Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. August 2006
 

5.7. Theater und Fest - Ursprünge und Innovationen in Ost und West
Herausgeber | Editor | Éditeur: Han-Soon Yim (Seoul National University)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Dionysos-Reflexionen

Fest und Präsenz in Sophokles'/Brechts Antigone

Ulrich Johannes Beil (Universität München / Universität Zürich)

   

Es ist ein weiter Weg von Nietzsches Auffassung, "dass alle die berühmten Figuren der griechischen Bühne [...] nur Masken jenes ursprünglichen Helden Dionysus sind" (Nietzsche 1999: 71) zu der ernüchternden Bemerkung Taplins, "there is nothing intrinsically Dionysiac about Greek tragedy" (Goldhill 1986: 98). Dieser Weg markiert zwei Extrempositionen - zwischen Mythos und Logos, Remythisierung der Antike und einer vermeintlich ‚säkularisierten’ Sicht. Mit größerem Abstand von 1968, also im Lauf der 80er Jahre, wuchs das Interesse für das Dionysische wieder an, wofür im deutschsprachigen Raum die Studien zum "Kommenden Gott" und zum "Gott im Exil" von Manfred Frank exemplarisch sind (Frank 1982; Frank 1988), im angloamerikanischen Bereich der von John Winkler und Froma Zeitlin herausgegebene Sammelband "Nothing to do with Dionysos" (Winkler / Zeitlin 1990). Wenn Winkler und Zeitlin das alte athenische Sprichwort "Nichts zu tun mit Dionysos" mit einem Fragezeichen versehen und andeuten, dass das Gegenteil, nämlich "everything to do with Dionysos", der Wahrheit weit eher entspräche (Winkler / Zeitlin 1990: 3), so geht es keineswegs um eine Rückkehr zu Nietzsche. Jenseits der Scheinalternative von Allgegenwart und Negation des Dionysischen arbeitet man seither an einer differenzierteren Sicht des Problems. Die Frage ist dann, welche Funktion dem ekstatischen Gott im Rahmen des Polis-Kults, der großen Dionysien und der in diesem Kontext aufgeführten Tragödien eigentlich zukommt.

Wenn ich mich in diesem Vortrag einem Chorlied, dem 5. Stasimon aus Sophokles’ um 440 v.Chr. erstmals aufgeführtem Drama Antigone, zuwende und es dann mit der modernen Version in Bert Brechts Antigone-Bearbeitung von 1948 vergleiche, so handelt sich darum, die Funktion des Dionysos an dieser bedeutsamen Stelle des Geschehens zu erörtern. Was mich hierbei vor allem interessiert, ist das Phänomen der Metatheatralität. Diese Problemstellung provoziert zumindest zwei gravierende Einwände. Der eine: Gerade in der Antigone scheint es um die Präsenz des Dionysos nicht zum Besten bestellt zu sein. Deutlicher und auch dramatisch eindrucksvoller kommt Dionysos zweifellos in den Bakchen des Euripides zur Sprache. Nicht genug damit, dass Dionysos in der Antigone ,nur’ in den Chorliedern erwähnt wird - der streng und unerbittlich konsequent handelnden Protagonistin scheint das ekstatische, sprunghafte, bedrohliche Wesen des Kultgottes zutiefst zu widersprechen. So bemerkt etwa Jacques Lacan gegen Ende seines Antigone-Seminars: "Nichts ist weniger dionysisch als die Tat und die Gestalt Antigones" (Lacan 1996: 339). Der zweite Einwand lautet: Ist es nicht abwegig, einen spätmodernen Begriff wie den der Metatheatralität oder der Selbstreflexion an ein antikes Stück zu applizieren? Setzen solche Vorstellungen nicht einen selbstbewußten Autor, ein autonomes Kunstwerk, ja das ausdifferenzierte ,System Kunst’ im Sinne Luhmanns voraus? Und läßt sich all dies mit ziemlicher Sicherheit vom Theater des 5. Jahrhunderts vor Christus nicht behaupten?

