Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. August 2006
 

5.7. Theater und Fest - Ursprünge und Innovationen in Ost und West
Herausgeber | Editor | Éditeur: Han-Soon Yim (Seoul National University)

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Innovationen auf dem Theater. Theater und Politik bei Dario Fo und Bert Brecht

Maria E. Brunner (Schwäbisch-Gmünd, Schondorf a. A.)
[BIO]

   

"Ich bin bestürzt! Ich kann mich nicht mehr halten vor Lachen", mit diesem Bonmot hatte Dario Fo 1997 auf die Nachricht von der Verleihung des Nobelpreises an ihn reagiert. Dass sogar die Nachfolgepartei der "neofaschistischen Sozialbewegung" (AN) in Rom beim schwedischen Botschafter eine förmliche Protestnote gegen diese Entscheidung einreichte, nahm Fo mit Humor: "Sie haben ja Recht, diese Verleihung ist ja wirklich ein Skandal, ihre Aufregung ist nicht gespielt. Außerdem bin ich noch einer der wenigen Antifaschisten in diesem Land."(1) Die Vatikanzeitung l’Osservatore Romano schrieb, auf die Vorgänger mit Nobelpreiswürde anspielend: "Nach so viel Verstand nun ein Hanswurst."

Die Vertreter der Akademie in Stockholm allerdings beeindruckte er am Vorabend der Verleihung mit einer Mischung aus Theaterlektion, Rede und Spektakel, wobei er wie ein Moritatensänger auftrat und seine Rede auf übergroße Cartoons aufgemalt hatte, die er wie einen Bilderteppich benutzte (sie dienten ihm als Manuskript, da er seit 1995 stark sehbindert ist).

 

Der Giullare mit einer Zunge wie ein Messer

Er ist der meistgespielte lebende Theaterautor weltweit und mehr als eine Generation von Theaterleuten nicht nur in Italien hat er beeinflusst. Doch sind seine Stücke, v.a. die Monologe, die zugeschnitten sind auf ihn als Rezitator, überhaupt durch andere darstellbar? Er sieht als eines der großen Vorbilder den legendären neapolitanischen Schauspieler und Mimen Totò an (er brachte ihm Maß, Distanz und souveränen Umgang mit der Maskenhaftigheit aller Rollen bei); und man zählt sogar den Filmregisseur und - schauspieler Roberto Benigni zu seinen Schülern: auch er improvisiert Monologe voll mit sog. Grammelot, Stammeln, Ironie und onomatopoetischem Gebrauch des Toskanischen. Benigni inszeniert ebenso alles Körperliche und scheut vor Obzönitäten nicht zurück.

Fos Schule des Theaters ist die sog. "Revue" gewesen, "wo die Rollenfigur wie die Bande des Billards ist, an die man schlägt, um ins Loch zu treffen, das heißt, um den Zuschauer hineinzuziehen."(2) Fo bereicherte die Revue mit satirirsch-gesellschaftskritischen Inhalten. Die Revue lebte vom Zusammenspiel verschiedenster Ausdrucksmittel: Sprache, Mimik, Gestik, Musik, Sensationen.

Nicht der Text, sondern das Schauspiel auf der Bühne ist primär.

Durch seine Frau Franca Rame, die einer Schauspielerfamilie mit 200-jähriger Familientradition entstammt, kam Fo mit der Commedia dell’arte und deren Improvisationstechnik Berührung.

In Paris lernte er die antinaturalistische Spielweise des absurden Theaters kennen. Er reiht sich ein in die Phalanx der Theaterproduzenten, bei denen der Mime das zentrale Element ist und die Beziehung Schauspieler-Publikum im Zentrum steht (Brecht, Meyerhold, Majakowski).

Dazu kommt noch das italienische Volkstheater des Mittelalters mit seinen Techniken der Komik und der Groteske als theatralisches Kampfinstrument. Aber das Groteske verweist bei Fo immer auf einen tragischen Untergrund und einen utopischen Horizont.

1953 hatte er, aus Paris zurück, sein Debüt auf der Bühne des "Piccolo Teatro" von Giorgio Strehler in Mailand.

 

Der totale Theatermann: Von der Revue zur Comune

Inzwischen hat Fo an die 50 Stücke geschrieben, er ist Schauspieler, Autor, Regisseur, Sänger, Bühnenbildner, Theaterleiter und -forscher. Auf der Bühne besticht er durch seine Vitalität, seine körperliche Präsenz und das Engagement, mit dem er seine Themen vorträgt. Jede Geste, jeden Tonfall weiß er treffsicher einzusetzen. Im "Manuale minimo dell’attore", dem Mindestwissen des Schauspielers, gewährt Fo Einblick in seine Theaterwerkstatt. 1952 schreibt er für das Radio eine Reihe satirischer Monologe (Armer Zwerg, Poer Nano), die Gemeinplätze und Heldenmythen entlarven und biblische Geschichten aus volkstümlicher Sicht interpretieren. Die ersten Lehrjahre absolvierte Fo beim Film, er schrieb und drehte zusammen mit C. Lizzani 1956 den Film Lo svitato (Der Abgedrehte), die Geschichte eines Mailänder Schweijk. 1962 präsentierten Fo/Rame vor 20 Millionen TV-Zusehern in politisch-satirischen Sketches damals populäre Schlagersänger. Fos Intention war es, hinter die Fassade des Wirtschaftswunders zu schauen und die Strukturen des Fernsehens zu nutzen, um sie von innen auszuhöhlen. Schließlich kam es zu einem Fernsehskandal von politischem Ausmaß und Fo/Rame wurden zu Symbolfiguren der italienischen Linken (sie erhielten ein 18 Jahre andauerndes Auftrittsverbot im Fernsehen).

Fos erstes Stück entsteht 1958 (Diebe, Modepuppen und nackte Frauen); es sind 4 Farcen und der Anfang seiner bis heute anhaltenden Auseinandersetzung mit der Farce sowie der Erforschung der volkstümlichen Kultur. Fo legt sich eine Sammlung von Schemata an, auf denen komische Handlungen aufgebaut sind. Er misstraut zunehmend der Funktion der Commedia dell’arte und knüpft an das mittelalterliche Theater des Giullare, des fahrenden Spielmanns, an.

Fos Theaterarbeit lebt von Brüchen mit den gängigen Darstellungsformen und Dramaturgien, den konventionellen Inhalten und Spiel-Räumen.

