Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. August 2006
 

5.7. Theater und Fest - Ursprünge und Innovationen in Ost und West
Herausgeber | Editor | Éditeur: Han-Soon Yim (Seoul National University)

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Die Geburt und Bedeutung des Nationaltheaters: Ungarn, ein Kolonialfall

Éva Tőkei (Eötvös Loránd Universität Budapest)
[BIO]

   

Der Verfasserin dieses Entwurfs ist es völlig klar, daß die heutige kulturelle und politische Relevanz des Nationaltheaterkonzepts außerhalb der mittel-osteuropäischen Region einer Erklärung und seine Behandlung in einer Sektion zum Thema ‚Theater und Fest‘ einer Rechtfertigung bedarf. Wegen der kulturellen, sprachlichen und politischen Heterogenität dieser Region wird hier stets mit Absicht nur auf den Fall Ungarn berufen, auch wenn gewisse Parallelen nicht zu übersehen sind und auch wenn durch dieses Beispiel zugleich die über die Kultur- und Staatsgrenzen weit hinausreichende Bedeutung und das Potential des Fortlebens der nationalen (potentiell, aber nicht notwendigerweise nationalistischen) Ideologie postuliert werden möchte. Fest wird im Sinne von politischer Kundgebung oder politischem Symbolakt verstanden, wobei dem Nationaltheater als Symbolträger der nationalen Identität eine zentrale Rolle zuteil wird.

Die Forderung eines Theaters in der Muttersprache ist im 19. Jahrhundert in Ungarn engstens mit den nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen verbunden und im Kontext des österreichischen Kolonialismus zu deuten. Die Tatsache, daß der erste (übrigens auf deutsch (!) von einem deutschsprachigen Offizier 1779 in Preßburg veröffentlichte), völlig im Sinne der Aufklärung und der republikanischen Ideen von Lessing und Schiller konzipierte ‚Entwurf zu einem ungarischen Nationaltheater‘, diese ‚Rede an das Vaterland‘(1), ohne Widerhall blieb, wegen einer mangelnden kulturtragenden Schicht, wie eigentlich Lessings Hamburgisches Nationaltheater nach zwei Jahren aus ähnlichen Gründen scheitern mußte, war genauso symptomatisch für die ‚ungarische Misere‘, wie diese für die deutsche. Die nach den Reformlandtagen Reformzeit genannte Periode (1825-1848) brachte durch die Initiative einiger Adeliger die bis heute als goldenes Zeitalter der ungarischen Literatur angesehene (und ausgebeutete) Zeit des politischen und kulturellen Aufschwungs, die Zeit der Gründung von Zeitungen, Zeitschriften, der Akademie und anderer Institutionen, die Zeit der Entfaltung eines literarischen Lebens im modernen Sinne und die Eröffnung des ersten festen Nationatheatergebäudes. Politisches Vorbild war die Französische Revolution, kulturelles Vorbild waren alle Klassiker und Romantiker, die aus einer engagierten Vormärzhaltung heraus durch Übersetzung dem Volk zugänglich gemacht werden und zur Kultivierung der Nationalsprache beitragen sollten. Der nächste Schritt der kulturellen Emanzipation war die Entwicklung einer eigenen Nationalliteratur. In diesem Kontext ist der Festcharakter der Aufführung des ersten Nationaldramas zu verstehen, die im neueröffneten Nationaltheater nach der - bis damals noch - siegreichen, blutlosen Märzrevolution am 15. März 1848 in Budapest von Improvisationen seitens des vor Begeisterung tobenden Publikums begleitet worden ist.

Die Niederlage der Revolution im Jahr 1849 brachte die Stabilisierung der kolonialen Unterwerfung mit sich, die ein idealer Nährboden für die Mythisierung der ursprünglich progressiven aktualpolitischen Inhalte war. In einer kolonialen Situation ist der kulturelle Nationalismus durchaus demokratisch, weil es darum geht, die vorher als minderwertig geltende ländliche Bevölkerung, die Leibeigenen im Sinne der Bürgerrechte, als ebenbürtig zu betrachten. Das kann aber nur gelingen, wenn ihre Sprache und Kultur auch der der Kolonialisten nicht nachsteht. Die kulturellen Leistungen, die das beweisen können, kommen aber bevorzugt aus den Reihen des Bürgertums oder sogar des Adels. Das erklärt, wieso diese ursprünglich mobilisierende demokratische Idee zur Zeit der zwanghaften politischen Passivität, in der Form einer verharrenden nationalen Leidensgeschichte, eine Ersatzfunktion erhält.