Es geht mir im Folgenden nicht nur darum, diese Einwände zu entkräften, sondern sie auch ganz gezielt aufeinander zu beziehen. Die Behauptung von der Marginalität des Dionysos in der Antigone setzt die Annahme von der Marginalität der Chorlieder voraus - eine Annahme, die ihrerseits implizit ,modernisiert’, d.h. dazu tendiert, die Tragödie aus ihren kultischen Zusammenhängen, von denen die Chorlieder am deutlichsten zeugen, zu lösen. Die Einschätzung der Chorlieder ist in der Tat die Crux der beiden Einwände. Ich kann die komplexen Wege der Forschung hier nicht nachzeichnen, die zwischen den Extremen einer totalen Integration des Chores in die Handlung - das Stichwort von Rösler lautet: "Chor als Mitspieler" - und der Meinung etwa Burtons und Van Nees Ditmars, die der Chorlyrik bedeutungsstiftende oder auktorielle Funktionen zuweisen, schwankt (Rösler 1983; Burton 1980). Stattdessen möchte ich eine doppelte Lektüre der Lieder vorschlagen: einerseits kann man den Chor durchaus als mitagierenden Schauspieler auffassen, soweit dies möglich ist; andererseits aber darf man nicht unberücksichtigt lassen, dass der Chor die bloße Handlungsebene als oft "pointiert-gnomisch geformte[...] Aussage", als zumindest fernes Echo der Stimme des Autors (vgl. Flashar 2000: 15 f), transzendiert. Dazu gleich Konkreteres. Es kann jedenfalls kein Zweifel daran bestehen, dass das Chorlied, wie Flashar betont, die "Keimzelle der Tragödie" darstellt (Flashar 2000: 14), jene ursprüngliche Dramenform also, in der noch gar keine Schauspieler auf der Bühne zu sehen waren. Von daher verkennen Marginalisierungsversuche der Chorlyrik deren elementare Funktion in jeder griechischen Tragödie, eine Funktion, die noch dadurch unterstrichen wird, dass es sich auch um vom Tragödiendichter inszenierte Relikte der homerisch-oralen Epoche handelt.

So gesehen, ist das Chorlied der Faden, der das anspielungsreiche literarische Theater der Sophokles und Euripides mit den kultischen Ursprüngen verbindet. Es wundert dann auch nicht, dass Dionysos, Inspirationsquelle und Schutzgott der athenischen Dramatiker (Bierl 1991: 113), seinen bevorzugten Auftritt in der Chorlyrik hat. Eben diese ist auch der Ort, an dem der Begriff der Metatheatralität ins Spiel kommt. Wenn Anton Bierl recht hat und der "Dionysos preisende Chor [...] aus seiner gespielten Rolle innerhalb der Handlung in den aktuellen kultischen Raum des Dionysostheaters hinübergleitet" (Bierl 1991: 114), so können wir daraus folgern, dass der Chor vor den Zuschauern nicht nur den kultischen Hintergrund des Geschehens heraufbeschwört, sondern ihnen auch bewußt macht, was im Hic-et-nunc der Aufführung stattfindet. Mit anderen Worten: Indem der Chor, der eben noch Mitspieler war, aus dem historisch-mythischen Handlungsablauf heraustritt und auf das, was auf der Bühne real passiert, hinweist, durchbricht er die dramatische Illusion und eröffnet den Raum der Selbstreflexion und der Metatheatralität. Mit dem Begriff der Metatheatralität kann freilich keine Reduktion auf so etwas wie das Brechtsche epische Theater gemeint sein (vgl. die Kritik von Bain und Taplin, in: Bierl 1991: 116). Vielmehr bezieht sich der Begriff auf alles, was in der Tragödie ein Bewußtsein von ihrer eigenen Entstehung, ihrer Form und Verfaßtheit erkennen läßt. Das Faszinierende daran ist, dass sich das scheinbar so moderne oder postmoderne Phänomen der Metatheatralität schon viele Jahrhunderte vor der großen abendländischen 'Kunst-Epoche' beobachten läßt: in der antiken Tragödie, und zwar gerade dort, wo die Inszenierung von Hinweisen auf den kultischen Ritus unterbrochen wird, in den sie seit je eingebettet ist, im Spannungsfeld also zwischen mythischer 'Fiktion' und dionysischer Feier.