1959-67, in der sog. "bürgerlichen" Periode Fos, werden 6 seiner Stücke im renommierten Mailänder Odeon Theater aufgeführt. Bürgerliche Periode heißt sie deshalb, weil diese Stücke innerhalb der bürgerlichen Theaterstrukturen vor einem bürgerlichen Publikum gespielt wurden; denn bei den Stücken handelte es sich um soziale Satiren, die Spielweise war volkstümlich-clownesk. Besonders 1964-68 entstanden Komödien, die die Grundstrukturen der bürgerlichen Gesellschaft bloßlegten wie Siebentens: stiehl ein bißchen weniger und Die Frau zum Wegschmeißen.

 

Fo, der Revolutionär?

Der erste Bruch mit dem bürgerlichen Theaterbetrieb folgte 1968, denn die Bourgeoisie akzeptierte die Satiren Dario Fos, Hauptsache, dass diese Entlarvungen von ihrem bürgerlichen Machtapparat verwaltet werden konnten. Dario Fo bestätigt den Befund W. Benjamins aus dem Jahr 1934, dass der bürgerliche Produktionsapparat eine überraschend große Menge von Themen revolutionärer Natur assimilieren und sogar propagieren kann, ohne sich dabei ernstlich zu gefährden.(3)

Fo gründete deshalb die "Nuova Scena" und suchte sich neue Spielräume, die sog. Case del Popolo (Volkshäuser). Sein Theater bezieht jetzt klar Stellung für die Kultur der Arbeiterklasse und der volkstümlichen Schichten bzw. gegen die alles verschleiernde Kultur der Bourgeoisie. 1969 entsteht das Stück Der Arbeiter kennt 300 Worte, der Unternehmer 1000, deshalb ist er der Unternehmer.

Der zweite Einschnitt folgte 1970, es kommt zum Bruch mit der Kulturpolitik der Kommunistischen Partei Italiens. Man kreidete ihm an, mit seinen Inszenierungen nicht die Lage der Ausgebeuteten darzustellen, sondern die Partei ändern zu wollen. Fo wurden romantische Vorstellungen von Volkskunst, die Illusion einer totalen Spontaneität der Massen, die sektiererische Propagierung einer alternativen Kultur sowie Sympathie für den chinesischen Weg zum Sozialismus vorgeworfen.(4) Fo gründet das Theaterkollektiv "La Comune". Er entwickelt ein neues Kulturprogramm, eine Alternative nicht nur zur bürgerlichen, sondern auch zur revisionistischen Kulturpolitik. Zusammen mit der außerparlamentarischen Linken wird ein Netz alternativer Spielstätten aufgebaut, das sich jeder Kontrolle durch den Staat oder politischer Parteien entzieht. Im vorbereitenden Dokument hieß es: "Das Theater hat für uns nur eine Funktion, wenn es sich einerseits mit den Massen und ihren gerechten Forderungen verbindet und andererseits mit der organisierten Avantgarde, um einer der tausend Kanäle, eine der tausend Waffen des revolutionären sozialistischen Prozesses zu werden."(5) Als Ideal wurde also die Einheit von künstlerischer Arbeit und politischem Engagement als praktischer Beitrag zur Gesellschaftsveränderung propagiert. 1970 entsteht Zufälliger Tod eines Anarchisten über den angeblichen Selbstmord des Anarchisten Pinelli im Mailänder Polizeikommissariat. Die theatralische Kommunikation erschöpfte sich nicht im Angebot zur Entschlüsselung von Vorgängen aus der Realität, sondern Fo wollte klar machen, "dass das System ein ungeschlachter Schurke ist". "Wir wollen mit dem Publikum zusammen begreifen, was hinter diesem Apparat steckt, wir wollen die Maschinerie der Macht bis in ihre kleinsten Teilchen auseinander nehmen. Was dabei herauskommt, ist grotesk... Die Farce erlaubt die offenste, schonungsloseste Anklage."(6) 1971 entsteht Einer für alle, alle für einen! Verzeihung, wer ist hier eigentlich der Boss? über die italienische Arbeiterbewegung 1911-1922. Wie direkt Fos Sprache geworden ist, zeigt die Schlussszene dieses Stücks: "Diesmal gibt es keine Halbheiten ... werft uns ruhig ins Gefängnis ... wir werden dort stärker werden ... lernen uns organisieren ... immer stärker wird unsere Partei werden!"

1973 wird Fo in Sassari auf der Bühne verhaftet, er muss an die 45 Prozesse über sich ergehen lassen. Franca wurde im Frühjahr Opfer eines Überfalls durch 4 Neofaschisten, der von den Carabinieri initiiert worden war; erst Anfang der achtziger Jahre hat sie das schreckliche Erlebnis im Monolog Die Vergewaltigung aufgearbeitet. Der Schluss bietet eine schonungslose Abrechnung vor dem Polizeirevier: "Ich betrachte das Gebäude da drüben... / Ich stelle mir ihre Fragen vor ... / ihr unterdrücktes Grinsen ... / denke nach, überlege ... und dann ... / dann entscheide ich. / Ich gehe nach Hause. / Ich werde sie morgen anzeigen."(7)

1974 erhält Fo als feste Spielstätte die Mailänder "Palazzina Liberty" (die er 1979 wieder räumen muss). Nun entsteht das im Ausland meistgespielte Stück Bezahlt wird nicht!, eine militante Farce, in der sich Hausfrauen gegen ständige Preisteigerungen durch Plünderungen auflehnen, unmittelbar darauf das work in progress Nur Kinder, Küche, Kirche und Mistero Buffo, das auf mittelalterlichen Spielmann-Texten basiert.

1978 reist Fo als Mitglied einer italienischen Delegation nach Stammheim, um sich über die Haftbedingungen der RAF-Mitglieder zu informieren. Sein Bericht darüber erntet bei manchen Linken Ablehnung wegen des respektlosen, grotesken Tonfalls, mit dem Fo ein solches Thema behandelt. 1983 wird ihm die Einreise in die USA verweigert.

Theater ist für Fo eine Stätte politischer Aufklärung und sozialen Handelns, ein Ort, an dem das Verhältnis des Künstlers zum Publikum, zur Politik und zur Kultur ständig neu geprüft werden muss. Kultur und Politik sind nach Fo gleichberechtigt, bilden eine unzertrennliche Einheit, sie sind notwendig im Kampf für die Emanzipation von gesellschaftlichen Mystifikationen und Zwängen; dabei beruft er sich auf Gramscis Konzept vom Künstler bzw. Intellektuellen als Organ des Proletariats: "Die Kultur, sagt Gramsci, ist der fünfte Finger der Faust, die die Arbeiterklasse hat .... Man kann aber nicht zu einer eigenen Kultur finden, wenn man seine eigene Geschichte nicht kennt. Die älteste Geschichte der unterdrückten Klassen bewahrt das Theater der Volkstradition auf, ausgedrückt in der Farce und in der Satire."(8)

Fo wollte der bürgerlichen nicht einfach eine linke Gegenkultur entgegensetzen, sondern durch die Analyse der Vergangenheit die Zukunft besser voraussehbar machen, damit die Menschen zu Schöpfern ihrer eigenen Geschichte werden können. Die "eingreifenden Theateraufführungen" sind Bestandteil seiner Theaterarbeit geworden. Dieses direkte Interventionstheater will das Publikum zu unmittelbarem Handeln bewegen und eine Diskussion über das eben Gesehene in Gang bringen; Fo will aber auch eine Gegenöffentlichkeit schaffen und den Zuschauern Informationen liefern, die von den Massenmedien ignoriert oder unterschlagen werden.

