Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 16. Nr. | März 2006 | |
6.2. Die Entdeckung der Welt in Literatur und Wirklichkeit / The Discovery of the World: Fiction and Reality |
Holly Liu (Mount Holyoke College, USA)
[BIO]
Von dem Romantitel mag der Leser erwarten, dass der Roman von wirklichkeitsnahen Erlebnissen und Abenteuern an einem fremden Ort handelt. Tatsächlich wird der "Augenmensch" (Burmeister, Anders 214) David Anders, der nur "Blickkontakte" (ebd. 15) mit dem Leben hat, auf ein Jahr von der provinziellen Außendienststelle in die "Zentrale" (ebd. 6) in der Großstadt (Ost-Berlin) versetzt. Allerdings erweist sich seine Entdeckung der fremden Welt, die sich vor allem in seiner Fantasie abspielt, als reine "Bilderjagd" (ebd. 248), wobei er seine Vorstellungswelten als Realität zu erkennen gibt. Zum Abenteuer wird dem Leser hier nicht nur Anders’ visueller Spaziergang am Fenster, sondern auch die Sprache der Autorin selbst.(1) Demzufolge bietet das erzählerische Anderssein des Anders-Romans, das die experimentierfreudige Schriftstellerin Brigitte Burmeister in Anlehnung an den französischen Nouveau Roman erzielt hat, ein textuelles, sprachliches und strukturelles Labyrinth dar. Meine Arbeit geht auf das "Labyrinth" ein - ein beliebter Begriff der Moderne - der als "Strukturmitteilung" (Burmeister, Streit 10) den Roman als Anders’ "Phantasiegebäude" (ebd. 27) mit entwirft, zugleich destruiert und somit zur Nichtübereinstimmung von Realität und Erzählung beiträgt. Der Widerspruch zwischen der perspektivischen Sichtweise, der Wahrnehmung des fiktiven Betrachters und der sich ständig verändernden Wirklichkeit ergibt sich darum aus der Subversion des Erzählens, die in der Romanstruktur angelegt und durch den Romantitel signalisiert ist. Dadurch werden die Fantasiewelten als literarische Alternative zur Realität, als "ästhetisches Formspiel" (Gebrauer 95) hervorgehoben.
Die 1973 über die französische Aufklärung promovierte Romanistin Brigitte Burmeister wurde erst 1987, vier Jahre nach der Aufgabe ihres festen Postens an der Akademie der Wissenschaften der DDR (1962-1982), durch ihren zunächst in Ost-Berlin erschienenen Debüt-Roman Anders oder Vom Aufenthalt in der Fremde bekannt: Ihre dem französischen Nouveau Roman entstammende ungewöhnliche Schreibweise rief in Westdeutschland Faszination(2) hervor. Da sich die Handlung des Anders-Romans trotz seiner Detailliertheit von dem Dargestellten und Beobachteten mit wenigen Worten zusammenfassen lässt,(3) ist man über die ungewöhnliche Aufmerksamkeit erstaunt, die Burmeisters Erstlingswerk galt. Die 19 Rezensionen, elf aus dem Westen und acht aus dem Osten,(4) die mir zur Verfügung stehen, zeigen deutlich, wie lebhaft und vielfältig die Interpretationsansätze ausfallen und dass sich die Lektüre des Anders-Romans keineswegs als leicht erweist. Man versucht nämlich, entweder auf "Gestaltungsmöglichkeiten [...] anderer Epochen" (Brandt 694), d. h. auf kanonische literarische Autoren wie Kafka (Heller, Schachtsiek-Freitag, Cramer und Staudacher), Borges (S. Cramer), Musil (C. Staudacher), E.T.A Hoffmann (S. Brandt) außer den französischen Nouveaux Romanciers wie Nathalie Sarraute, Claude Simon, Alain Robbe-Grillet und Michel Butor Bezug zu nehmen, oder sich des "ästhetischen Eigenwert[s]" (Schlenstedt 638) des Romans zu vergewissern. Um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen, zitiere ich hier nur aus Dieter Schlenstedts wissenschaftlicher Arbeit "Brigitte Burmeister: Anders oder Vom Aufenthalt in der Fremde" in Weimarer Beiträge (35.4. 1989), die sich von allen anderen mir zur Verfügung stehenden Anders-Rezensionen abhebt. Seine Arbeit erörtert gründlich die Gestaltungseigenart des Romans durch die mehrdimensionale Sprachebene und die "Strukturierungsart" (Schlenstedt 638) des Romans. Die dadurch entstandenen "textuellen Möglichkeiten" und die "Bedeutungsvervielfachung" (637) erkennt Dieter Schlenstedt als Mehrdimensionalität des Textes an. Weiterhin stellt er ausführlich dar, auf welche artistische Weise die Autorin die innere Verflechtung von "[der] Suche in mehrdimensionalen Räumen [...] und [dem] Finden von eindimensional gemachten Räumen" (640) ermöglicht, so dass "verschiedene Leser verschiedene Romane lesen" oder dass "man mehrere Romane gleichzeitig liest" (ebd.). Diese Feststellung trifft insbesondere auf die Anders-Rezeption zu.