Dieses Spannungsfeld wird auch und gerade im fünften Stasimon von Sophokles’ Antigone, dem sogenannten Hymnos kletikos, sichtbar - nach Bierl zusammen mit der Parodos der Bakchen das "eindringlichste Lied, das wir von der griechischen Tragödie auf ihren Gott besitzen" (Bierl 1989: 50). Wie schon angedeutet, gilt es, eine doppelte Lektüre zu wagen - und die dabei entstehenden Paradoxien keinem Vereinheitlichungszwang zu opfern. Zunächst zur ersten Lektüre: Faßt man den Hymnos kletikos als integralen Teil der Handlung auf, so hat man es mit einem Bittgebet an den Gott der Dionysien in verzweifelter Situation zu tun. Das Lied begegnet uns an einem tragischen Wendepunkt des Geschehens. Kreon hat sich nach der Warnung und der katastrophischen Weissagung des Teiresias, den er zunächst der Bestechlichkeit verdächtigte, nun doch dazu entschlossen, Polyneikes zu beerdigen und Antigone aus ihrem Verlies zu befreien. Der Chorführer hat ihn von der Redlichkeit des Sehers, der die Stadt nie belogen habe, überzeugt. Nun ist es am Chor, die winzige Möglichkeit der Hoffnung, die noch besteht, zu nutzen, indem er sein Gebet an Bakchos richtet, den "vielnamigen" Gott, und ihn um eine Rettung in letzter Minute bittet. Nachdem der Chor Dionysos zunächst als den mysteriösen, chthonischen Gott Italiens gepriesen hat, den eleusinischen Iakchos-Gefährten von Demeter und Kore, fleht er ihn an, zu "kommen", in seine Mutterstadt Theben zurückzukehren - mit seinen rasenden Begleiterinnen und seinem "reinigenden Schritt". Aus der Perspektive der Handlung bedeutet dies, in Form eines poetischen Hilferufs auf Kreons Umkehr zu setzen und zu hoffen, dass sich die begangenen Fehler noch rückgängig machen lassen. Strukturell erfüllt der Hymnos in dieser Lesart die Funktion einer spannungssteigernden Retardation.

Wenn die erste Lektüre den Aspekt der Kontinuität betont, so geht es der zweiten Lektüre um den Aspekt des Bruches. Wie schon angedeutet wurde, führt der Chor seinen Gott Dionysos durch die Erwähnung seiner bevorzugten Kultstätten Italien, Eleusis, Delphi, Theben nicht als gefährlich rasenden, erotomanischen Dämon vor, sondern als ländlich-bukolischen Vegetationsgott - was freilich den Kontrast zum katastrophischen Ende des Dramas noch verstärkt. Damit wird die kultische Szenerie, in der sich die Schauspieler und Zuschauer ja, diesseits der Antigone-Handlung, befinden, ins Bewußtsein gerufen. Ein weiterer Begriff, der eine selbstreflexive Dimension andeutet, ist der Begriff des "reinigenden Fußes", καθαρσίω ποδί, der die zentrale aristotelische Tragödienkategorie, die katharsis, vorwegnimmt. Als dritte und vielleicht deutlichste Selbstreferenz der Chorsänger darf schließlich die Anrufung des Dionysos als χοραγός, als Chorführer, angesehen werden, eine Anrufung, in der der Chor nicht nur sein eigenes Tun als Gottesdienst - und als kosmische Entsprechung - hypostasiert, sondern auch, im Zuge einer suggestiven poetischen Magie, die Anwesenheit des Chorsänger-Gottes beschwört. Nachdem der Chor den Weg des Gottes durch die Kultstätten verfolgt und ihn bis an die Schwelle seiner Geburtsstadt Theben begleitet hat, zaubert er Dionysos sprachlich-musikalisch geradezu herbei: "Ioh! Der Feuer atmenden / Sterne Chorführer, nächtlicher / Stimmen Aufseher, o Sohn, / Des Zeus Sproß, erscheine / O Herr! Zusammen mit deinen Dienerinnen, / Den Thyiaden, / Die rasend dich die ganze Nacht / Mit Reigen feiern, ihren Herrn / Iakchos!" (Übs. von Schadewaldt 1974: 52).