Für Fo ist Theater an sich immer schon politisch, weil es die Politik einer bestimmten Schicht widerspiegelt. Mit seinem Theater verfolgt er ganz bestimmte Ziele, dergestalt, dass "es auf kulturellem Gebiet eine bestimmte Politik, die Konzeption einer bestimmten Gesellschaftsschicht maximal unterstützt."(9)

 

Die Geburt des Spielmanns in Mistero Buffo. Obszöne Fabeln oder das von Dario Fo erfundene Mittelalter

Mistero Buffo ist der breit angelegte Versuch, mit Hilfe von Szenen mittelalterlicher Mysterien- und Passionsspielen, Parodien und Moralitäten Fragmente einer Kultur so zu zeigen, wie sie uns die Geschichtsschreibung bislang nicht gezeigt hat, und zwar aus der plebejischen Perspektive. Die Kirche wird als Machtapparat entlarvt (und wie sie alle jene bestraft, welche die Botschaft Christi umsetzen wollen); den Mystifikationen der bürgerlichen Kultur wird widersprochen.

Schon der normannische König Ruggero II. erkannte die Gefahren, die von den Marktplätzen ausgingen - in der Gesetzgebungsschrift de ioculatoribus wird ihnen öffentliche Auspeitschung als Abschreckung angedroht, falls Sie die Kutten von Nonnen, Mönchen oder Klerikern für ihre Faxen einsetzen.

Friedrich II. hatte in Messina 1221 folgendes erlassen: "contra ioculatores obloquentes ut qui in personis aut rebus illos offenderit, pacem non teneatur imperialem infringere."(10) So weit verbreitet war anscheinend dieses Übel der Spielleute auf Marktplätzen zu jener Zeit in Sizilien verbreitet.

Damals wurde eine Art Steuer, die cabella ioculatoria erhoben, und zwar sollten sie Privatleute entrichten, falls sie sich zur Hochzeit oder anderen Festen von Spielleuten unterhalten ließen.(11)

In die nachstaufische Zeit fällt auch das Werk des Sizilianers Ciullo (Cielo, wie sein Name, der auch als Bezeichnung für das männliche Geschlechtsorgan fungiert, von Dante u.a. Größen der italienischen Literaturgeschichtsschreibung beschönigt wird) d’Alcamo - ein Vorbote der obszönen Fabeln aus dem Mistero Buffo von Fo. Ciullo d’Alcamo liefert Fo die Vorlage für sein komisch-groteskes Theater - Fo übernimmt von ihm die Farce "Rosa fresca aulentissima / Rose, frisch und duftend". Dieser Dialog zwischen einem Steuereintreiber und einem Mädchen, dem er eine Liebeserklärung machen möchte, steht in den italienischen Schulbüchern - er wurde von Dante, nach Fo der "erste Betrüger" in der Tradition der italienischen Schulbuchautoren, ausgewählt und nebenbei der Autor Ciullo zu einem Adligen erhoben, obwohl d’Alcamo nur die Herkunft anzeigt, aus Alcamo (in Nordwestsizilien) stammend, und nicht von Alcamo als Adelstitel. Der männliche Protagonist verbirgt dabei das Steuereintreiberbuch unter dem Mantel, damit das Mädchen ihn für einen Edelmann halten möge - das Mädchen hingegen gibt sich als Tochter des Hausherrn aus, in Wirklichkeit ist es nur eine Dienstmagd des Hauses.

Der Mann rezitiert "Rose, frisch und lieblich, die im Mai erblüht ..." und parodiert damit die höfische Sprache. Und weiter: "Seit ich dich in der Kutte sah, seit jenem Tag, du Schöne, bin ich dein." Gemeint ist die Kittelschürze ohne Ärmel der Waschfrauen, "Als ich dich sah von hinten in der Kutte stehn, wie eine Wäscherin, da war’s um mich geschehn!"(12) Und das Mädchen empört sich und droht: "Wenn du auch nur versuchst, mir Gewalt anzutun, dann schreie ich so laut, dass meine Eltern kommen und dich mit dem Knüppel totschlagen!" Darauf reagiert der Steuereintreiber, der ja den jungen Edelmann aus reichem Hause mimt, mit seinem Freibrief: "Wenn deine Verwandtschaft kommt, während ich dich vergewaltige, was können sie mir antun? Ein Freigeld lege ich hin von 2000 Augustinern."(13) Dante hatte diesen Dialog des Ciullo in "De Vulgari Eloquentia" nicht ohne Anmaßung kommentiert: "Gut, es gibt ein paar Ungeschliffenheiten in diesem Text, einige Plumpheiten, doch der Autor ist zweifellos ein gebildeter und kultivierter Mensch."(14)

Mistero Buffo parodiert im Titel den Begriff "Mysterienspiele". Seit dem 2./3. Jh. nach Chr. meinte man damit religiöse Darbietungen, buffo steht für "grotesk" und Mistero eben für "Geheimnis": "Erfinder der komischen Mysterienspiele ist nach Fo das Volk. Das Volk unterhielt sich seit dem ersten nachchristlichen Jahrhundert damit - und das diente nicht nur der Unterhaltung -, Schauspiele in ironisch-grotesker Form zu erfinden und aufzuführen. Für das Volk war das Theater, vor allem das Theater des Grotesken, stets ein hervorragendes Ausdrucksmittel, aber auch ein Instrument der Provokation und der Agitation, d.h. der Verbreitung von Ideen. Das Theater war die gesprochene und dramatisierte Zeitung des Volkes."(15)

Dario Fo hat die Geschichten, die er in Mistero Buffo erzählt, als nur leicht bearbeitete mitteralterliche Originalstoffe ausgegeben, z. B. Die Geburt des Spielmanns, Die Auferstehung des Lazarus, Bonifazius VIII. Er hat den Quellen für seine szenischen Monologe Ideen entnommen, sie aber für seine Zwecke frei ausgeformt, ganz im Sinne Antonio Gramscis, des KPI-Gründers, der 1916 schrieb: "Sich selbst kennenzulernen heißt, selbst zu sein, heißt, sein eigener Herr zu sein." Oder wie Fo meint: "Wenn du nicht weißt, woher du kommst, wirst du schwerlich verstehen, wo du hinwillst. "(16)

