. Deshalb beschreibt Canetti die Masse wie einen physischen Gegenstand, wie eine Masse im physikalischen Sinn, als eine soziale Materie, die durchaus "Konkretheitsdignität" besitzt, und zwar infolge vier unabdingbarer, die Masse konstituierender Qualitäten: Wachstum, Richtung, Dichte und Gleichheit. Zwei dieser Qualitäten sind ganz unbestreitbar physikalischer Natur, nämlich Dichte und Richtung, während Wachstum auch mit biologischen Prozessen assoziiert werden könnte. Nur Gleichheit hat, über die naturwissenschaftliche Konnotation der Gleichförmigkeit hinaus, einen Bezug zur Welt des Sozialen und Politischen und macht nolens volens sichtbar, daß Massen vermutlich unter ganz speziellen politischen, sozialen und kulturellen Bedingungen historisch relevant und repräsentativ werden, nämlich unter solchen, in denen Gleichheit programmatisch und pathetisch eingefordert wird: wie zum Beispiel in Kommunismus und Nationalismus.

Broch liegt nichts an der physikalischen Konkretheit der Massen. Wie es der Titel seiner Unternehmung "Massenwahntheorie" nahe legt, unterscheidet sich Brochs Ansatz grundlegend von Canettis Vorgehensweise. Der enthusiastische Canetti-Leser mag sich von daher befremdet und enttäuscht von jenem unzusammenhängenden Konvolut von Entwürfen, Aufsätzen und Kapiteln abwenden, das Brochs Massenwahntheorie in Wirklichkeit darstellt.(21) Broch ist weder an der Physik der Massen interessiert und vermeidet auch den orthodoxen Freudschen Erklärungsansatz, obschon Broch, der sich selbst einer psychoanalytischen Behandlung unterzogen hatte, der Psychoanalyse keineswegs so feindlich gegenübersteht wie Canetti, der in Freud wohl eher eine dogmatische und autoritäre Vaterfigur sieht.(22) Die Spuren Freuds in Brochs Massenwahntheorie sind hingegen unverkennbar. Der Gebrauch von Begriffen wie Neurose, Psychose oder Hysterie ist Teil des zeitgenössischen psychologischen und darüber hinaus des psychoanalytischen Diskurses, ebenso wie die höchst problematische Verwendung von Wörtern wie "krank" und "gesund", die Broch in sein Konzept der Kultur als einer symbolischen Sublimationsmaschinerie eingeschmuggelt hat. Broch benützt psychoanalytisches Diskursmaterial, aber im Kontrast zu Freud, der die Masse wertneutral beschreibt, jedwede Krankheitszuschreibung vermeidet und auch auf die positiven Seiten der Masse verweist (Solidarität und Altruismus), vertritt Broch unmißverständlich die Ansicht, daß es sich bei dem psychischen Zustand, der zur Entstehung der Masse führt, um eine Art von Krankheitszustand handelt, um eine Abweichung von gesundheitlicher Normalität. In dem schon erwähnten ersten Entwurf bestimmt Broch Kultur als dynamische Kontrollinstanz und raffinierte Regulation des Irrationalen, die sich der instinktiven Triebe und metaphysischen Bedürfnisse bedient. Nebenbei bemerkt ist das ein Verständnis von Kultur, das im übrigen jenem Freuds im Unbehagen in der Kultur sehr nahe kommt, näher jedenfalls als jenem, das der Massenpsychologie zugrunde liegt.(23) Broch unterscheidet folgerichtig zwei Weisen mit diesen unabweislichen Forderungen umzugehen (und damit auch mit anderen Menschen und mit Kollektiven). Die erste Möglichkeit belegt er mit dem Neologismus "Irrationalbereicherung", das meint wohl eine Bereicherung des Irrationalen und eine Bereicherung durch das Irrationale. In dieser symbolischen Arbeit ist der einzelne Mensch oder auch eine gesamte Kultur imstande, eine Art von "Irrationalitätszuschuβ" hervorzubringen (KW 12). Dieser dient nicht nur zur Befriedigung der metaphysischen Bedürfnisse und des Trieblebens, sondern ermöglicht zugleich deren "kulturelle Umgestaltung zu Gemeinschafts- und Zusammengehörigkeitsgefühlen"( KW). Broch zielt damit auf eine ethisch begründete Lebensweise einer Sozietät ab, die einen kulturellen Zusammenhalt gewährleistet und die menschliche Existenz künstlerisch und ästhetisch zu gestalten vermag.