"Der Chor transzendiert damit den Rahmen des fiktiven Handlungsgeschehens und greift auf den kultischen Erfahrungshorizont der Zuschauer über" (Bierl 1991: 131). Wenn das Motiv vom ,kommenden Gott’ in der ersten Lektüre noch als poetisch gestaltete Erwartung der tragischen Peripetie aufgefaßt werden konnte, so verwandelt es sich in der zweiten Lektüre in die 'Realität' eines schon angekommenen Gottes, einer im Gesang und in der performance, in der Kultfeier sich ereignenden Epiphanie (vgl. Segal 1981: 204). Gerade in der momentanen Rückbesinnung auf den Ermöglichungsgrund von Kultfest und Tragödien-Aufführung, auf den Namen des Dionysos, der die Gegensätze von Stadt und Land, Licht und Dunkel, Himmel und Erde, olympischen und chthonischen Gottheiten verschränkt (Segal 1981: 202), öffnet sich die Tragödie einer metatheatralischen Reflexion. Die Paradoxie der beiden Lektüren muss folglich ausgehalten werden: Der Gott, der so dringlich als Nothelfer angerufen wird, entpuppt sich im gleichen Hymnus als der in Sprache und Lied, als spiritueller kosmischer Chorführer, immer schon eingetroffene Gott; er, der erst kommen soll, bezeugt allein durch die Tatsache der Performance, der Aufführung des Stückes Antigone im Rahmen der athenischen Dionysien, seine Anwesenheit. Die Metatheatralität dieses Dionysos gewidmeten Chorlieds besteht also darin, dass die Darbietung des mythischen Geschehens demonstrativ unterbrochen wird, um das, was sich zwischen Schauspielern, Chorsängern, Aufführungstext und Zuschauern tatsächlich abspielt, ins Bewußtsein zu rufen. Was derart verfremdend in die mythische Fiktion einbricht, ist nichts anderes als das Fest, die Präsenz von Tanz, Gesang und Vers, die die tragische Inszenierung erst ermöglicht. Was auf den ersten Blick als spätmoderne Projektion erscheinen mag, erweist sich auf den zweiten als Tribut des literal ausgebildeten Dramendichters an archaisch-orale Praktiken, an die kultische Basis der Tragödie selbst.