Nach langen Jahren der blutigen Vergeltung kam es dann 1867 zum politischen ‚Ausgleich‘ und Ungarn als Land der größten Minderheit im Kaiserreich wurde staatskonstituierender Faktor, was endlich einerseits eine seit der Reformzeit erwünschte wirtschaftliche Entwicklung, andererseits aber das Fallenlassen der republikanischen Idee, die Konsolidierung der Macht des Adelstandes und durch die Magyarisierungs-Politik die Unterdrückung der anderen Minderheiten ermöglichte. Nach dem blutigen Ende dieser K-und-K-Idylle im ersten Weltkrieg und durch die riesigen Gebietsabtretungen Ungarns (fast ¾ seines Reichsgebiets) durch den Vertrag vor Trianon 1920 erhielt das Wort ‚Nation’ eine fast sakrale Bedeutung, die infolge der wiederholten Unterdrückung der späteren - sonst noch so unterschiedlichen - nationalen Bestrebungen bis heute erhalten geblieben ist. So verharrt die Betrachtung von Nationalsprache, Nationalliteratur und Nationaltheater auch dann in der Romantik, wenn die ehemalige Kolonialmacht schon gar nicht mehr existiert und längst durch andere Machtsysteme ersetzt worden ist.

Das Konzept selbst, die repräsentativste Bühne eines Landes nach dem Vorbild der Comédie Française zu schaffen, die staatlich subventioniert ist und auch als moralische Anstalt wirken sollte, folgt dem Konzept von Gottsched, Lessing und Schiller, das in der deutschen Kultur etwa ein Jahrhundert früher entstand. Die Bühne wurde im 18. Jahrhundert eine moralische Anstalt, als Forum bürgerlicher Öffentlichkeit und später im Laufe des 19. Jahrhunderts ein Spiegel der bürgerlichen Identitätskrise. Nicht nur die Sittenschulenfunktion, sondern auch die republikanische Idee der Gleichheit avancierte zu einem gängigen Topos.

Die Intellektuellen begriffen das Theater als ein Instrument der Aufklärung. Da die Wandertruppen vorwiegend auf Kassenerfolg und Unterhaltung abzielten, wurde von den bürgerlichen Intellektuellen eine umfassende Theaterreform anvisiert, indem in Opposition zur Erfolgsorientiertheit der Wandertruppen eine durchgreifende Literarisierung des Theaters stattfand, wobei der Autor verantwortlich für den zu übermittelnden Inhalt und für die Geschmacksveränderung des Publikums ist. Dazu dient auch die Kritik der Journalisten. Die Unabhängigkeit von der Kasse konnte durch Gründung stehender, von der Öffentlichkeit (Staat) subventionierter Theater erreicht werden, die eine spezifische bürgerliche Funktion hatten.

Auf deutschem Sprachgebiet verlief der Prozess bis ins 19. Jahrhundert ähnlich, Theater wurde sogar ein Kampfbegriff des Bürgertums gegen die höfische Gesellschaft, beim breiten bürgerlichen Publikum setzte sich die Konsumption der nationalsprachigen Bühnenliteratur durch. So trug die Institution des Nationaltheaters zur Entwicklung einer deutschen dramatischen Literatur bei, der französischen gleichwertig, in Opposition zur höfischen Lebensform. Nach dem Scheitern des Lessingschen (von Bürgern finanzierten) Hamburger Theaters nahmen die Fürsten die Idee eines Nationaltheaters an (1776 Wien Hof- und Nationaltheater, 1777 Mannheim, 1786 Berlin, 1789 München etc.), wobei das aufklärerische Argument ‚Theater als Sittenschule‘ eine Rechtfertigung für die Einrichtung der Theaterzensur bildete und die Leitung des Theaters meistens einem Intendanten, einem Sachverhalter der Interessen des Staates und/oder des Fürsten übertragen wurde.

All diese Komponenten sind im bis heute in Ungarn gängigen Nationaltheaterkonzept vorhanden und werden von dem jeweiligen politischen Establishment im Laufe ihrer Legitimationsmanöver ausgenutzt. 1937 wurde das 100. Jubiläum des Nationaltheaters vom Staat völkischer und antisemitischer Prägung pompös gefeiert und das Konzept des ‚ewigen‘ Nationaltheaters formuliert.(2) Nach dem Frust von Versailles (für Ungarn Trianon) wurde eine neue Unterwerfung für ein Drittel der Bevölkerung bittere Realität, für ein Volk, das für die frühere Magyarisierungspolitik der Regierung einer nicht mehr existierenden Monarchie mit Berufung auf ihre Nationalität Vergeltungen erleiden musste, was notwendigerweise zu einer oft heroischen Aufrechterhaltung der Ideologie der nationalen Selbstbefreiung führte. Auf der anderen Seite konnte diese - die Ideen von 1848 pflegende - plebejische Kulturhaltung, von dem, die äußeren Symbole, aber nicht den Geist von 1848 vereinnahmenden politischen Establishment in Ungarn missbraucht werden. Das offizielle ‚ewige‘, Nationaltheaterkonzept hatte nicht nur einen revanchistischen, sondern auch einen rassistischen Beigeschmack.