Den anderen, kontrastiven und letztendlich dysfunktionalen Fall beschreibt Broch umgekehrt als eine "Rationalverarmung": als Verarmung und Verlust der Rationalität und als Verarmung durch (Pseudo-)Rationalität. Das Individuum, die Gruppe und eine ganze Kultur büßen die Fähigkeit zur symbolischen Umgestaltung des Non-Rationalen ein. Das rationale Verhalten wird durch kollektive Instinkte ersetzt. Deren Pseudo-Rationalisierung ist eine unmittelbare Folge: weil viele Menschen diese irrationalen Triebhaltungen teilen, bekommen sie den Anschein von Legitimität. Die Wiederkehr unkontrollierter Instinkte, die ethische Normen außer Kraft setzt, bekommt einen ethischen Anstrich, weil sie massenhaft geschieht. (KW)

Interessanterweise hebt Broch hervor, daß die Unfähigkeit, mit Irrationalität auf symbolische Weise umzugehen, das Ergebnis von Furcht sein dürfte, aber nicht einer Berührungsfurcht wie bei Canetti, eines unwillkürlichen Abwehrreflexes, sondern einer Furcht vor dem Wahnsinn. Der Massenwahn ist die uneingestandene Angst vor dem Wahnsinn oder -wie wir heute vorsichtiger sagen würden- der Angst vor dem "Anderen der Vernunft"(24), während die Rationalität im Sinne Brochs die Fähigkeit darstellt sich diesem Anderen zu stellen.

Broch sprengt das Cartesianische cogito in seine beiden Bestandteile auf. Das cogito bezieht sich auf die Wahrheit der Erkenntnis und auf rationales Wissen, wohingegen das sum dem irrationalen Moment des Lebens und dem "Wert" zugeordnet ist. Den Ausdruck Wert, den Schuhmann zu Recht historisch auf Rudolf Hermann Lotze, Max Weber und Rickert rückbezieht(25) (es wäre indes auch an Georg Simmel zu denken, den Broch eifrig studiert hat(26)), darf hier nicht in einem verengten, moralisierenden Sinn verstanden werden, sondern meint im Grunde genommen eine normative Bezugnahme des Menschen auf seine Umgebung. Als Kernbegriff der Kultur bei Broch schlechthin darf "Wert" tendenziell mit den "symbolischen Formen" Cassirers in Beziehung gesetzt werden.(27)

Der Mensch hat gar keine andere Wahl, als sich die Welt in einem Akt von "Einverleibung" anzueignen. Die Körpermetapher steht für einen Prozeß handgreiflicher wie symbolischer Integration der äuβeren Welt in das "eigene" Ich dadurch, daß diese zu einem "Wert", zu einer symbolischen Form umgestaltet wird. Kultur bedeutet auf dieser Ebene eine Art und Weise der Partizipation, um die Welt vertraut zu machen, das heiβt mit anderen Worten: Ich- Erweiterung ( KW). Anders als bei Canetti geht es nicht um eine konkrete Furcht vor etwas, sondern eine unbestimmte, elementare Angst, die sich zur Panik zu steigern vermag, zu einem horror vacui, dem sich das Ego hilflos gegenübersieht.

[...] überall dort, wo das Ich in solchem Bestreben gehindert wird, überall, wo es an die Grenzen der "Fremd-Welt" stößt und sie nicht zu überschreiten vermag, überall dort entsteht des Wertes Gegen-Zustand, dort entsteht >Angst<: das Ich wird sich dann plötzlich seiner Verlassenheit und seiner a priori gegebenen Einsamkeit bewußt, es weiß um die metaphysische Einsamkeit seines Sterbens. (KW 12, 16f)

Hier befinden wir uns in der Welt des sterbenden Vergil. Brochs Analyse verschränkt einen existenzphilosophischen Befund mit einem kulturwissenschaftlichen Denkansatz. In existenzialistischer Perspektive stellt sich Kultur als etwas dar, das die elementare Angst des Menschen transzendiert. Umgekehrt erweisen sich jene Grenzphänomene, die nicht in das Ich integriert und nicht assimiliert werden können, als Symbole des Todes, als des Fremden, symbolisch Uneinholbaren schlechthin:

Alle Weltbestandteile, welche vom Ich nicht einverleibt sind oder nicht einverleibt werden können, wirken als Angstmahnungen, als Symbole der metaphysischen Angst, als Symbole der Todeseinsamkeit, als Symbole des Todes schlechthin. Sie sind Ich-fremd, und alles "Fremde" wird solcherart zum Angst-Symbol, m.a.W. wird zum Gegenstand der tiefsten metaphysischen Abneigung, zum symbolischen Objekt für den Todes-Haβ. Niemals wäre zu verstehen, daß ein weißer Fleck auf der Landkarte für die Menschheit derart beunruhigend sein könnte, wie er es eben ist, niemals wäre zu verstehen, daß zu seiner Bewältigung gefahrvolle und kostspielige Expeditionen in an sich höchst gleichgültige Gegenden geschickt werden, wenn er nicht jenes symbolische Beunruhigungselement in sich trüge, das eben das der metaphysischen Fremdheit ist, wenn durch seine Bewältigung nicht Wertgefühle ausgelöst werden würden, die weit über den praktischen Wert und die praktischen Ergebnisse einer geographischen Expedition hinausgingen. (KW12,17f)

Broch beschreibt im folgenden all jene verschiedenen Möglichkeiten und Ebenen der Erweiterung des Ego, sich die fremde Welt vertraut zu machen und so die elementare Angst zu bannen, wobei reale und materiale (Kleidung, Besitz und Macht), intersubjektive (Liebe und Gewalt), symbolische (rationale Erkenntnis) und illusionäre Ich- Erweiterungen (Rausch) unterschieden werden. Liebe und Gewalt sind als die Extrempole des "Durchbruchs zum Menschen" eigens herausgehoben.

Im "Entwurf für eine Theorie massenwahnartiger Erscheinungen" (KW 12,43-66) kommt der Autor noch einmal auf die beiden gegenläufigen Wege zu sprechen, mit der elementaren Furcht vor dem Fremden umzugehen: der eine, die "Irrationalbereicherung", besteht darin, diese elementare Angst zu akzeptieren und zu realisieren, der andere, die "Rationalverarmung", ist demgegenüber der Versuch, diese beiseitezuschieben und zu unterdrücken. Im ersten Fall erfährt sich das Ego als "Ich bin die Welt", im zweiten Fall als "Ich habe die Welt"( KW12);der erste ist das liebende Einlassen der Welt in mich, das zweite der Handgriff der Gewalt, um ihrer habhaft zu werden (wobei auch Broch davon ausgeht, daß es sich um eine idealtypische Beschreibung handelt und die diversen Mischungen zwischen den beiden die empirisch wahrscheinlichsten sind). Gewalt ist getragen von dem Wunsch, das Irritierende, das fremde Andere zu fassen zu bekommen, während Liebe das irritierende Andere sein läßt und vom Impetus getragen ist, daß es unmöglich ist, den Anderen/die Andere/das Andere zu integrieren- das nimmt bereits Emmanuel Levinas’ Phänomenologie des Alteritären vorweg, die dieser- ebenso wie Hannah Arendt mit und gegen Heidegger philosophierend- seit Ende der 40er Jahre Stück für Stück fortentwickelt hat. Wie der Tod stellt auch die Liebe die fast metaphysische Grenze des Möglichen dar, ein Territorium kulturell zu markieren.(28)

Broch faßt Kultur offenkundig in einem anderen Sinn als Freud. Sie stellt nicht nur ein System der Triebregulierung und Sublimation dar, sondern umschließt auch die Ich-Erweiterung und die Angstverminderung mit ein. Es besteht noch ein weiterer Unterschied zwischen Freud und dem Autor des Vergil-Romans: dieser sieht nämlich in der Religion den Kern der Kultur und das zentrale symbolische Mittel der Bearbeitung von Angst. So ist für Broch die Ekstase die höchste Form der Angstbefreiung, während demgegenüber die Panik den dramatischen Verlust der Hoffnung darstellt, sich von der unentrinnbaren Angst je freimachen zu können. Es ist die panische Konstellation, die am Anfang der Bildung der modernen Massen steht.