Der "anhaltende[ ...] Analyse- und Deutungszwang" (Burmeister, Streit 10) in den Rezensionen und literaturkritischen Beiträgen geht mit der Fragwürdigkeit "ihrer festen Interpretationen und Sinnzuweisungen" einher (Richter 2). Diese Situation kann man auf den Anfang des Anders-Romans zurückführen, wo zu lesen ist: "Alles, was ich schreibe, ist für euch bestimmt. [...] Nehmt heraus, was euch interessiert. Mit meiner Schrift werdet ihr wohl keine Schwierigkeiten haben" (Burmeister, Anders 5). Der letzte Satz "Mit meiner Schrift werdet ihr wohl keine Schwierigkeiten haben" kündigt auf ironische Weise eine Vorahnung der sich im Ich-Erzähler verkleidenden Autorin von der Rezeption ihres "kleinen Roman[s]" (ebd.) an. Der Kernsatz "Nehmt heraus, was euch interessiert" spricht demnach den Leser direkt an, der in die Anrede "Ihr Lieben daheim" mit einbezogen ist. An dem aufmerksamen und geduldigen Leser liegt es daher, die Leerstellen auszufüllen, was "jederzeit ein Kommunikation fordernder Akt" (Richter 4) bleibt.
Der Roman wird durch Anders’ subversiven Blick, "den kalten, undurchdringlichen Blick einer Raubkatze" (Burmeister, Anders 9) bestimmt. In Kapitel 6 proklamiert der Ich-Erzähler als Eröffnung einer anderen erzähltechnischen Komposition seine besondere Veranlagung mit einem Goethe-Zitat aus Faust II, die auf die Beobachtungsgabe von Burmeisters Avantgardisten anspielt:(5) "Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt. Von diesem Dichterwort fühle ich mich betroffen" (ebd. 8). Anders’ Assoziationen, die sogar infolge eines flüchtigen Blicks oder auf ein Stichwort hin sofort geweckt werden können, sind Burmeisters Art des Erzählens, wonach der Erzählwille mit der "Verweigerung der sinnstiftenden ‘Fabel’" (Stoll 16) in Konflikt kommt, und der Roman wird zum "Ort der Dekonstruktion" (ebd. 21). Die durch Subjekt-Perspektive konstruierte Realitätsauffassung des schreibenden Anders ermöglicht die Wette auf Alternativen, auf den möglichen Sinn. "Wie sollten vielfältige Begegnungen mit der Wirklichkeit nicht dazu führen, daß sie ihr Aussehen verändert?" (Burmeister, Anders 16-17). So rechtfertigt Anders seinen verinnerlichten Perspektivenwechsel sowie seine Wahrnehmungen. Daraus ergibt sich, dass die Mehrdimensionalität, entstanden aus Blick- und Wahrnehmungswechsel, Mehrdeutigkeit und Sinnoffenheit zur Folge hat, um dann sprachliche Ambiguität und strukturelle Destruktion zu erlangen.
Zu betonen sind die folgenden Schlüsselsätze, die eine destruktive Wirkung sowohl auf die Romanstruktur als auch auf den Leser haben: "Auf den richtigen Blickwinkel kommt es an" (Burmeister, Anders 9) und "Anders jedoch, wenn ich den Standort wechsle" (ebd. 10). Bei dieser Gelegenheit spricht David Anders von seinen zahlreichen "ausdauernden visuellen Spaziergängen" (ebd. 8) am Fenster, die seinen Blick und seine Fantasie in Anspruch nehmen bzw. die perspektivische Sichtweise und Wahrnehmung des Betrachters voraussetzen. Aus dem Perspektivischen ergibt sich das Destruktive, denn alles, was man sieht oder empfindet (sowohl als Erzähler als auch als Leser), ändert sich, sobald die Perspektive, im Fall Anders’ der Blick, wechselt. Ein solches Beispiel findet man mühelos im Roman:
Ich sitze am Fenster und sehe einen hellbraunen Hügel vorüberziehen. Unterhalb der Kuppe ist er abgeschnitten, verdeckt durch ein weißes Rechteck. Und wie bei diesen Malbüchern, in denen man das leere Papier mit einem Bleistift gleichmäßig stark schraffieren muß, um den Ball, die Tanne, das Kaninchen hervorzulocken, taucht vor meinen Blicken, die den weißen Vorhang streifen, ein Kamel auf. Es geht über geriffelten Sand. Sein hochgewölbter Rücken verdeckt Bogen um Bogen den Gebirgszug am Horizont. Die Hufe gehen langsam durch eine von Raubtier, Schlange, Skorpion, Wurm und Vogel verlassene Wüste. Das Tier muß gut bei Kräften sein. Der Höcker steht prall. (Ebd. 10, meine Hervorhebung)
Warum taucht auf einmal so eine Wüstenlandschaft mit Kamel inmitten der Stadt auf? Man versteht es nicht, wenn man die obigen Sätze nur aus einer Perspektive (sitzend) liest. Der nächste Satz - ein deutlicher Perspektivenwechsel durch das Verb "steigen" - leitet dann dieselbe, der Fantasie entspringende assoziative Naturszene in eine andere um, eine städtische:
Anders jedoch , wenn ich den Standort wechsle. In dem Zimmer zu ebener Erde, das ich hier fürs erste bewohne, sind vor dem durch ein Gitter geschützten Fenster Vorhänge aus Wachstuch angebracht. Um hinauszusehen, muß ich auf einen Stuhl steigen, denn nur das obere Drittel der Scheiben ist frei. Nun erkenne ich eine stark befahrene Straße. Am häufigsten sind die hellfarbigen kleinen Autos. Einige von ihnen ziehen flache Anhänger hinter sich. Diese Art Lasten zu transportieren ist gebräuchlicher, als sie auf dem Dach zu türmen und mit einer Zeltplane zu bedecken, so dass ein weithin sichtbarer bräunlicher Hügel entsteht. Die Straße endet in einem runden Platz, der von Kastanienbäumen und steilen geschwärzten Häusern umstanden ist. (Ebd. 10, meine Hervorhebung)
Die halbe Wirklichkeit, die Anders zuvor durch das zum Teil verdeckte Fenster wahrnimmt, wird zunächst ohne weiteres durch seine Fantasie ergänzt. Ein aufgetürmtes Dach eines Transportwagens ist deshalb in der obigen Beschreibung unauffällig zu einem kräftigen Kamel in der Wüste umgewandelt worden. Das erleichterte "Ach so" des Lesers folgt auf den Perspektivenwechsel des Betrachters, wodurch Anders’ assoziativer Vorgang sofort aufgelöst wird. Es wird dem Leser dann klar: Der Blickwinkel entscheidet. Darin liegt die Subversion des Erzählens.