Springen wir nun ins 20. Jahrhundert. Brecht entscheidet sich in seiner Bearbeitung der Antigone des Sophokles, die im Februar 1948 im schweizerischen Chur uraufgeführt wurde, für eine radikale Aktualisierung. Diese Form der réécriture wird zugleich konterkariert durch einen archaisierenden, auf Hölderlins Übertragung zurückgreifenden Sprachgestus. Gleich in der Eingangsszene seiner Antigone werden zwei Schwestern im April 1945 in Berlin mit der Hinrichtung ihres aus dem Krieg desertierten Bruders konfrontiert. Die entscheidendste Änderung gegenüber Sophokles ist, daß Kreon einen Raubkrieg um die Erzgruben von Argos führt. Während Theben die Siegesfeier bereits vorbereitet, wird an der Front noch erbittert gekämpft, und Kreon sieht sich gedrängt, auch gegen das eigene Volk vorzugehen. Eine weitere Veränderung betrifft Polyneikes: Er gehört bei Brecht zu Kreons eigener Truppe und desertiert, nachdem sein Bruder Eteokles gefallen ist. Kreon richtet ihn, der am Sinn des Krieges zweifelte, eigenhändig hin und untersagt es jedem bei Todesstrafe, diesen ‚Verbrecher‘ mit einer Bestattung zu ehren. Antigone tritt demgegenüber als Anwältin der Unterdrückten auf den Plan, deren Mitgefühl nicht nur dem Bruder gilt, sondern dem ganzen thebanischen Volk. Nach ihrem Bekenntnis zur Tat und nach erbittertem Streitgespräch mit Kreon - der unverkennbar Züge Hitlers zeigt - wird sie wie bei Sophokles in eine Felsengrotte verbannt. Der Seher Tiresias warnt den Tyrannen zunächst vergeblich vor dem drohenden Untergang. Erst als ein Bote den Tod seines Sohnes Megareus, die verlorene Schlacht und das Anrücken der Feinde meldet, entschließt er sich, zu handeln. Mit Antigones Freigabe hofft er, seinen zweiten Sohn Hämon zu einer Art Volkssturm gegen den Feind anstacheln zu können - jedoch, wie sich zeigt, vergeblich.

Das 5. Stasimon, kurz vor der ‚ totalen Niederlage’ Kreon-Hitlers eingeschoben, kann als Musterbeispiel dessen gelten, was man Verfremdungseffekt nennt. Bereitwillig nutzt Brecht die von Sophokles angebotene Chance, im Rahmen einer Anrufung des Gottes Dionysos aus dem Handlungsverlauf herauszutreten. Während der antike Autor Gegenwärtigkeit aber gerade durch die Bewußtmachung des archaischen Kultzusammenhangs bewirkt, erzeugt Brecht Präsenz durch Zuhilfenahme nahezu aller Register, die ihm der V-Effekt zur Verfügung stellt: Hierzu dient (1) die stellenweise explizit auf Hölderlin zurückgreifende hymnische Sprache, die im historischen wie im Brechtschen politischen Kontext absurd wirkt, auch wenn der antike Gott bereits ‚säkularisiert’ als "Gott der Freude" erscheint. (2) wird in dem Chorlied nach Art einer melancholisch-selbstkritischen Reflexion die Vorgeschichte der Katastrophe rekapituliert, in der Lebensenergie und Lebensfreude sich zwar da und dort friedlich, das heißt bukolisch-erotisch, betätigten, dann aber auch Gefallen an "Opferrauch" wie an der Vorbereitung eines Krieges fanden: "Doch / Auch die Schmiede hast du besucht und prüftest / Mit dem Daumen lächelnd die Schärfe der Schwerte" (Brecht 1988: 158). (3) ermöglicht die Hymne jenen "fremden Blick" auf das Geschehen, den Brecht im Kleinen Organon für das Theater gefordert hat (Frankfurt 1948, Abschnitt 44) - wobei der Blick des Gottes, den der Chor dem Zuschauer empfiehlt, zugleich als Blick des Autors erkennbar wird, der aus dem Exil in das verwüstete Nachkriegsdeutschland zurückgekehrt ist: "Komme, wenn du sie zu sehen begehrst noch einmal / Deine Stadt, und reise schnell und komme / Noch vor Nachtanbruch, denn später / Ist sie nicht mehr." (Brecht 1988: 158). (4) können wir die atheistische Ironie der Stelle kaum überhören: Denn dieser ‚kommende Gott’, dieser Dionysos hat, so wenig wie der Autor und seine Zuschauer, die Macht, die Katastrophe abzuwenden, da sie bereits eingetroffen ist: "Die für tausend Jahre, ihre Kinder / Sich schon sahen an den fernsten Meeren sitzen / Haben morgen, haben heute / Kaum den Stein, ihr Haupt zu betten" (Brecht 1988: 158). In eben diesen Versen zeigt sich (5) aber auch der ganz und gar moderne Versuch, den Brecht unternimmt, um Sophokles’ Stück aus der historischen Distanz in die Präsenz des Jahres 1948 herüberzuzwingen: Das Lied läßt, ähnlich wie die Eingangssequenz und die verstreuten Anspielungen auf Nazi-Deutschland in verschiedenen Szenen, keinen Zweifel daran, an welchem historischen Tiefpunkt sich das soeben aufgeführte Stück, sein Autor und seine Zuschauer befinden.