Im Unterschied zu Freud und Canetti betrachtet Broch im zweiten und dritten Entwurf die Massen auch unter historischen, kulturellen und sozioökonomischen Perspektiven. Es gibt Zeitalter und Dekaden, in denen massenpsychologische Phänomene eine herausragende Rolle spielen. Die Voraussetzungen dafür mögen sozial, kulturell oder politisch oder eine Kombination dieser Faktoren sein. Der Auftritt der Massen ist an die Existenz und die Struktur von Klassen, Staaten und Parteien gebunden oder auch an politische, ökonomische und natürliche Katastrophen, die auf der realen wie auf der Ebene von Wert und Symbol eine bestehende Sozietät in ihrer Existenz bedrohen. An einigen Stellen bezieht sich Broch ganz ausdrücklich auf spezifisch moderne Massenphänomene wie die Dominanz des Bildlichen in den Medien, das Paradigma des Sports, die Tyrannei des Geldes und des Messens ( KW12). All dies symbolisiert für Broch -ähnlich wie für T.S. Eliot oder Theodor W. Adorno- eine Sehnsucht von Massen, die von der Panik bedroht und heimgesucht werden: sie dienen gleichsam- heute muß man wohl sagen- als durchaus nicht unerfolgreiche Beruhigungsmittel metaphysischer Ängste.

In diesen Bereich gehört auch jener Aspekt der Masse, den Broch als "Superbefriedigung" bezeichnet. Er versteht darunter eine Zusatzbefriedigung: die Anästhesie der Angst, eine Art von Pseudo-Ekstase, mobilisiert kollektive aggressive Instinkte und zieht aus dem Mangel einen Surplus an Befriedigung und Lust ( KW12).

Broch setzt sich auch mit der Frage des Führers und seiner Bedeutung für die Masse auseinander. Er nimmt eine Mittelstellung ein zwischen Freud, der davon ausgeht, daß der Führer für das Entstehen der Masse unvermeidlich ist, und Canetti, der die Bedeutung des Führers vehement bestreitet. Der Führer, ein sekundäres Phänomen des "Massenwahn", erhält Broch zufolge seine historische prekäre Chance an einem entscheidenden Punkt. Er unterscheidet sich in puncto panischer Rationalverarmung in nichts von all den anderen Zeitgenossen; er ist vielmehr jener, der als Joker die entscheidende Leerstelle besetzt. Er verwandelt die Masse in eine historische Größe, indem er ihr Ziel und Richtung anweist. Wenn der Führer die Bühne der Geschichte betritt ist dies ein Indikator für das Ausmaß an kollektiver Verzweiflung. Brochs dualistisches Konzept, das stets die positive und gesunde Integration (bzw. Nichtintegration) des fremden Anderen seiner negativen, selbstzerstörerischen Verwerfung gegenüberstellt, nimmt auch hier eine Unterscheidung vor: hier der Religionsgründer, dort der dämonische Demagoge. Sie versinnbildlichen unterschiedliche Epochen und unterschiedliche Systeme von Glauben. Broch legt nahe, daß es einen intrinsischen Zusammenhang zwischen einem geschlossenen System, das auf einer ein für allemal fixierten Wertaxiomatik beruht, und einer geschlossen Masse gibt. Das offene System hingegen basiert unausgesprochen auf der Voraussetzung, daß die Welt unendlich ist und daß das Absolute nur einen unerreichbaren Bezugspunkt darstellt. Es ist potentiell imstande, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft auszubalancieren, in dem es ein Maximum materieller, emotionaler und epistemologischer Sicherheit bereitstellt (KW12). Es ist evident, daß Broch sein Konzept der Massen von Anfang an normativ angelegt hat. Der springende Punkt dabei ist, daß es nicht die westliche Zivilgesellschaft ist, die Broch als vorbildhaft apostrophiert, sondern die Augustinische civitas dei. Oder um einen Terminus aus heutigen Debatten der politischen Philosophie zu verwenden: Broch ist ein linksliberaler Kommunitarist.