Burmeisters Romanstruktur als "Ort der Dekonstruktion" lässt sich nicht auf die fantastische, meistens übergangslose Grenzauflösung der Erzählperspektive beschränken. Sich selbst als "ein objektives Auge" vorzustellen und diese Rolle bei der Erzählung demgemäß zu spielen, ist ein wesentliches Charakteristikum des Nouveau Roman. Deshalb verwundert es nicht, dass Anders immer mehr seinen Wahrnehmungen, oder um es mit seinen eigenen Worten auszudrücken, "irgendwelchen Hirngespinsten" nachgibt (Burmeister, Anders 49). Dadurch, dass das objektive Auge diese Fantasiewelten heraufbeschwört, entsteht allmählich ein textuelles, sprachliches und strukturelles Labyrinth aus Anders’ wöchentlichen Aufzeichnungen.
Die "Dekonstruktion" im Sinne von Derrida liegt zugleich im Ex perimentieren des Anders-Romans mit dem beliebten Begriff der Moderne "Labyrinth". Das kennzeichnende Wort "Labyrinth" kommt häufig im Roman vor. Bereits am Anfang seines Schreibens verweist Anders z. B. recht deutlich auf den "Gesamtplan" (ebd. 24) eines "wirre[n] Muster[s]" (ebd. 39), dessen Entstehen er einem "Farbdruck" an der Wand (ebd. 22) verdankt und der sich unter seinem Blick verwandelt und neue Fantasiebilder anbietet:(6)
[...] oder einen Hof und hinter der Mauer wieder einen, in dem das nächste graue Haus steht und so fort, eine Kette ähnlicher Räume, für Fremde ein Labyrinth, für die Verfolger ein Netz, so greifen sie zum Vergleich mit der Spinne und bekunden den Ehrgeiz, die Fäden aufzurollen bis zur Mitte, und ein großer Fang wäre ihnen gelungen, hätten sie den Ort ermittelt, im rechten Augenblick das Gebäude umstellt, dann zugeschlagen oder, wie es auch heißt, das Netz zugezogen [... ]. (Ebd. 24-25)
Hier verrät das Wort "Labyrinth" das Vorhaben der Autorin, den Roman nach dem Muster eines Labyrinths zu schreiben, um seinen Provokationseffekt zu verstärken. Aus dieser Absicht ergibt sich ein unkonventioneller Entwurf von mehrdimensionaler Romanstruktur mit einer "vielgestaltigen Kunstfigur" (Schader). Der Antiheld David, der "Autor" sowie die ins Surreale transponierten Figuren D. und seine Frau - das gespaltene Ich von Anders - sind die Anknüpfungspunkte in diesem Buchlabyrinth, durch die die Autorin zugleich stets Signale gibt, damit der Leser sich im Labyrinth nicht völlig verliert.
Andererseits bezeichnet das Wort "Labyrinth" Anders’ psychische Situation, wie etwa dass er unfähig ist, seine optischen Eindrücke realitätsgemäß einzuordnen und sich zu orientieren: "[...] ich fühle mich [...] ein wenig fremd hier. [...], und mit dem Leben habe ich nur Blickkontakte. Es verflacht zu einem Bilderbogen, aus dem wenige Teile klar umrissen hervortreten, die meisten in einer flimmernden Bewegung vergehen [...]" (Burmeister, Anders 15). Da ihm das Leben zum Bilderbogen geworden ist, in dem er nur eine Bilderwelt vor sich sieht, wird es ihm auch zum Labyrinth, gleich einem Fantasiegebäude voller Rätsel, in dem "[...] nichts für gesichert und alles für möglich" gilt (Burmeister, Anders 36). Seine merkwürdige Begegnung mit D., wobei er sich plötzlich von dem Fremden emporgehoben fühlt und sich dem festen Boden entzogen sieht, stellt sich als Symbol seines Fremd- und Anderswerdens heraus. Im Umgang mit D. und seiner Frau verliert Anders tatsächlich immer mehr sein Raumgefühl und befindet sich um so mehr im Orientierungswirrwarr seiner eigenen Wahrnehmungen: "Dieses Raumgefühl habe ich verloren. Jetzt spielt sich mein Leben auf einer einzigen Fläche ab, und dadurch wird alles viel unübersichtlicher" (ebd. 51).