Vergleicht man die beiden Chorlieder bei Sophokles und Brecht, so lassen sich trotz der immensen historischen Distanz Parallelen beobachten: In beiden Versionen dient das Fünfte Stasimon der Erzeugung von Präsenz. Und in beiden Fällen muss der Präsenz-Begriff weiter gefaßt werden, als es in der neueren Diskussion, etwa bei Hans-Ulrich Gumbrecht (Gumbrecht 2004), üblich ist - da hier nicht ausschließlich die ästhetisch-performative Komponente zum Vorschein kommt, sondern eine subtile Kopplung der phonetisch-poetischen Dimension mit Momenten reflexiver Distanz. Wenn Sophokles sich um eine Vergegenwärtigung des kultischen Rahmens der Aufführung bemüht, in der sich die Erinnerung an die archaisch-religiöse Verankerung der Tragödie mit der Gegenwart der Aufführung und ihrem Festcharakter überkreuzt, wenn bei ihm also gerade das Vergangenste für den Akt der Vergegenwärtigung in Anspruch genommen wird, spannt Brecht kultische, sprachliche und gesellschaftliche Vergangenheit mit dem Gegenwärtigsten, mit politischer Zeitgenossenschaft, zusammen. Nicht zufällig stehen die je verschiedenen Formen der Metatheatralität und der Präsenz, der sich Sophokles und Brecht verschrieben haben, im Zeichen des Dionysos. Als Gott der Widersprüche, des permanenten Wandels, der Ordnung, der Gewalt und der Ekstase stört und verwirrt Dionysos das semantische Feld im gleichen Maß, in dem er auf dem Feld der Präsenz brilliert: als poetisches Wechselspiel zwischen Parousie und Parousieverzögerung bei Sophokles, als Selbstreflexion des Libidinösen und seiner katastrophalen Verirrungen bei Brecht.

Der transgressorische Aspekt des Dionysos, sein Schwanken zwischen unterschiedlichen Identitäten wurde im übrigen neuerdings auch an der Antigone-Figur selbst wahrgenommen: "Antigone ist dionysisch", heißt es bei Bierl (Bierl 1989: 49). So hat mittlerweile das ganze Stück, Judith Butlers Essay Politics and Kinship: Antigone for the Present (Butler 2000) ist hierfür das beredteste Beispiel, den Weg von den Repräsentationen zur Präsenz angetreten.

© Ulrich Johannes Beil (Universität München / Universität Zürich)


LITERATUR

Bierl, Anton: Dionysos und die griechische Tragödie. Politische und "metathetralische" Aspekte im Text. Tübingen 1991.

Bierl, Anton: "Was hat die Tragödie mit Dionysos zu tun? Rolle und Funktion des Dionysos am Beispiel der Antigone des Sophokles". In: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft N.F. 15 (1989), 43-58.

Brecht, Bertolt: Die Antigone des Sophokles. Hg. von Werner Hecht. Frankfurt a. M. 1988.

Burton, R.W.B.: The Chorus in Sophocles' Tragedies. Oxford 1980.

Butler, Judith: Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod. Frankfurt a.M. 2000.