Dario Fo sieht im Mittelalter zwei verschiedene Kulturen im Konflikt, die der Aristokratie und die des Volkes: "die der Aristokratie, die sich nicht für die Existenz des Volkes interessierte, hat sich in den Klöstern entwickelt und ist der byzantinischen Tradition verhaftet geblieben. Und dann haben, daneben die volkstümlichen Gemeinschaften ihre eigene Kultur schaffen können, die an die Zünfte gebunden war und sich in den Gesängen, Tänzen, der Medizin und den Riten wiederfindet: es ist eine Kultur, in der die dionysischen Riten, die Drachen, die Irrlichter, die Dämonen (im positiven Sinn) ihren Platz haben und die die Tiere zum Sprechen bringt."(17)

In Mistero Buffo. Obszöne Fabeln beschreibt Fo auch die "Geburt des Spielmanns": "Kommt herbei, ihr Leute, der Spielmann ist da! Ein Spielmann, der tanzt und springt und der euch zum Lachen bringt und sich lustig macht über eure Herren! Der euch zeigt wie eitel und aufgeblasen sie sind, diese Fettsäcke, die überall Krieg machen, wo wir nur das Schlachtvieh sind! Ich stelle sie bloß, ich lasse ihnen die Luft raus, so daß sie ...: Pffft! ... in sich zusammenfallen."(18) Am Ende des Stücks erfährt der arme Bauer, der von Christus in Person zum Spielmann "geadelt" wird, was er zu tun hat. Er bekommt folgenden göttlichen Auftrag: "Geh in die Welt zu denen, die dich mit Steinen beworfen haben, und sprich zu ihnen, lehre sie, zu verstehen, und tue so, daß deine Zunge solche aufgeblasenen Fettwänste, wie dein Patron einer ist, durchbohrt, laß ihn Blut und Wasser schwitzen... Zerschmettern sollst du diese feinen Herren, Priester und alle andern, die ihnen dienen: Advokaten, Notare etc. etc. Nicht zu deinem Nutzen, nicht für deinen Acker, sondern für diejenigen, die keinen Acker haben, ... Lehre sie, nicht nur ihre Hände und Füße zu gebrauchen, sondern auch ihr Gehirn!"(19) Durch einen Kuss Christi auf den Mund erhält der Spielmann nun seine Schwertleite, er wird mit seiner Zunge wie ein Schwert zum Kämpfer gegen alle Blutsauger dieser Welt, er erhält "die Kraft der Sprache", was den giullare, den Spielmann, nun zu frenetischem Handeln antreibt: "Kommt herbei, ihr Leute, kommt herbei! Der Spielmann ist da! ... Ich will mich messen mit unserm Patron, mit diesem aufgeblasenen Fettsack! Ich will ihn durchbohren mit meiner Zunge! Alles will ich euch berichten, wie es kommt und wie es ist und daß Gott nicht derjenige ist, der uns bestiehlt! Die Herren sind es, die Patrone, die ungestraft stehlen, und die Gesetze in den Büchern sind von ihnen gemacht ... Reden, reden! He, ihr Leute! Der Patron geht zugrunde! ... Wir wollen keine Herren mehr!"(20)

Am Anfang des Theaters von Dario Fo steht also ein göttlicher Kuss.

 

Der Giullare oder der Spielmann

Auf einer Tournee durch Dänemark 1967/68 bemerkte Fo, dass er bei der Einführung in die Handlung vor der Aufführung des Stücks vom Publikum mit lautem Beifall bedacht wurde -lauter und länger als erwartet. Die Leute unterhielten sich bei seinen Einleitungsmonologen bald prächtiger als beim Stück und so baute sie Fo nach und nach szenisch aus.

Nachdem Fo versucht hatte, eine volkstümliche Version der Evangelien auf die Bühne zu bringen, arbeitete er als Quelle mittelalterlich-religiöse Bühnenstoffe aus Polen und Tschechien ein (in denen z.B. Christus in die Hölle hinabsteigt, um die Päpste zu verprügeln). Zudem bezieht er sich auf Majakowskij, der in seinem Stück Misterija-buff (Mysterium buffo) auf groteske Weise den Kampf des Proletariats beschreibt.

Auf der Grundlage verschiedenster Dialekte und Regionalsprachen der Po-Ebene, die heute noch gebraucht werden, erschafft sich Fo eine eigene Kunst- und Theatersprache, und zwar das Grammelot für Mistero Buffo. Die deutsche Übersetzung ist allerdings die Übersetzung einer Übersetzung, d.h. aus dem Hochitalienischen (die italienische Ausgabe ist ein sog. "testo a fronte", links die Grammelot-Fassung, rechts die hochitalienische Fassung). Der Übersetzer Chotjewitz sah sich außerstande, eine im Deutschen entsprechende dialektale Form zu finden, denn Fo "interpoliert ... verschiedene Sprachen oder Abweichungen innerhalb derselben, versetzt sie mit älteren Ausdrücken und gibt seinen Texten zudem einen individuellen und stark ins lautsprachliche gehenden Gestus."(21) Fo sieht in der verfälschenden Kanonisierung von Texten der Volkskultur als Texte der höfischen Kultur einen Skandal - so wird der Dialog von Ciullo d’Alcamo in Mistero Buffo immer noch gern der Hofkultur zugerechnet, obwohl es ein Beispiel aus der Tradition der Volkskultur ist.

Doch man kann kritisch einwenden, diese Figur des giullare, wie sie Fo darstellt, hat es nie in der reinen Form gegeben; manches ist allerdings daran authentisch. Doch neben dem giullare gibt es da noch den Harlekin aus der Commedia dell’arte. Nach Fo hat dieser in seiner Urform ebenfalls eine politische und moralische Aufgabe, eine Fähigkeit zur Provokation, d. h. sich "satirisch gegen die Gewalttätigkeit, die Grausamkeit, die Heuchelei und die Ungerechtigkeit aufzulehnen".(22)

 

Die "andere" Volkskultur - Mistero Buffo

1969 wurde die nach jahrelanger Recherchearbeit in der Bibliothek von Ragusa entstandene Spielmannsdichtung Mistero Buffo uraufgeführt. Das Stück signalisiert den Übergang Fos vom frühen Revuetheater zum politischen Theater nach 1968.

Es zeigt Ausschnitte einer Kultur, wie sie in den offiziellen Geschichtsbüchern nicht vorkommt, und zwar aus der Sicht derer, die Geschichte zwar machen und erleiden, aber nicht selber schreiben.