Nach 1945 hat sich die Idee der nationalen Selbstverwirklichung weiterhin als zu erfüllende Aufgabe gefestigt, für Mitgestalter wie Dissidenten gleichermaßen. Im Laufe des Aufstands von 1956 kam es im Nationaltheater bei der Aufführung des Nationaldramas erneut zu einem Volksfest in Form einer politischen Demonstration der Selbstbestimmung. Die Losungen von 1848 konnten damalige Reformkommunisten und Nationalisten, wenn auch nur für Momente, genauso vereinigen, wie 1848 Reformadel und Republikaner.

Die Wende von 1989 brachte die offizielle Abwendung vom Internationalismus, die Wiederbelebung der bürgerlichen Forderungen der nie zu Ende geführten ungarischen bürgerlichen Revolution natürlicherweise mit sich, ebenso die sofort eingetretene politische Rivalisierung um das Erbe von 1848, dessen Losungen nach wie vor zweifelsohne als positiv gelten. Das Wort ‚national‘ wird heutzutage im allgemeinen laut der Tradition von 1848 nicht als ‚nationalistisch‘ verstanden, ‚Nation‘ wird im Sinne von ‚Volk‘, ‚populus‘ benutzt. Diese Auffassung kann die breitesten Schichten vereinigen, was keine politische Kraft außer Acht lassen kann. Genauso wenig kann die politische Realität der weiterhin in anderen (ihr eigenes Nationalselbstverwirklichungsprogramm durchziehenden) Nationalstaaten als oft diskriminierte Minderheit lebenden Ungarn vergessen werden, wenn man die kulturelle Funktion der Nationalsymbole untersucht. Die welthistorische Relevanz der Problematik ist größer als das Beispiel des kleinen Landes, an dem eine Darstellung versucht wurde. Diese historische Tatsache schafft in der Mitte Europas eine Situation, aus der sich ein mehr für die ehemaligen Kolonien als für die ehemaligen europäischen Kolonialmächte charakteristisches Nationskonzept nährt. Eine nationale Leidens- und zugleich Heilsgeschichte, die, gerade weil sie in einem vereinten Europa anachronistisch klingt, dringend aus einer allseits selbstkritischen Perspektive der postnationalistischen (auch binneneuropäischen) Dekolonialisierung angesprochen und im welthistorischen Kontext und im Rahmen eines interkulturellen Dialogs behandelt werden soll. Losungen von gestern sind ja keine Lösungen für heute.

Ohne Verständnis für diese tiefen Wurzeln des nationalen Diskurses auch im heutigen Alltagsleben (die von der nicht zu unterschätzenden europäischen Nationalismusproblematik untrennbar ist) ist der sonst in der europäischen Theatertradition vergessene und auch in der ungarischen Theaterkunst nicht ausschließlich vorhandene Ritual-, Zeremonial- (alsoFest- )charakter der Nationaltheateraufführungen nicht wahrzunehmen und als kulturwissenschaftlich interpretierbares Phänomen zu erfassen.(3)

© Éva Tőkei (Eötvös Loránd Universität Budapest)


ANMERKUNGEN

(1) Entwurf zu einem ungarischen Nationaltheater. Budapest: Magyar Színházi Intézet 1987.

(2) Pukánszkyné Kádár, Jolán: A nemzeti színház 100 évest története /Die hundertjährige Geschichte des Nationaltheaters./ Budapest: Magyar Történelmi Társulat 1940, S. 520 ff.

(3) Sogar die Geschichte der verschiedenen Theatergebäude, die seit dem Verfall des ursprünglichen Nationaltheaters provisorisch bespielt waren (Vgl. die treffende Zusammenfassung in Laurence Senelick, Ed. National Theatre in Northern and Eastern Europe, 1746-1900, Cambridge University Press 1991, S. 300) und die der späteren, bis 2002 abwechselnden Baupläne sowie das ständige Wettrennen um die Führung dieser Institutionen spiegeln einzelne Aufzüge dieses "Lebenstheaters" wider.


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Éva Tőkei (Eötvös Loránd Universität Budapest): Die Geburt und Bedeutung des Nationaltheaters: Ungarn, ein Kolonialfall. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/05_7/toekei16.htm

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