Euben, J. Peter (ed.): Greek Tragedy and Political Theory. Berkeley u.a. 1986.

Flashar, Hellmut: Sophokles. Dichter im demokratischen Athen. München 2000.

Frank, Manfred: Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie. Frankfurt a.M. 1982.

Frank, Manfred: Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mythologie 2. Frankfurt a.M. 1988.

Gardiner, Cynthia B.: The Sophoclean Chorus: A Study of Character and Function. Iowa 1987.

Goldhill, Simon: Reading Greek Tragedy. Cambridge 1986.

Goldhill, Simon: "The Great Dionysia and Civic Ideology". In: Journal of Hellenic Studies 197 (1987), 58-76.

Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik: Über die Produktion von Präsenz. Frankfurt a.M. 2004.

Henrichs, Albert: ‚Warum soll ich denn tanzen?’ Dionysisches im Chor der griechischen Tragödie. Stuttgart 1996.

Lacan, Jacques: Das Seminar VII: Die Ethik der Psychoanalyse.Weinheim-Berlin 1996.

Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie. In: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hg. von G. Colli und M. Montinari. Bd.1. München 1999.

Rösler, Wolfgang: "Der Chor als Mitspieler. Beobachtungen zur Antigone". In: Antike und Abendland 29 (1983), 107-124.

Segal, Charles: Tragedy and Civilization. An Interpretation of Sophocles. Cambridge MA 1981.

Sophokles: Antigone. Übertragen u. hg. von W. Schadewaldt. Frankfurt a.M. 1974.

Sophokles: Tragödien und Fragmente. Griech. und deutsch hg. u. übers. von W. Willige, überarb. von Karl Bayer. München 1966.

Sourvinou-Inwood Christiane: "Assumptions and the Creation of Meaning: Reading Sophocles’ Antigone". In: Journal of Hellenic Studies 109 (1989), 134-148.

Steiner, George: Antigones. Oxford 1984.

Winkler, John J. / Froma Zeitlin (edd.): Nothing to do with Dionysos. Athenian Drama in its Social Context. Princeton 1990.


ANHANG

Sophokles, Antigone, 5. Stasimon
(Übersetzung von W. Schadewaldt)

Vielnamiger, der Kadmeischen Jungfrauen
                                                           Stolz
Und Zeus’, des tief donnernden, Geschlecht,
Der die berühmte du umhegst, Italia,
Und waltest in den all-empfangenden,
Der Eleusinischen Demeter Buchten:
O Bakcheus! Der du in der Mutterstadt
Der Bakchischen Frauen, Theba, wohnst
An den feuchten Wassern des Ismenos
Und über der Saat
Des wilden Drachens.

Dich hat über dem zweigipfligen Fels
Gesehen der heilige Qualm, wo die
Korykischen Nymphen schreiten,
Die Bakchischen,
Und der Kastalia Naß.
Und es entsenden
Dich der Nyseischen Berge Efeuhänge
Und das grüne Ufer, voll Trauben hangend,
Wenn du unter der unsterblichen
Geleiter Jubelrufen
Thebens Straßen heimsuchst.
Sie ehrst du vor allen als die höchste
Der Städte mit der blitzgetroffenen Mutter.
Auch jetzt, da von gewaltsamer
Befangen ist die Stadt, von Krankheit -
Komme mit reinigendem Fuß
Geschritten über des Parnassos Hänge
Oder den stöhnenden Sund des Meeres.

Ioh! Der Feuer atmenden
Sterne Chorführer, nächtlicher
Stimmen Aufseher, o Sohn,
Des Zeus Sproß, erscheine,
O Herr! zusammen mit deinen Dienerinnen,
Den Thyiaden,
Die rasend dich die ganze Nacht
Mit Reigen feiern, ihren Herrn
Iakchos!