Diese plebejische Sicht arbeitet den Mystifikationen der bürgerlichen Kultur entgegen und entlarvt die Kirche als Machtapparat. Das Stück ist im paduanischen Dialekt geschrieben, doch jeder Szene geht eine Vorrede voraus, die Kommentare und Parallelen zur Gegenwart enthält. Fo sieht sich als zeitgenössischer Giullare, also in der Tradition der mittealterlichen Spielleute, die aus dem Volk hervorgingen, vom Volk her ihre Wut nahmen, "um sie dem Volk mittels der Groteske, mittels der ‚Vernunft‘ wieder zurückzugeben, damit das Volk sich seiner eigenen Lage bewußt wurde."(23) Die mittelalterlichen Mysterien bringen eine andere Sicht auf die Welt zum Ausdruck. Fos Theater als Instrument der Kommunikation wird exemplarisch im Mistero Buffo gezeigt, denn es handelt sich um eine Szenenfolge, die Fo bis heute häufig modifiziert und aktualisiert hat (sie wurde allerdings selten nachgespielt, weil sie einen anderen Typ Schauspieler als den der Guckkastenbühne verlangt). Fo hat das Mistero Buffo in wenigen Jahren mehr als tausend Mal aufgeführt; er will das Publikum dadurch dazu einladen, sich seine eigene Kultur wieder anzueignen, um der Gelehrtenkultur etwas entgegen setzen zu können.(24) Mit dieser Collage von Texten wollte Fo die gesellschaftliche Bedeutung der mittelalterlichen Theatertradition(25) aufzeigen "und dieser Tradition all ihre authentischen Werte zurückgeben: der Protest gegen eine auf Unterdrückung ausgehende Weltanschauung und folglich der Kampf um die Anerkennung einer neuen Weltanschauung, die der herrschenden Klasse fremd ist."(26)

Fos politisches Theater war immer auch als Volkstheater gedacht, das Teil einer alternativen Kultur oder Produkt der Kultur des Marktplatzes war. Im Kleinen Handbuch des Schauspielers bezieht er sich auf A. Hausers Soziologie der Kunst und definiert die Kunst der Spielleute in ihrer Bindung an die unteren Schichten, die ihre Richtlinien aus den unmittelbaren Erfahrungen mit dem Publikum schöpften.(27)

1977 wird in Bologna Die Geschichte einer Tigerin aufgeführt, ein Gleichnis, das Hoffnung in auswegloser Situation wecken möchte. Fo hatte die Geschichte vor der Niederschrift 2 Jahre aus dem Stegreif gespielt. Die Zuschauer nehmen Teil an der kollektiven Vernunft des Volkes, die gewonnenen Erfahrungen werden aus unterschiedlichen Blickwinkeln vorgeführt. Durch diese Orientierung auf kollektive Interessen potenzieren sich die individuellen Kräfte der Zuschauer. In China lautet die allegorische Bedeutung von "wer den Tiger hat": er leistet auch in einer ausweglos scheinenden Situation Widerstand.

 

Das Grammelot - eine bewegliche, nicht-normierte Sprache

Die einfachste Form des Grammelot sprechen die Kinder, die mit ihrer unbändigen Phantasie so tun, als redeten sie völlig klar; Fo bezeichnet das Grammelot als onomatopoetische Vortäuschung der Rede (ursprünglich nach dem Konzil von Trient 1545 im Volkstheater verbreitet um die Zensur zu umgehen); sie wird willkürlich ausgeführt, und stellt zusammen mit den sie unterstützenden "Gesten, Rhythmen und Tönen einen vollständigen Vortrag" her. Dieser "Brei von Tönen, die dennoch den Eindruck erwecken, als hätte die Rede einen Sinn" lässt sich nur über Intuition verstehen, doch je "einfacher die Gesten zu verstehen sind, die das Grammelot begleiten, desto leichter fällt das Verständnis der Erzählung", deren Kennzeichen Fo so zusammenfasst: "Onomatopoetische Klänge, klare und sinnfällige Gestik, Timbre, Rhythmus, Koordination und, vor allem, eine starke Vereinfachung."(28) Diese Grammelot-Sprache klingt irgendwie vertraut, doch tauchen nur einzelne bekannte Wörter auf, der ganze Satz bleibt aber unverständlich - doch nun springt die Geste ein, der Mimus, der so die Kunstsprache übersetzt.(29)

Fo orientiert sich an der Umgangssprache, erfindet aber wie der mittelalterliche Giullare, der sich aus hunderten von Dialekten seinen eigenen Dialekt zusammenstellte, eine Sprache von hoher Expressivität. Das Zitieren unterschiedlicher Dialekte verweist darauf, dass das Volk heute seine eigene Sprache behalten soll, die im Widerspruch zur aseptischen Sprache der Massenmedien steht.

 

Die subversive Macht der Komik

Die Komik transportiert natürlich v.a. das Grammelot - die Lautsprache, ein Spiel "mit sprachlichen Tönen das höchstens zu zehn Prozent aus wirklichen Wörtern besteht. Der Rest ist ein akustisches Sprudeln, offensichtlich zusammenhanglos, das die Aufgabe hat, die Bedeutung der jeweiligen Situation aufzuzeigen."(30)

Satire ist bei Fo Waffe des Volkes, höchster Ausdruck des Zweifels und wichtigstes Signal für Vernunft. Daher ist politisches Theater bei Fo immer unterhaltend, auch wenn es um ernste Themen geht. Er sieht die Komödie als wirksamste Form des Theaters an, denn über das Gelächter stellt sich das Erkennen ein. Die Farce zeigt hinter einer geregelten Wirklichkeit eine Welt voll von verkehrter Ordnung. Dass das Groteske immer auf einen tragischen Hintergrund und einen utopischen Horizont verweist, zeigt sein Sketch Grammelot vom Hunger des Zanni. Er ist das Abbild des ewig hungernden Bauern aus der Commedia dell’arte, im Traum isst er sogar sich selber auf.

Komik kann nach Fo nur entstehen, wenn sie gepaart wird mit einer ernsten Grundsituation.

 

Spiel der Andeutungen und Unterbrechungen

In Fos Mistero Buffo vertritt der Schauspieler eine kollektive Perspektive, eine chronische Haltung; als Material hat er nur seine Stimme, seine Gestik, seine Mimik. Er zerschlägt die "vierte Wand" (31) des Theaters und richtet sich direkt an die Zuschauer. Die Bühne ist ein Spielgerüst in 2 Ebenen ohne Vorhang und mit einem Laufsteg mitten ins Publikum - die Einheit von Bühne und Zuschauerraum wird betont.