Indem Anders die Autoschlange beobachtet, Papierservietten zählt, sich im Schaufenster betrachtet und schließlich sich dem Streit um die Farbe des Anzugs des Präsidenten anschließt, entrollt sich die Handlung, die aus diesen kleinen Szenen besteht, langsam vor unseren Augen. Da diese Szenen sich vor allem aus Anders’ Beobachtungen und Fantasien zusammensetzen und dem Leser wie ein textuelles Labyrinth vorkommen, wird in Kapitel 24 eine "aufklärerische" Szene gestaltet: Anders findet zwar viele Schlüssel, aber keiner davon passt ins Schloss (so wie sich keine Tür in einem Irrgarten von selbst öffnet). Die Schlüssel nennt Anders deshalb jeweils "Dromedar" (ebd. 85), "Autoschlange" (ebd.), "Schaufenster" (ebd. 86), "Präsident" (ebd.) und "Regentag" (ebd. 87), als ob sie die Wegweiser für die Szenen wären, die sich bisher abgespielt haben. Dadurch, dass Anders die Schlüssel mit unterschiedlichen Namen benennt, die seine zuvor weitläufig erzählten Beobachtungsszenen resümierend identifizieren, signalisiert die raffinierte Autorin ihrem sich mit Mühe orientierenden Leser, dass diese Schlüssel mit Namen auch die Schlüssel sein könnten, die als Erinnerungsstütze aus den Räumen eines Labyrinths hinausführen könnten. Auf diese immer wiederkehrende Weise verdeutlicht Burmeister nicht nur das labyrinthische Spiel ihrer Schreibweise, sondern wendet auch bewusst die Methode des Nouveau Roman an, die eine kommunikative Anteilnahme des Lesers an den "[p]hantastischen Reisen"(ebd. 87) fordert.
Aus diesem Wirrwarr "einen Ausweg zu suchen und irgendwo hinter den hellen Wassermauern zu verschwinden" (ebd. 88) ist keine leichte Aufgabe. Deshalb erläutert die Frau von D., als sie sich mit Anders über das Andersschreiben auseinandersetzt, eigens dem Leser nochmals, wie man mit der destruktiven Romanstruktur zurechtkommen sollte, deren textuelle Räumlichkeit mit einem Labyrinth verglichen werden kann:
Sie ging vor mir hin und her, wie ein Pendel. [...] Am linken äußeren Punkt angekommen, wo sie den sitzenden D. fast vollständig verdeckte, sagte sie: Ich aber mag jemanden, der sich nicht weigern würde, ein Labyrinth zu betreten oder an einem fremden Ort etwas zu suchen, das er noch nicht kennt, wie, zum Beispiel, das Ende eines sehr langen Satzes, jemanden, der Geduld hat und den Mut nicht verliert, selbst wenn es so aussieht, als würde er nicht mehr dorthin gelangen, wo es ihn hinzog [...]. (Ebd. 39)
Ohne Mühe erkennt man an dem Zitat, dass es eben wiederum die Schriftstellerin Burmeister ist, die ihren Leser auffordert, geduldig und mutig auf ihr experimentierendes Werk einzugehen. Dabei spürt man durchaus auch Burmeisters Ironie, ihren eigenen Roman als "[e]in zum Scheitern verurteiltes Experiment" zu bezeichnen (Burmeister, Anders 96). In der Tat kommt das Anliegen, ob ihr ein solches Experiment gelingt, im Roman immer öfter zur Sprache. In der "niedrigen Landschaft des Steingartens", der aus der "Miniatur eines echten Labyrinths" besteht (ebd. 95), findet z. B. D.s imaginative Begegnung mit dem "Autor" statt, wobei das Erzählen selbst zum Thema gemacht wird. Der "Autor", der die traditionelle Schreibweise personifiziert und einen Teil von Anders’ Ich ausmacht,(7) widerspricht "dem Gedanken, ein Buch zu schreiben, das selber die Form eines Labyrinths besäße" denn "ihm sei dieses Unterfangen schon bald als ebenso geduldraubende wie sinnlose Spielerei erschienen" (ebd. 96). Ihm auf gleiche ironische Weise zustimmend, begründet D. weiterhin die Schwierigkeiten des Autors, ein Buch in der Form eines Labyrinths zu schreiben: "Denn gerade wenn die schwierige Konstruktion glücke, dürfe sich doch niemand außer ihrem Erfinder darin zurechtfinden. Groß und verständlich sei die Abneigung, ein solches Buch zu verbreiten, auch stünde ihr ein einleuchtendes Argument zur Verfügung, indem der Autor ja den Ausweg nicht zeigen könne" (ebd. 96). D.s Argument bietet eine weitere Interpretationsmöglichkeit für den alternativen Romanschluss und den Grund, warum dort die "Wegkreuzung" nach links oder nach rechts das Ende des Romans spaltet. Die Unbestimmtheit des Romanschlusses liegt offensichtlich in der destruktiven Romanstruktur selbst, die sich als Labyrinth erweist. Da der Autor, laut D. den Ausweg nicht zeigen kann, muss sich dann der Leser selbst zurechtfinden. Demgemäß wäre ein offenes Ende logisch. Die Sinnoffenheit entspricht auch Anders’ voriger Prophezeiung: "Die leeren Stellen, auf denen ich meine Aufzeichnungen unterbringen soll, sind gegen Ende der Geschichte immer häufiger und ausgedehnter" (ebd. 45). Damit signalisiert die belesene Autorin, die bewusst immer wieder Wolfgang Isers Rezeptionstheorie aufgreift und den implizierten Leser direkt anspricht, dem Leser nochmals, dass sowohl die Struktur des Romans selbst als auch die Lektüre des Romans "ein labyrinthisches Unternehmen" (Ulrich) sind und er selbst den Ausweg durch den textuellen Zickzack finden muss: Die Leerstelle muss der Leser "mit privaten Erinnerungen ausfüllen" (Burmeister, Anders 215) und beseitigen.