Friedrich Hölderlin, Antigonae

Bert Brecht, Antigone des Sophokles (Chor)

Nahmenschöpfer, der du von den Wassern,
     welche Kadmos
Geliebet, der Stolz bißt, und deß, der
      im Echo donnert,
Ein Theil, des Vaters der Erd ’ ,
Und Italia in Wachstum weit umschweifst,
Die allbekannt ist. Allen gemein
Ist aber Undurchdringliches; denn auch
       waltest
Im Schoose du, zu Elevsis.
Hier aber, Freudengott,
In der Mutterstadt, der bacchantischen,
In Thebe wohnest du, an Ismenos ’ kaltem
      Bach,
An den Zäunen, wo der Othem
Das Maul des Drachen haschet.
 
Der Opferrauch, der wohlgestalt ist über
Des Felses Schultern, hat dich gesehen; am
Cocytus, wo die Wasser
Bacchantisch fallen, und
 
Kastalias Wald auch.
Und unter Nyssäischen Bergen regen
Fernhorchend Brunnen dich auf,
Und grün Gestad,
 
Voll Trauben hängend,
Nach Thebes
Unsterblichen Worten zu gehn,
In die Gassen, da sie frohlokten.
Denn die ehrst du vor allen
Als höchste der Städte
Mit der blitzgetroffenen Mutter.
 
Jezt aber, da von gewaltiger
Krankheit die ganze Stadt
Ist befangen, müssen wir
Der Buße Schritte gehen über
Den parnassischen Hügel oder
Die seufzende Furth.
Io! du! In Feuer wandelnd!
Chorführer der Gestirn' und geheimer
Reden Bewahrer!
Sohn, Zevs ’ Geburt!
Wird ’ offenbar! mit den Naxischen
Zugleich, den wachenden
Thyaden, die wahnsinnig
Dir Chor singen, dem jauchzenden Herrn.

Geist der Freude, der du von den Wassern
Welche Kadmos liebte, aller Stolz bist
Komme, wenn du sie zu sehn begehrst noch einmal
Deine Stadt, und reise schnell und komme
Noch vor Nachtanbruch, denn später
Ist sie nicht mehr.
 
Hier nämlich, Freudengott
In der Mutterstadt, der Bacchantischen
In Thebe wohntest du, an Ismenos kaltem Bach.
Der Opferrauch, der wohlgestalt ist über
des Daches Schultern, hat dich gesehen.

Ihrer vielen Häuser nicht das Feuer
Nicht den Rauch vom Feuer und vom Rauche
Nicht den Schatten magst du treffen.
Die für tausend Jahre, ihre Kinder
Sich schon sahen an den fernsten Meeren sitzend
Haben morgen, haben heute
Kaum den Stein, ihr Haupt zu betten.

 
Am Cocytus, zu deiner Zeit
Freudengott, saßest du mit den Liebenden
Und in Kastalias Wald. Doch
Auch die Schmiede hast du besucht und prüftest
 
Mit dem Daumen lächelnd die Schärfe der Schwerte.
Oftmals gingst du nach der Thebe
Unsterblichen Sängen
In den Gassen, da sie noch frohlockten.

Ach, die Eisen hauten in das Eigne
Doch den Arm frißt dennoch die Erschöpfung!
Ach, Gewalttat braucht ein Wunder
Und die Milde braucht ein wenig Weisheit.

Also jetzt der viel
Geschlagene Feind, über unsern
Palästen steht er und weist
Voll blutiger Speere, rings
Das siebentorige Maul;
Und davon geht er nicht
Ehe von unserm
Blut er die Backen gefüllt.


5.7. Theater und Fest - Ursprünge und Innovationen in Ost und West

Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections


TRANS       Inhalt | Table of Contents | Contenu  16 Nr.


Ulrich Johannes Beil (Universität München / Universität Zürich): Dionysos-Reflexionen. Fest und Präsenz in Sophokles'/Brechts Antigone. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/05_7/beil16.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 30.8.2006     INST