Von Anfang an wird ein Spiel der Unterbechungen, des ständigen Alternierens praktiziert. Im Prolog wechseln sich Information und Kommentar, Vergangenheit und Gegenwart ab. So kann nie die Illusion aufkommen, das Spiel sei Wirklichkeit und nicht eine auf dem Theater für Zuschauer vollzogene Handlung. Der Schau-spieler braucht Improvisationskunst und Körperbeherrschung, er wird zum Schau-sprecher (a-parte-Technik); die Unterbrechungen bieten dem Publikum Zusatzinformationen über nachfolgende Spielsituationen und dem Schauspieler die Chance, dem Gezeigten gegenüber eine souveräne Haltung einzunehmen. Gang und Rhythmus der Aufführung werden bei Fo entscheidend vom Publikum mitbestimmt, ohne Zwischenfälle kommt sein Theater nicht aus. Fo bediente sich dieser Zwischenfälle, manchmal provozierte er sie, denn die Zwischenfälle waren auch der Nerv des Volkstheaters, bevor die Commedia dell’arte entstand.

Der Anti-Mime Fo reduziert wie sein Vorbild Totò Figuren in Sekundenschnelle auf eine Minimalversion, springt von einer Figur zur anderen und appelliert an die kritische Intelligenz der Zuschauer, wobei der Text immer nur ein Sprungbrett zum Spiel darstellt. Seine Mischung aus volkstümlichen Themen und Gags, die Wendung des Komischen zum Grotesken, der Einsatz moderner Spieltechniken wie Verfremdung, Antinaturalismus und Entpsychologisierung wurden bei Aufführungen im Ausland allerdings zu wenig beachtet und dies hat oft dazu geführt, dass man Fo seiner Modernität beraubte. Denn wer im Theater auftritt, muss stets den Eindruck vermitteln, alles ohne Anstrengung zu tun und völlig entspannt zu sein; dabei geht es Fo darum, "in Andeutungen zu sprechen, Hinweise zu geben, das Unausgesprochene zu zeigen und die Phantasie anzuregen - das ist die Arbeit des Schauspielers. Das Theater ist eine Fiktion der Realität, nicht deren Imitation."(32)

Fo kritisiert daher den übertriebenen Gebrauch von Effekten bzw. billigen Gags in ausländischen Aufführungen seiner Stücke; als Grund, warum diese Aufführungen trotzdem "Kasse bringen" (und deswegen würden seine Stücke, so vermutet er, so häufig gespielt und nicht wegen ihrer Botschaft oder der politischen Argumentation), führt er an, "dass das Publikum im Ausland häufig nicht sehr wählerisch ist."(33)

 

Fos Erfolg in Deutschland und anderswo

Seine ersten Auslandstourneen führten ihn nach Skandinavien und Frankreich, wo man früh auf ihn aufmerksam wurde. Inzwischen werden seine Stücke in über 50 Ländern inszeniert.

Doch in keinem anderen Land sind heute Fo-Inszenierungen so häufig auf dem Spielplan der Theater wie in Deutschland (ca. 850 Inszenierungen insgesamt von 33 Stücken); hatte das nur mit dem wachsenden Interesse der deutschen Linken für Italien zu tun? War das alles nur Folklore oder traf Fo den Nerv der Zeit, indem er neue Zuschauerschichten ansprach? Ein Grund war wohl, dass Fo einmal jährlich mit einer Eigenproduktion in Deutschland auftrat. V.a. seine Stegreif-Pantomime zum Tod von A. Baader in Stammheim war sehr umstritten. Gesellschaftliche Parallelen zwischen Italien und Deutschland in den 70er und 80er Jahren (Terrorismus, Drogenproblem, Rolle der Sozialdemokratie) weckten Interesse für seine Stücke auch in Deutschland. Das Interesse der DDR-Theater an Fo hat andere Ursachen: er war ein "leichter" Brecht, ein Oppositioneller und ein linker Komiker, aber auch ein Stückeschreiber, der didaktisch sein konnte.

Fo hat Rollen und Situationen mit hohem Wiedererkennungswert geschaffen: starke Frauen, die sich der Macht und den Männern widersetzen; Figuren wie Polizisten, Richter, fiese Journalisten und Kommissare; die Willkür der Exekutive, das kriminelle Potential des Staates und der Widerstand von unten gehören zu Fos Themenpalette. Die Themen seiner Stücke spiegeln auch die innenpolitische Diskussion Italiens wider: in den 50er Jahren drehte sie sich um die Macht der Kirche, in den 60er Jahren um die amerikanische Außenpolitik, um Klassenkampf, Revisionismus und Terrorismus, in den 70er Jahren um Wirtschaftskrise, Drogen, Frauenfragen und in den 80er Jahren um den Rückzug ins Private, in den 90er Jahren um die italienische Innenpolitik und die Finanzskandale. Diese aktuellen Themen werden mit den Mitteln der Groteske und Komik in eine Bühnenfassung gebracht, die sich allerdings im Laufe der Inszenierungen laufend wandeln kann.

Die Laxheit im Umgang mit geistigem Eigentum scheint Fo mit Brecht zu verbinden; vieles kennen wir schon aus Chaplin-Filmen, u.a. das Grammelot. Oder haben sie beide nur aus ähnlichen Quellen, etwa Clownerie und Volkstheater geschöpft?

 

Theater und Politik

Italien hatte im Unterschied zum Deutschland der zwanziger Jahre aufgrund der langen (und 1922 einsetzenden) Herrschaft des Faschismus nie ein wirkliches Arbeitertheater gekannt. Fo knüpfte an die Forderungen der italienischen 68er Bewegung an und macht die Beurteilung seiner Kunst von der Fähigkeit abhängig, für politische Aktionen zu begeistern und die Revolution von der Bühne her zu initiieren. Die italienische Protestbewegung war diejenige in Westeuropa, die am längsten dauerte und am tiefsten reichte, bis in die Universitäten, Schulen und Fabriken, in die gesamte Gesellschaft hinein. Immer wieder wies Fo darauf hin, dass Kunst unter der Aufsicht einer Partei früher oder später zum Tode verurteilt sei. Doch er will Politisierung betreiben, versteht Theater als Stätte politischer Aufklärung und sozialen Handelns, als einen Ort, an dem das Verhältnis des Künstlers zu seinem Publikum, zur Kultur und zur Politik ständig neu überprüft wird.

Kultur und Politik stehen gleichberechtigt nebeneinander, sie bilden eine Einheit, denn beide sind notwendig im Kampf für Emanzipation und gegen gesellschaftliche Zwänge.