Dies hat ganz offenkundig mit Brochs pessimistischer Grundhaltung gegenüber dem zeitgenössischen politischen Kontext zu tun. Während er, Kalte-Krieg-Mentalität vermeidend, den Sowjetkommunismus auf Grund seiner totalitären Züge ablehnt (so wie Hannah Arendt)(29) befindet sich für ihn die kapitalistische Gesellschaft im steten kulturellen Niedergang, wie Broch schon in der Schlafwandler-Trilogie, insbesondere im dritten Teil "Huguenau oder Die Sachlichkeit" dargelegt hatte. Huguenau, der Vertreter der neuen "Sachlichkeit", erweist sich als der erfolgreiche Repräsentant eines radikalen Wertenihilismus, der zugleich den panischen Massenwahn als geschichtliche Möglichkeit in sich birgt.

Die moderne kapitalistische Gesellschaft erzeugt ungeheuer viel, aber was sie nicht hervorbringt, das ist materielle, symbolische oder emotionale Sicherheit. So erscheint der Zusammenbruch des Werte-Systems, vergleichbar mit jenem am Ausgang des Mittelalters, aus dieser Perspektive als nahezu unvermeidlich. Die panischen Massenbewegungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind das Ergebnis emotionaler, sozioökonomischer und symbolischer Desintegration.(30) Ihre extreme Panik koinzidiert mit dem Auftreten von Führern, die ihnen versprechen, sie von ihr zu befreien, indem sie ihnen Rache und Reparation anbieten, eine sadistische Form von Superbefriedigung.

Zu den auffälligen Widersprüchen von Brochs Massenwahntheorie gehört der unvermittelte Gegensatz zwischen seinem ethisch-therapeutischen Engagement im Rahmen einer Psychologie des Politischen und seiner durch und durch deterministischen Geschichtskonzeption, die ihre Nähe zu Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes schwerlich verleugnen kann, zu jenem Narrativ, das dramatisch und panisch zugleich ist und daß die Zeitgenossen unter den permanenten Selbstverdacht einer prekären und dekadenten Existenz stellt.(31) Broch dynamisiert sein binäres System (Irrationalbereicherung- Rationalverarmung) und läßt Kulturen und Epochen vier "psychische Zyklen" durchlaufen:

  1. Verabsolutierung des Wertsystems( Entzug der Realitätskontrolle) →
  2. Hypertrophie und Autonomie (Massenwahn von oben) →
  3. Erschütterung des absoluten Wertsystems (Realitätsprobe)→
  4. Emanzipation der unteren Wertsysteme, Wertzersplitterung (Massenwahn von unten) → 1(KW12,54f)

In einem weiteren Entwurf modifiziert Broch das Modell unter Zuhilfenahme des Begriffspaares Neurose/Psychose:

  1. Herrschaft eines Zentralwertsystems (Kulturaufbau)
  2. Zerfall des Wertsystems (Hypertrophiewahn; Psychose)
  3. Wiederetablierung der Realität
  4. Übergang in Wertzersplitterung (Zerrissenheitswahn; Neurose)(KW 12,292)

Für Broch steht unzweideutig fest, in welche Phase die westliche Welt eingetreten ist, nämlich in Phase 4. Es unterliegt seiner Auffassung nach keinem Zweifel, daß die postmoderne- Menschheit an Fragmentierung und Desintegration, an symbolischer Auszehrung leidet. Deshalb wird das Auftreten panischer Massen weitergehen, solange bis sich ein neues verbindliches Wertsystem etabliert hat und der -global gesehen- eklatante Mangel an materieller Sicherheit nicht behoben ist. Was den modernen westlichen Gesellschaften nach Ansicht Brochs fehlt, ist, salopp gesprochen, Religion und ein demokratischer, offener Sozialismus, ein modernes Analogon zu eben jener Augustinischen civitas dei, wie Broch, der ekstatische Agnostiker, sie versteht.