Die Figur des "Autors", dessen sozialrealistisches Schaffen kompositorisch als Gegenstück zu Anders’ perspektivischem Erzählen angesehen werden darf, dient als wichtige Komponente Burmeisters für den komischen Effekt ihrer Selbstdarstellung. Gemeinsam mit den ins Surreale transponierten Figuren wie D. und dessen Frau trägt die fiktionale Figur des "Autors" zum Entwurf des Labyrinths bei, das sich durch eine derartige Figurenkonstellation als "[e]in auffälliges Versteckspiel auf allen Ebenen" entpuppt (ebd. 210). D. und seine Frau darf man für die Wunschfiguren des Anderswerdens halten, für das männliche und weibliche Ich der "vielgestaltige[n] Kunstfigur" (Schader) von Anders, für das "Ich ohne Gewähr."(8) "[D]ie personale Vervielfältigung" (Weiss) bringt das Anderssein zum Ausdruck, wonach Anders sich innerlich sehnt, das er aber bisher verdrängt hat. Unter ihrem Einfluss sieht er die Welt nun anders. Früher glaubte er: "So will es die Geschichte. Jeder an seinen Platz" (Burmeister, Anders 25)! Jetzt verwandeln sich die Bilder unter seinen Blicken in Wirklichkeit. Ihm scheint, als ob sich alles von seinem ursprünglichen Platz in Raum und Zeit verrückt hätte:
Habe ich nicht erlebt, wie unter D.s Einfluß der kleine Farbdruck an der Wand durchsichtig wurde, Guckloch in ein anderes Zimmer, in dem gerade stattfand, was der Maler einst auf seinem Bild festgehalten hatte, und herrscht nicht in meinen Aufzeichnungen seit dem letzten Sonntag eine gewisse Unordnung. Ausgerechnet mir muß dieser Mensch über den Weg laufen! Ich werde den Verdacht nicht los, dass er mich eigens ausgewählt hat. Nicht aus langer Beobachtung - ich hätte es schon gemerkt, wäre mir einer wie ein Schatten gefolgt -, sondern aus einer plötzlichen Eingebung heraus. (Burmeister, Anders 27)
Nicht als Zufall ist zu werten, dass D. denselben Buchstaben D wie David Anders in seinem Vornamen trägt und dass Anders sein Protokoll nur mit den ersten Buchstaben seines vollen Namens (D. A.) unterzeichnet (ebd. 81). Dass D. und seine Frau das gespaltene Ich von Anders symbolisieren, weist auch eine andere Textstelle im Roman auf, die zugleich deutlich die "fast drehbuchartige geometrisch-physikalische Darstellung der Oberflächenwelt" (Wilpert 628) und das dauerhafte Spiel zwischen Licht und Schatten beim Nouveau Roman anklingen lässt:
Zwischen dem glatten blauen Rahmen und dem flirrenden Gekräusel ihrer wie vergoldeten, aus dem verbotenen Brunnen gezogenen Haare bildete die Bewegung des Flusses eine ausgewogene Mitte. Das Gesicht unter den schimmernden Wellen lag im Schatten, [...] Sie sah zu mir herüber. [...] D. fuhr mit dem Finger über ein Geranienblatt. Eine Fliege kreiste über dem sonnenbeschienenen Fleck des Fußbodens. Wollte man die Fluglinie in einem Schema abbilden und absehen von den Schnörkeln und Kurven, dem Kreisen und Pendeln um die Hauptrichtung, so wären die Bewegungen der Fliege als ein auf der Spitze stehendes Dreieck darstellbar, dessen Eckpunkte die Köpfe von ihr (rechts oben), D. (links oben) und mir (unten) bildeten. Zuerst flog sie von D. zu mir. Kurz darauf reihum, so dass die drei Seiten fast gleichmäßig stark gezeichnet werden müßten, dann mehrmals dieselbe Linie zwischen ihr und mir. Doch bald bewegte sich die Fliege nur noch zwischen dem linken und rechten Eckpunkt, auf der Grundlinie. Diese erhielt dadurch eine solche Verstärkung, dass die beiden Seiten verblaßten, das Dreieck allmählich seinen Zusammenhang verlor und der Punkt an der Spitze alleine und verlassen dastand. (Burmeister, Anders 40-41)
Die geometrischen Bewegungslinien der Fliege in diesem Zitat kann man als eine Vorwegnahme der Beziehungen zwischen D. seiner Frau und David Anders auf zwei Ebenen interpretieren. Auf der Ebene der Romanhandlung werden die Dreiecksbeziehung der Figuren, Anders Verliebtsein in D.s Frau, das plötzliche Verschwinden des Paares ohne Abschied und nicht zuletzt Anders’ verworrenes Gefühl, von seinen Freunden dadurch verraten und verlassen zu werden, angedeutet. Auf der anderen, "irrealen" Ebene der Reflexion nehmen D. und seine Frau als Komponenten von Anders’ Ich klare Konturen an. Das absichtlich umgekehrte Dreieck im Zitat, in dem Anders den Stützpunkt der Fläche und das Zentrum der zwei ausstrahlenden Geraden bildet, verleiht ihm wiederum einen beobachtenden Posten. Er sieht zu, wie sich das männliche und weibliche Ich manchmal von ihm, von seiner Kontrolle zu befreien strebt. Wenn es ihnen doch gelingt, sich "auf der Grundlinie" zu begegnen, d. h. unter sich anders zu sein, kann das Original-Ich seine Verbindung zu ihnen nicht mehr rekonstruieren, so dass "der Punkt an der Spitze alleine und verlassen" dasteht.