Doch nicht das bloße Spiel soll die Zuschauer fesseln, sondern beabsichtigt ist, in die Welt der Willkür und der legalisierten Gewalt mit den Mitteln des satirischen Lachens als Waffe der Vernunft einzudringen, um die Logik der Klassengesellschaft herauszustellen. In Mistero buffo steht Fo auf der leeren Bühne und unterhält sich (nicht nur in den Prologen) mit seinem Publikum. Er macht es mit einem Erkenntnisprozess vertraut, der den Sachverhalt des Klassenkampfes veranschaulichen soll.

Theater wird zum politischen Kampfmittel, das Spiel wird zur Lebensform. Die Kunst bewegt sich im Spannungsfeld gesellschaftlicher Prozesse.

Im Gegensatz zum psychologisierenden Theater, das durch Einfühlung die Sicht auf die subjektive Perspektive einiger weniger Figuren einschränkt, erfolgt bei Fo der Rollenaufbau nach gesellschaftlichen und politischen Gesichtspunkten. Fo (und darin ähnelt er Brecht) versuchte seine ästhetischen Forderungen mit der Wirklichkeit des Proletariats zu verbinden. Es durfte aber nicht reines Dokumentartheater bleiben, als Untertitel zur Wirklichkeit, sondern es sollte eine "eingreifende" bewegte Aufführung entsehen, welche die Leute über dramatische Situationen zum Lachen bringt. Das heißt für Fo: aus der Erfahrungsperspektive des "Volkes" schreiben und Glaubenssysteme, Gewohnheiten als veränderbar darzustellen.

Er wollte allerdings der bürgerlichen Kultur nicht einfach eine linke Gegenkultur entgegensetzen, sondern die Werte der Kultur des Volkes, wie sie sich in der Vergangenheit und in der Gegenwart manifestieren, vom Blickpunkt der Erfahrungen des internationalen Proletariats zeigen.

Im Vorwort des zweiten Bandes der Ausgabe seiner Stücke beklagte Fo, die Bezeichnung "politisches Theater" führe meist zu dem Missverständnis, dass damit die Art und Weise des Theaters von Piscator gemeint sei. Nach Fos Ansicht ist heute die Tatsache, dass alles Theater - auch das der reinen Unterhaltung - politisch sei, da es jeweils die Politik einer bestimmten sozialen Klasse wiederspiegele und Ausdruck der Interessen bestimmter politischer Gruppen sei, im Bewusstsein aller präsent.(34) Daher zieht er dem Begriff "teatro politico" den Begriff des "teatro popolare" (Volkstheater) vor. Er verlangt vom Theater, für das er sich engagiert, "dass es auf kulturellem Gebiet eine bestimmte Politik, die Konzeption einer bestimmten Gesellschaftsschicht maximal unterstützt."(35) Der Spielweise des Volkstheaters liegt eine andere ideologische Vorstellung, ein anderes Verhältnis von Publikum und Bühne zugrunde als im bürgerlichen Theater: "Aus diesem Grund ist das Volkstheater immer episch. Das Volkstheater geht von einem ideologischen Standpunkt aus, nämlich von der Ideologie der Gemeinschaft, der Gemeinsamkeit der Interessen, die soziale Interessen sind, Interessen des Zusammenlebens, des Zusammen-Produzierens und der Aufteilung von dem, was erwirtschaftet wird."(36)

Theater ist für Fo also immer ein Mittel des Kampfes geblieben, Schauplatz und Sprachrohr der Politik, aber auch Medium des Austauschs mit den anderen. Doch seine Themen entsprangen der unmittelbaren Aktualität und sie waren folglich dazu verdammt, sich schnell zu verbrauchen.

 

Wege des epischen Theaters: Bertolt Brecht und Dario Fo Mistero Buffo

Fo erwartete sich vom Schauspieler, dass er bei den Monolgen des Mistero Buffo sein zweites Register zieht, Tagesaktualitäten einbaut, auf die Stimmung des Publikums reagiert, einen epischen Gestus in das Theater bringt: "Indem man die Stimme erhebt und in den Raum projiziert, vergrößert man auch die Szenerie und verwickelt das Publikum physisch in das Spiel; es verwandelt sich in einen Chor, der um mich herum auf der Bühne am Geschehen teilnimmt. Auch das ist eine Methode der epischen Darstellungsweise. Der Zuschauer wird einbezogen und muss seine Position immer wieder verändern. Er muß immer die Möglichkeit haben, dabeizusein und seine Rolle bewußt zu erleben; er darf sich nicht nur der Verdauung hingeben."(37)

Alle Szenen des Mistero Buffo werden in einer Art paduanischem Dialekt vorgetragen, deshalb flicht Fo vor jeder Szene eine Vorrede ein, die das Folgende ausführlich kommentiert und durch Parallelen zur Gegenwart erklärt.

Wie bei Dario Fo bezieht sich auch Brechts Literatur- und Theaterproduktion immer auf die extratextuelle Realität und ist auf gesellschaftliche Kommunikation aus. Seit Ende der zwanziger Jahre wird ein mit der Marxschen Theorie fundierter Sinnentwurf als Widerstand gegen die kapitalistische Gesellschaft propagiert. Wie bei Dario Fo dominieren auch bei Brecht Formen des Dialogisierens, das gesprochene Wort, v.a. die Umgangssprache. Bei Brecht kommt es so zu einer neuartigen, literarisch-theatralen, visuell-gestischen Qualität: "Einheit von Vergnügen und Lehre, von lustvoller und sinnvoller Tätigkeit, von Genuß und Nutzen. Beileibe kein blutleeres Lehrtheater, eher Volksspekatkel als Schillersche moralische Anstalt - auch wenn Eisler Brecht als den ‚besten Schüler von Schiller’ bezeichnet. Da gibt es derbe, von plebejischem Witz strotzende Szenen, subtile Anspielungen und artistische ‚Kisten’, Komik ebenso wie Pathos." Wie Dario Fo wollte auch Brecht "ein buntes Theater, das alle menschlichen Haltungen erfasst, die Ratio, aber auch die Gefühle."(38)