Broch hat ein Denkmodell entwickelt, das so ambitioniert wie unhandlich ist. Dessen innere Widersprüche, die nur zum geringen Maße aus dem fragmentarischen Charakter des Werkes und dem transdiszplinären Anspruch herrühren, sind, eben jener zwischen einer zyklischen Geschichtstheorie und einem politisch-normativem Grundanliegen. Der indifferente olympische Blick von Oben auf den Wechsel der Zeiten verträgt sich nur schwer mit Brochs Kampf für einen -wie man heute höchst paradox formulieren könnte- postmodernen Humanismus. Entgegen seiner Emphase für Wert und Sinn bleibt sein eigenes Denken "postmodern" ambivalent, etwa im Hinblick auf Religion und Marxismus. Demgegenüber verdankt sich die Polarität seines Konzepts, das Widerspiel von Irrationalbereicherung und Rationalverarmung, ganz augenscheinlich einem psychologischen Diskurs, der dem binären Muster von Gesund/Krank folgt. Dieser Diskurs wird auf Politik und Ethik übertragen. Ungeachtet seines tiefen Pessimismus hinsichtlich der eigenen Lebensepoche enthält die Massenwahntheorie implizit eine optimistische Botschaft: die gesündeste Lösung in Politik und Kultur ist zugleich die beste unter ethischen Gesichtspunkten. Aber die beste Lösung steht historisch nicht immer zur Disposition, ja ist zuweilen unmöglich, zumindest unwahrscheinlich. Zugleich aber ist dieser heute so breit vorgetragene psychologische Diskurs gerade wegen seiner Binarität und seines Übergriffs auf Gesellschaft, Kultur und Politik in höchstem Maße prekär. Insbesondere in seinen gröberen Versionen hat er eine Talmireligion hervorgebracht, die mittlerweile selbst Teil des symbolischen Systems unserer postmodernen Kultur geworden ist, die aber gerade jene Funktion erfüllt, die Broch als "Wertsystem" bezeichnet.

Brochs Denken ist in mancher Hinsicht problematisch, aber auf vielfache Weise gegenwärtig, etwa seine Ideen zur Kultur, die heute Eingang in den Diskurs der Kulturwissenschaften finden können, seine Reflexionen über den Anderen, die eine überraschende Nähe zu Merleau-Ponty, Kristeva(32) oder Levinas aufweisen. Es kann auch kaum einen Zweifel geben, daß das Thema der Menschenrechte politisch-praktisch aber auch philosophisch-theoretisch nicht ein zentrales Thema unserer Tage ist.

Insgesamt läßt sich behaupten, daß der Analytiker der kulturellen Fragmentierung sich am Ende selbst als ein fragmentierter Denker erweist. Wenn es so etwas gibt wie ein Pathos der Postmoderne, so ist es - gegen Brochs Pessimismus gesprochen - die Hoffnung, daß es möglich ist, fragmentarisch zu leben, ohne zum Opfer und Mitläufer neuer totalitärer Massenbewegungen zu werden, die die perverse Super-Super-Befriedigung der Shoah hervorgebracht haben, das beinahe perfekte historische Verbrechen, das das Ergebnis eines geschlossenen Systems von kollektiver Massenverblendung war, wie Broch es unter Rekurs auf das Phänomen der Panik beschrieben hat.

© Wolfgang Müller-Funk (Universität Wien, Österreich)


ANMERKUNGEN

(1) Hermann Broch, Massenwahntheorie. Beiträge zu einer Psychologie der Politik. Band 12 der von Paul Michael Lützeler herausgegebenen kommentierten Werkausgabe Hermann Broch. Frankfurt/Main: Suhrkamp. 1979 (KW12).

(2) Heimito von Doderer, Die Dämonen. Nach der Chronik des Sektionschefs Geyrenhoff. München: C.H.Beck. 1995, 624.

(3) Dietmar Goltschnigg, Robert Musil und Hermann Broch-(K)ein Vergleich unter besonderer Berücksichtigung von Elias Canettis Autobiographie. In: Hartmut Steinecke/ Joseph Strelka, Romanstruktur und Menschenrecht bei Hermann Broch. Bern: 1990.

(4) Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek: Rowohlt. 1981, 1932f.

(5) Hermann Broch, Briefe. KW13/1, 33.

(6) Einen guten Überblick bietet: Rolf Schuhmann, Die Massenwahntheorie im Spiegel der Autorenkrise. Frankfurt/Main u. a.: Peter Lang. 2000, 10- 26; vgl. auch: Francisco Budi Hardiman, Die Herrschaft der Gleichen: Masse und totalitäre Herrschaft; eine kritische Überprüfung der Texte von Georg Simmel, Hermann Broch, Elias Canetti und Hannah Arendt. Frankfurt/Main, Wien u. a.: Lang. 2001.