Brigitte Burmeister hat nicht nur nach dem labyrinthischen Muster des französischen Nouveau Roman einen Anti-Roman geschrieben, der " einem Tagebuch [gliche], würde nicht immer wieder der Berichtsstil von anderen Stimmen durchkreuzt, als bestünde das redende Ich aus mehreren Personen" (Burmeister, Anders 269). Sie hat dadurch zugleich einen "untypischen" Antihelden dargestellt, der zur Destruktion der Romanstruktur beiträgt. Den Antiheld-Posten von Anders bekräftigt die Autorin zum letzten Mal in der Konfrontation und dem Briefwechsel zwischen Anders und dem "Autor", wobei Anders den Wunsch ausdrückt, sich so zu verbessern, um die Romanfigur des Autors sein zu können. Brigitte Burmeister beweist damit aus einer anderen Perspektive, in welchem Gegensatz ihre Romanfigur Anders zu den in der DDR zuvor üblichen literarischen positiven Helden steht:
Auch der Autor entbot eine reiche Namenliste, als er mit Blick auf die Entstehungsgeschichte seines Helden Vorbilder und Anregungen erwähnte, so dass es einem wenig bewanderten Leser wie mir scheinen wollte, die gesamte neuere Literatur dieses Landes habe Pate gestanden bei seinem Versuch, einen - oder mehrere, so genau wollte er sich da nicht festlegen - der Männer, an deren Seite er früher gelernt, gearbeitet, gekämpft und manchen Sieg errungen hatte, zu einem Romanhelden zu verdichten, der würdig wäre, in den Kreis der Unvergeßlichen aufzurücken. [...] Wieder packte mich der Wunsch, der mir damals, als wir in dem schönen Garten saßen und der Autor von seiner Arbeit sprach, zum ersten Mal gekommen war: So zu werden, dass ich eines Tages diesem Mann als lebendige Vorlage dienen könnte und er aus mir einen seiner Helden machte. [...] Denn wie sollte ich, mit dem Leben, das ich führe, zur Romanfigur taugen! [...], ich mußte mir eingestehen, dass der andere besaß, was mir fehlte, fast so, als hätte der Autor jemanden wie mich zur negativen Vorlage genommen und mit dem positiven Kontrastbild Maßstäbe setzen wollen [...]. (Ebd. 216-18)
Indem Anders in Form des gespaltenen Ich (als D. und "Ich") den Autor mehrmals besucht und ihm danach einen Brief mit dem Manuskript von D.s Frau zuschickt, spürt er "das Verlangen nach einer ordnenden Hand, wie eine Person auf der Suche nach ihrem Autor" (ebd. 240). Da Anders alles andere ist, als er es sich wünscht -zumal verschieden von dem, was seine Mitmenschen erwarten - macht er sich selbst nicht nur zum Antihelden in seinem eigenen Schreiben, sondern er wird für Burmeisters Leser auch zu einem spielerischen und experimentierenden Charakter. Damit erweist sich Anders als untypisch, nicht als eine realexistierende Figur, und daher, meines Erachtens, als eine Romankonzeption, eine theoretische Auseinandersetzung der Schriftstellerin mit den seinerzeit in der DDR dominierenden Literaturbegriffen. Dazu äußert sich die Autorin selbst:
Das Spielerische dieses Unternehmens [...] war eine wesentliche Voraussetzung, mich dann auch auf die Schwierigkeiten der Arbeit einzulassen. [...] Meine Unterwerfung unter Normen gesellschaftlicher Verpflichtung von Literatur habe ich umgemünzt [...] durch Außenstehen. Daher bin ich der Literatur unseres Landes nie sehr nahe gekommen.(9) (Burmeister, "Spielraum" 34)
Darum führt die Auflösung der Hauptfigur im Prozess ihrer Darstellung zur Destruktion des Erzählens. Der Titel des Romans Anders oder Vom Aufenthalt in der Fremdekann deshalb nicht einfach wörtlich als krisenreiche Erfahrungen des Unhelden an einem fremden Ort gelesen werden, sondern kennzeichnet die Herausforderung Burmeisters an die Orthodoxie der DDR-Literatur und ihren Wunsch, eine andere neuartige Literatur zu schaffen. Außerdem weckt er den Sinn für Alternativen in der Darstellungsweise durch das zur Wahl einladende Wort "oder". Erst durch die Lektüre wird einem klar, dass die Nichtübereinstimmung von Realität und Erzählen in diesem Werk bereits in der Romankomposition angelegt ist. Die Beobachtungen Anders’, die ihn dann zum Erinnern und Schreiben anregen, gehen allerdings über seine optischen Eindrücke und Erinnerungen hinaus. Die dadurch entstandenen assoziativen Vorstellungen bieten sich als Wirklichkeit an. Der Widerspruch, entstanden dadurch, dass der Antiheld einem objektiven Auge und der Roman einem Labyrinth gleicht und dass die Erinnerungen zu fantastischen Bildern geworden sind, wird zum letzten Mal in den folgenden Sätzen zum Ausdruck gebracht:
Es ist sehr still. Als endete mein Aufenthalt in einer ausgestorbenen Welt. Doch es gibt auf den Bäumen Vögel, die dann und wann in Schwärmen hochfliegen, in der Luft eine Weile zusammenhängen, schwingende Wolke, gleitender Schatten, bald zerfallende Kontur, Bögen, Striche nach allen Seiten, große Vögel, flach über den Boden hin. Einer von ihnen setzt sich in meiner Nähe nieder. Er bewegt sich nicht. Lange betrachte ich in seinem Auge den glänzenden Punkt. (Burmeister, Anders 280)
Warum sind es ausgerechnet Vögel, die den einsamen Erzähler im letzten Moment seines Aufenthaltes in der Fremde begleiten? Ein Borges-Zitat, das Burmeister zu Beginn ihres Romans Pollok und die Attentäterin (1999) zitiert hat, gibt Aufschluss, wonach "die guten Leser noch geheimnisvollere und seltenere Vögel sind als die guten Autoren."(10) Die Autorin, die den Leser konsequent auf unterschiedliche Weise im Roman anspricht, erinnert ihn zum letzten Mal daran, dass die Lektüre ihres Romans ein konstanter kommunikationsfordernder Akt ist, dass der implizierte Leser sie beim Schreibvorgang stimuliert hat wie der "glänzende Punkt", der ihren Blick anzieht. Die Augenkontakte, reduziert auf einen "glänzenden Punkt" am Ende des Zitats, auf die Oberfläche einer illusionären Welt, zeigen - wie die Großaufnahme einer filmischen Szene - die stille Sehnsucht von beiden Seiten (z. B. der Autorin und ihres Lesers) für Kommunikation und sich gegenseitig zu erforschen. Zugleich erscheinen die Augenkontakte aber auch als subjektive Spiegelbilder. Ob das, was man gegenseitig in den Augen sieht, mit der Wirklichkeit übereinstimmt, ob es Widersprüche zwischen unserer Wahrnehmung und dem Dargestellten gibt, diese Fragen zu beantworten, verweist auf den Kernsatz des Anders-Romans zurück: "Auf den richtigen Blickwinkel kommt es an." Die durch die Beobachtung erweckten Erinnerungsbilder können reine Erfindungen sein, die mit den Erinnerungen nicht übereinstimmen. Diese Erinnerungsmethode, die hier nur durch Anders’ fantastisches Erzählen motivisch im Hintergrund des Romans behalten wird, kommt verstärkt zum Einsatz in Burmeisters nach der Wende erschienenen Roman Unter dem Namen Norma (1994).
© Holly Liu (Mount Holyoke College, USA)
ANMERKUNGEN
(*) Künftig wird der Roman Anders oder Vom Aufenthalt in der Fremde zitiert als Anders..
(1) Vgl. Gerlach, "Nachwort" zu Anders 283.
(2) Aus Westdeutschland waren folgende elf Rezensionen zu lesen: Frithjof Heller, "Brigitte Burmeister: Ein kleiner Roman - Nachrichten vom Zeitgeist." Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt [Hamburg] 12. Juni 1988; Angela Schader, "Irrgang durch verschobene Welten: Brigitte Burmeisters ‘nouveau roman’ aus der DDR." Neue Zürcher Zeitung 17. Juni 1988; Helmut Peitsch, "Das Beobachten von Veränderungen in monotonen Abläufen." Deutsche Volkszeitung/die tat 24. Juni 1988; Klaus-Ulrich Bielefeld, "Das Versuchskaninchen." Frankfurter Allgemeine Zeitung 18. Juli 1988; Sibylle Cramer, "Der kalte Blick einer Raubkatze: Das strahlende, fast unbemerkte Debüt einer DDR-Erzählerin." Die Zeit 29. Juli 1988; Norbert Schachtsiek-Freitag, "Ein Aufenthalt in der Fremde: Brigitte Burmeisters beachtenswertes Erzähler-Debüt." Frankfurter Rundschau 8. Aug. 1988; Sabine Kebir, "Ein und doch kein Nouveau Roman." Die Tageszeitung 2. Sept. 1988; Christina Weiss, "Unter der Ordnung das Labyrinth: Der außergewöhnliche Debüt-Roman der Ost-Berliner Romanistin Brigitte Burmeister." Süddeutsche Zeitung 10/11. Sept. 1988. Hans Noll, "Innenleben eines Spitzels: Brigitte Burmeisters trüber Agententhriller aus der DDR." Die Welt 24. Sept. 1988; Cornelia Staudacher, "Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn - In der Tradition Musils: Brigitte Burmeisters Romandebüt." Der Tagesspiegel [Berlin] 30. Okt. 1988; Sabine Brandt, "Alltag und Traum." Deutschland Archiv 6 (1989).