Im Bereich der Darstellung sind die eindeutigsten Analogien, aber auch Unterschiede zwischen Brecht und Fo nachzuweisen; Brecht inszeniert als Stückeschreiber, Fo vereint die Rollen des Dramaturgen, des Regisseurs und des Schauspielers in einer Person. Daher konnte Fo eigentlich nicht stilbildend wirken, denn er folgt keinem so strengen Kanon (wie Brecht) im Sinne von dramaturgischen, ästhetischen und technischen Regeln. Allerdings forderte Fo vom Schauspieler technische und ideologische Vorbereitung. Auch bei Brecht sollte der Schauspieler gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung tragen; Historisierung hieß für Brecht, dass auch die Techniken des epischen Theaters in dauerndem Wandel begriffen sind: "Ich stimme Ihnen darin absolut zu, daß die Frage, was für Kunstmittel gewählt werden müssen, nur die Frage sein darf, wie wir Stückeschreiber unser Publikum sozial aktivieren (in Schwung bringen) können. Alle nur erdenklichen Kunstmittel, die dazu verhelfen, sollten wir, ob alte oder neue, zu diesem Zweck erproben."(39) Brechts Texte waren nie "fertig", denn in enger Beziehung zur Theater-Praxis wurden sie von ihm ständig auf deren Gebrauchswert geprüft und entsprechend verändert. In seinen Stücken verwendet Brecht epische Theatertechniken nicht nur punktuell, sondern die Episierung wird als Kommentar-, Reflexions- und Erzähl-Ebene konstitutiv. In "Über die gestische Sprache in der Literatur" merkt Brecht an, dies sei eine Sprechweise, "die zugleich stilisiert und natürlich war. Dies erreichte er [Me-ti, M.E.B.], indem er auf die Haltungen achtete, die den Sätzen zugrunde liegen: Er brachte nur Haltungen in Sätze und ließ durch die Sätze die Haltungen immer durchscheinen. Eine solche Sprache nannte er gestisch, weil sie nur ein Ausdruck für die Gesten der Menschen war."(40)

Der epische Schauspieler Dario Fo begreift sich als zeitgenössischer "Spielmann", als Giullare, er "war im Mittelalter also jemand, der zum Volk gehörte; wie Muratori sagt, ging der Giullare aus dem Volk hervor, und vom Volk her nahm er seine Wut, um sie dem Volk mittels der Groteske, mittels der ‚Vernunft’ wieder zurückzugeben, damit das Volk sich seiner eigenen Lage bewußt wurde. "(41)

© Maria E. Brunner (Schwäbisch-Gmünd, Schondorf a. A.)


ANMERKUNGEN

(1) Dario Fo zit. in: Klüver, Henning: Dario Fo. Biografie, Hamburg 1998, S. 7 u. 11.

(2) Maria Grazia Gregori: Dario Fo e i tromboni. In: L’Unità (16.4. 1987), S. 12.

(3) Vgl. Benjamin, Walter: Der Autor als Produzent. In: Versuche über Brecht, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. Main 1975

(4) Vgl. Valentini, Chiara: La storia di Dario Fo, Milano 1977, S. 113.

(5) Fo zit. in: Valentini, Chiara: La storia di Dario Fo, Milano 1977, S. 133

(6) Dario Fo zit. in: Dario Fo über Dario Fo, herausgegeben und kommentiert von Hannes Heer, Köln 1979, S. 50f.

(7) Rame, Franca: Die Vergewaltigung, in: Fo, Dario/Rame, Franca: Offene Zweierbeziehung. Eine Mutter. Die Vergewaltigung, Berlin 1985, S. 68.

(8) Fo zit. in: Dario Fo über Dario Fo, S. 86.

(9) Fo zit. in: Dario Fo über Dario Fo, S. 126.

(10) Isgrò, Giovanni: Festa Teatro Rito Nella Storia Di Sicilia. Storia dello spettacolo in Sicilia, Palermo 1981, S. 7.

(11) Isgrò, Festa Teatro Rito Nella Storia Di Sicilia, S. 36.

(12) Fo, Dario: Mistero Buffo. Übersetzt von Peter O. Chotjewitz, Frankfurt a. Main 1997, S. 61f.

(13) A.a.O., S. 66. Die Geschichte spielt 1231, Augustiner waren Münzen.

(14) Dante zit. In: Ebd., S. 60.

(15) Fo, Dario: Mistero Buffo, Frankfurt a. Main 1997, S. 59.

(16) Gramsci und Fo zit. in: Klüver, Fo, S. 62.

(17) Fo zit. in: Ortolani, Olivier: Dario Fo. Theater und Politik, Berlin 1985, S. 31.

(18) Fo, Dario: Mistero Buffo, Frankfurt a. Main 1997, S. 113.

(19) A.a.O., S. 118.

(20) A.a.O., S. 119.

(21) Chotjewitz, Peter O.: Nachbemerkung des Herausgebers, in: Fo, Dario: Mistero Buffo, S. 156.

(22) Fo zit. In: Klüver, Henning: D ario Fo, Hamburg 1998, S. 21.

(23) Fo, Dario: Mistero Buffo, Verona 1973, S. 20.

(24) Vgl. Dario Fo über Dario Fo, S. 100f.

(25) Vgl. dazu auch Münz, Rudolf: Theatralität und Theater, Berlin 1998.

(26) Chotjewitz, Peter O./Jungblut, Helga: Dario Fo und sein Theater. In: Dario Fo: bezahlt wird nicht! Berlin 1977, S. 93.

(27) Vgl. Fo, Dario: Kleines Handbuch des Schauspielers, Frankfurt a. Main 1989, S. 133

(28) A.a.O., S. 85 und 87.

(29) Vgl. dazu auch: Giacchè, Piergiorgio: Carmelo Bene. Antropologia di una ‘macchina teatrale’. Milano 1997.

(30) Fo zit. in: Klüver, Fo, S. 65. U.a. benutzte auch Molière das Grammelot, um die Zensur zu täuschen.

(31) Fo, Kleines Handbuch des Schauspielers, S. 108f: "Die vierte Wand zerschlagen. Der größte Teil des Theaters, auch des modernen, ist so konzipiert, dass es das Publikum zu totaler geistiger Passivität verurteilt."

(32) A.a.O., S. 261.

(33) A.a.O., S. 287.

(34) Vgl. Fo, Dario: Compagni senza censura. In: Teatro politico di Dario Fo, Milano 1973, Bd.2, S. 7.

(35) Fo, Dario: Interview m it Hannes Heer, in: Dario Fo über Dario Fo, hg. v. H. Heer, Köln 1979, S. 126.

(36) A.a.O., S. 75f.

(37) Fo zit. in: Klüver, Fo, S. 64.

(38) Volckmann, Silvia: Brechts Theater zwischen Abbild und Utopie, in: Handbuch des deutschen Dramas, hg. v. Walter Hinck, Düsseldorf 1980, S. 440-452, S. 444.

(39) Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke in 20 Bänden, Band 17: Schriften zum Theater 3, Frankfurt am Main 1967, S. 1147.

(40) Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke in 20 Bänden, Band 12. Prosa 2, S. 458.

(41) Fo, zit. in: Ortolani, Fo, S. 33.


5.7. Theater und Fest - Ursprünge und Innovationen in Ost und West

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Maria E. Brunner (Schwäbisch-Gmünd, Schondorf a. A.): Innovationen auf dem Theater. Theater und Politik bei Dario Fo und Bert Brecht. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/05_7/brunner16.htm

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