(7) Es ist auffällig, daß nahezu alle ideengeschichtlichen Gesamtdarstellungen zum Thema der Masse den spezifischen Beitrag des Marxismus (Karl Marx, Rosa Luxemburg, Leo Trotzki) zu diesem Thema außer Acht lassen, das gilt übrigens auch für die gediegene Monographie Moscovicis (vgl. Anm. 8)

(8) vgl. Serge Moscovici, L’âge des Foules. Paris: Fayard. 1981, englisch: The age of the crowd. Cambridge: Cambridge University Press. 1985, 223.

(9) Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 1019f.

(10) Peter Sloterdijk, Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Autobiographien der 20er Jahre. München: Hanser. 1978.

(11) Elias Canetti, Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921-1931. München: Hanser. 1980, 280, 285 (dort der Bericht über den Aufschrei der Fuβballmasse).

(12) Hannah Arendt/ Hermann Broch, Briefwechsel 1946-1951, hrsg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt/Main: Jüdischer Verlag/Suhrkamp. 1996, insbesondere die Briefe 36, 37, 40, 43, 44 und 46 (aus dem Zeitraum vom 20.2.1949 bis zum 28.6.1949). Als es zum Tausch der Manuskripte gekommen war, lobt Broch ausdrücklich das Kapitel über die Menschenrechte in Arendts Totalitarismus- Buch, während Arendt umgekehrt Brochs implizite Abwendung von naturrechtlichen Konzeptionen der Menschenrechte positiv hervorhebt (94-129).

(13) Sigmund Freud, Warum Krieg? In: Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften. Frankfurt/Main: Fischer. 1994, 165-177.

(14) Elias Canetti, Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931-1937. München: Hanser. 1985, 23-43:

Canetti sieht die Gründe für die Entfremdung zwischen Broch und ihm insbesondere in Brochs Verfallenheit gegenüber Freud ("Dieser war Freud verfallen"[31]) sowie in dessen Auffassung, daß es keine "Gesetze des Massenverhaltens"(41) gäbe. Im Gegensatz zu Freud und übrigens ganz analog zu Brochs späterer Massenwahntheorie, hält Canetti den Führer für ein Epiphänomen, nicht für die Ursache.

(15) Vgl. das pathetische und doch gleiche vage Schlußwort in: Masse und Macht, 559: "Wer der Macht beikommen will, der muß den Befehl ohne Scheu ins Auge fassen und die Mittel finden, ihn seines Stachels zu berauben."

(16) Ernst Weiß, Der Augenzeuge. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1982, 150: "Er (H., A.d.V.) stand nicht mehr oben auf der roh zusammengezimmerten Tribüne, er war neben uns, in uns, in dem Verborgensten wühlte er umher, und er zermalmte uns mit seinem sklavischen Wollustglück, gehorchen, sich auslöschen, unten sein, nichts mehr sein." Weiß deutet das Geschehen in Analogie zum Geschlechtsakt, wobei in dieser misogynen Lesart die Masse zum Weib und der Führer zum Mann wird: "Zum erstenmal habe ich begriffen, was es heißt, Weib zu sein und dem Mann, der das Weib zuerst gegen ihren Willen und dann plötzlich mit ihrem Willen, mit ihren brennenden Schmerzen, mit noch tausendmal mehr brennender Wollust zersprengt, in ihm aufzugehen, mit ihm zusammenzuwachsen, als ob es auf ewig wäre."

(17) Vgl. dazu Serge Moscovici, The age of the crowd, 219-229.

(18) Hermann Broch, Die Verzauberung. Roman. (KW3,383).

(19) Wenn ich es recht sehe, dann betont Brochs Verzauberung die Bedeutung des Führers weit mehr als es die Massenwahntheorie tut, vgl. KW12, 81: "Der Führer ist der Exponent eines Wertesystems und der Träger der Dynamik dieses Systems. Er erscheint, wie gesagt, vor allem als Symbol des Systems. Seine rationalen Züge und Handlungen sind von untergeordneter Bedeutung." Vgl. auch: Serge Moscovici, The age of the crowd, 39. In der Verzauberung hingegen, liegt in allen drei Fassungen ein starker Akzent auf der Figur des von Außen in den sozialen Kosmos eindringenden Marius Ratti, und es ist ganz offensichtlich, daß zwischen ihm und der Bergbraut Irmgard, dem willigen Blutopfer, eine quasi erotische Übertragung besteht. Es gehört zu den Schwächen des Romans, daß der Zerfall des Wertesystems, das doch Brochs theoretischem Konzept zufolge die prima causa für das Auftreten von Massenwahn darstellt, hier nicht recht anschaulich wird. Viel eher kommt, wie in Jeremias Gotthelfs Novelle Die schwarze Spinne die Wiederkehr archaischer Logik mitsamt der Idee des Sündenbocks und des Blutopfers zum Vorschein. In jedem Fall deckt Die Verzauberung nicht das weite Spektrum ab, das Brochs ehrgeiziges theoretisches Projekt ausmißt.