(3) Der Roman handelt von einem Angestellten David Anders um die Dreißig, dessen Beruf man nicht näher beschreiben kann, außer dass er "die großen Züge der Bevölkerungsbewegungen in diesem Land zu beobachten und auszuwerten" versucht (Burmeister, Anders 160). Anders wird auf ein Jahr von der provinziellen Außendienststelle in die "Zentrale" (ebd. 6) in der Großstadt (Ost-Berlin) versetzt. Dort protokolliert er nicht nur dienstliche Arbeiten mit "Unverdrossenheit und Freude" (ebd. 8), sondern schreibt auch in seiner abendlichen Einsamkeit eifrig Briefe an seine Lieben daheim, die er jedoch nie versendet. In dessen 53 wöchentlich verfassten Briefen, die zugleich als 53 Kapitel dienen, berichtet Anders von seiner Begegnung mit zwei Randfiguren, D. und seiner Frau - "Mensch[en] der Gegensätze" (ebd. 37) -, von "der Ereignisarmut in [s]einem außerberuflichen Leben" (ebd. 15), von dem "Beobachten von Veränderungen in monotonen Abläufen" (ebd. 77) und nicht zuletzt von seiner persönlichen Krise in der Fremde sowie seinem schließlich leicht verbesserten geistig-seelischen Zustand.
(4) Die DDR-Rezensionen ließen sich wie folgt aufzählen: Prof. Dr. Werner Neubert, "Kleiner Roman nach großen Vorbildern." Neues Deutschland 16/17. Juli 1988; Eckhard Ulrich, "Rätsel." Sonntag 20. Nov. 1988; Thomas Wieke, "Anders oder Vom Aufenthalt in der Fremde." Sonntag 20. Nov. 1988; Bert Thinius, "Schlüsselsuche: Lesart zum Roman Anders oder Vom Aufenthalt in der Fremde." Sonntag 27. Nov. 1988; Manfred Preusse, "Aufgefordert." Sonntag 1. Jan. 1989; Friedrich Jäger-Hülsmann, "Roman für Literaten: Postscriptum zu Brigitte Burmeisters Roman." Sonntag 22. Jan. 1989; Dieter Schlenstedt, "Brigitte Burmeister: Anders oder Vom Aufenthalt in der Fremde." Weimarer Beiträge 35.4 (1989); Andreas Schrade, "Verwandlungen - aber wohin führen sie?" Neue Deutsche Literatur 37.4 (1989).
(5) Aus Goethes Faust II, Fünfter Akt, "Tiefe Nacht," Faust I und II, Werke 3 (Köln: Könemann, 1997) 401-02.
Lyncus der Türmer auf der Schloßwarte, singend.
"Zum Sehen geboren, / Zum Schauen bestellt, / Dem Turme geschworen, / Gefällt mir die Welt. / Ich blick in die Ferne, / Ich seh’ in der Näh’ / Den Mond und die Sterne, / Den Wald und das Reh. / So seh ich in allen / Die ewige Zier, / Und wie mir’s gefallen, / Gefall’ ich auch mir. / Ihr glücklichen Augen, / Was je ihr gesehn, / Es sei, wie es wolle, / Es war doch so schön!"
(6) Vgl. Burmeister, Anders 268: "[. . .] Ihre Rückseite kam zum Vorschein, eine blanke Fläche, in der sich von fern eine Landschaft spiegelte, Erde, Wasser, Himmel, erkennbar an der Schichtung dunkelbrauner, silbrig grauer und blauer Farbe. Ein leeres Bild, das sich unter meinen Blicken verwandeln und beleben würde, das war gewiß."
(7) Vgl. Burmeister, Anders 188. In der Szene, wo Anders seinen Autor aufsucht, sagt der Letztere zu ihm: "[. . .] ich erzählte all das einem meiner Besucher und dem fiele nichts Besseres ein, als sich beispielsweise nach der Farbe des Anzugs des Präsidenten zu erkundigen, dann wüßte ich gleich, dass mir so einer nicht in den Text kommt. Entweder könnte er nur als Randfigur erscheinen - und die kann man sich bei Bedarf sowieso leicht herstellen, aus eigener Phantasie schöpfen -, oder er entwickelte sich zu einem dieser widerspenstigen Typen, die einem bloß Scherereien machen. Nichts für mich, sagt der Autor. Aber um Gottes willen, was hast du? Du siehst mich an, als wäre ich ein Gespenst. Hier nimm meine Hand und überzeuge dich, ich bin aus Fleisch und Blut, wie du." Da der Autor genau aussagt, was sich Anders durch den Kopf hat gehen lassen und auch niedergeschrieben hat, wird es einem klar, dass der Autor eines des zusammengesetzten Ich von Anders ist.
(8) Vgl. Ingeborg Bachmann (zit. in Stoll 151). Stoll bespricht im Kontext der poetologischen Ich-Reflexionen Bachmanns ihr Wissen um den Verlust gesicherter Identität. In ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen konstatiert Bachmann, es gebe "keine Einigung" mehr über das Ich. "Es tritt früh zutage und wird immer toller, faszinierender in der Literatur der letzten Jahrzehnte." Das Ich des zwangzigsten Jahrhunderts erscheine als "Ich ohne Gewähr": "Als wäre eine Fastnacht für das Ich veranstaltet, in der es bekennen und täuschen, sich verwandeln und preisgeben kann, dieses Ich, dieses Niemand und Jemand in seinen Narrenkleidern." Der Ausdruck "Ich ohne Gewähr" trifft sicherlich auf das gespaltene Ich von Anders zu.
(9) Im Folgenden wird der Briefwechsel "Keine Macht, aber Spielraum" zwischen Burmeister und Gerti Tetzner als "Spielraum" abgekürzt.
(10) Vgl. Burmeister, Pollok und die Attentäterin 8. Hier zitiert Burmeister Jorge Luis Borges (1899-1986) weiter: "Und er huldigte dem Lesen als einer Tätigkeit, die dem Schreiben Vortritt läßt: sie ist entsagender, höflicher, intellektueller."
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