(20) Elias Canetti, Masse und Macht. Frankfurt/Main: Fischer. 1980, 13: "Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekannte. Man will sehen, was nach einem greift, man will es erkennen oder zumindest einreihen können. Überall weicht der Mensch der Berührung durch Fremdes aus."

(21) Zur einseitig konservativen Deutung kritisch: Rolf Schuhmann, Die Massentheorie, 35-39

(22) Elias Canetti, Das Augenspiel, 37: "Er (Broch, A.d.V.) stand übrigens so sehr zu Freud, daß er auch gar nicht davor zurückscheute, dessen Termini in ihrer vollen, unangezweifelten Bedeutung in einem ernsten und spontanen Gespräch zu verwenden. Angesichts seiner großen philosophischen Belesenheit mußte mir das Eindruck machen, so unangenehm ich es empfand, daß er Freud selbst Kant, den er sehr verehrte, Spinoza und Plato gleichstellte. Was im damaligen Wiener Wortgebrauch zu alltäglicher Banalität geraten war, sprach er neben Worten aus, die durch die Verehrung von Jahrhunderten, auch durch seine eigene, geheiligt waren."

(23) Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften. Frankfurt/Main: Fischer 1994, 108: "Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden."

(24) Vgl. Gernot und Hartmut Böhme, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt/Main: Suhrkamp. 1992.

(25) Rolf Schuhmann, Die Massenwahntheorie, 13.

(26) Ebenda, 9.

(27) Vgl. Wolfgang Müller-Funk, Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. Wien/New York: Springer. 2002, 109-114.

(28) Emmanuel Levinas, Die Zeit und der Andere. Aus dem Französischen von Ludwig Wenzler, Hamburg: Meiner 1984, 7: "Die Liebe ist nicht eine Möglichkeit, sie verdankt sich nicht unserer Initiative, sie ist ohne Grund, sie überfällt und dennoch überlebt in ihr das Ich."

(29) So vermeidet Broch den Auftritt auf dem Berliner Kongreß für kulturelle Freiheit und die damit verbundene Instrumentalisierung für die antikommunistische Propaganda: "[...]in Berlin habe ich wirklich nichts verloren." Und die Briefpartnerin setzt eins drauf, wenn sie höchst polemisch über einen der Hauptredner Arthur Köstler, der auf der Konferenz mit allen Vertretern des Dritten Weges abrechnet, schreibt: "Diese ungarischen Juden à la Koestler werden dadurch nicht angenehmer, daß man Hitler das Recht absprechen mußte, sie totzuschlagen." vgl. Hannah/Arendt/Hermann Broch, Briefwechsel 1946-1951, 142 und 145.

(30) Hermann Broch, KW12, 56: "Wenn ein Wertsystem in einer sozialen Gemeinschaft zusammenbricht, so ist diese Gemeinschaft zumeist auch nicht mehr fähig, ihren materialen, erkenntnismäβigen und emotionalen Verpflichtungen nachzukommen."

(31) Vgl. Paul Michael Lützeler, Brochs Schlafwandler und Spenglers Untergang des Abendlandes. In: P.M.L., Europäische Identität und Multikultur. Tübingen: Stauffenburg. 1987. 87-105

(32) Julia Kristeva, Fremde sind wir uns selbst. Aus dem Französischen von Xenia Rajewski, Frankfurt/Main: Suhrkamp. 1989


5.4. OPEN AND CLOSED SYSTEMS: The Improbable Way towards an Equilibrium

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For quotation purposes:
Wolfgang Müller-Funk (Universität Wien, Österreich): Die Angst in der Kultur. Hermann Brochs Massenwahntheorie im historischen Kontext. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/05_4/mueller-funk16.htm

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