Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 16. Nr. | Dezember 2005 | |
6.2. Die Entdeckung der Welt in Literatur und Wirklichkeit / The Discovery of the World: Fiction and Reality |
Helmut F. Pfanner (Nashville, Lochau)
[BIO]
In dieser Sektion ging es um die Diskrepanz von Literatur und Wirklichkeit, welche selbst die 'konsequenten Naturalisten' nie zur Gänze überwinden konnten. Die Gründe dafür liegen nicht nur in den sowohl vom Temperament und der Weltanschauung des Betrachters abhängigen unterschiedlichen Blickwinkeln, sondern auch in den in neuerer Zeit von der Erinnerungsforschung untersuchten Mängeln des menschlichen Gedächtnisses.
Den ersten vier Beiträgen der Sektion gemeinsam war ihre vornehmlich historische Orientierung. Der polnische Germanist Norbert Honsza aus Wroclaw zeigte in seiner Untersuchung des Kulturraums Schlesien auf, dass es sich bei dessen stattfindendem europäischem Integrationsprozess um die Wechselwirkung von starken Gegensätzen handelt, deren Akzente auf dem Widerspiel von Eigen- und Fremdkultur liegen. Der Vortragende prägte für den von ihm anhand des "europäischen Phänomens" Schlesien geschilderten Vorgangs den Ausdruck "Post-Regionalismus", der sich auch auf andere Orte übertragen lasse. In Dieter Binders Beitrag zum "Mythos Czernowitz" wurde deutlich, dass die von der bisherigen Forschung oft als "charakteristische Mischung aus Identität und deutschem Bildungsideal" gesehene Geschichte der Stadt in der Bukowina in deren Entwicklung seit 1945 nicht mehr volle Gültigkeit hat. Laut Binder ist das heutige Czernowitz in kultureller Hinsicht sowohl für Juden als auch für viele Christen ein "Ort des Erinnerns" geworden, wobei das Erinnern vornehmlich extern artikuliert wird. In fast nahtlosem Übergang dazu untersuchte Iulia-Karin Patrut von der Universität Trier das Bild der Zigeuner in der Reiseliteratur über die östlichen Provinzen der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie. Überkommene Stereotypen in der Reiseliteratur hat die Vortragende anhand von ethnographischen und anthropologischen Texten korrigiert. Nach einem großen geographischen Sprung nach Australien setzte sich der in Sydney tätige Germanist Gerhard Fischer mit der Rolle des Kolonisators und Publizisten Georg Forster für die politische und gesellschaftliche Entwicklung des Kontinents - 'down under' - im 18. Jahrhundert auseinander. Dem Vortragenden ging es vor allem darum, die Nachwirkungen von Forsters Ideen auf die kulturellen und sozialen Tätigkeiten und Ziele der in der Folge der gescheiterten Revolution von 1848 nach Südaustralien ausgewanderten Deutschen zu dokumentieren.
In ihrem vornehmlich theoretisch angelegten Vortrag - übrigens der einzige englischsprachige dieser Sektion, die anderen wurden auf Deutsch gehalten - befasste sich die Moskauer Philosophie-Studentin Ekaterina M. Belotsvetova mit dem Verhältnis von "globaler Souveränität und Zivilgesellschaft" in einem politischen und sozialen "Imperium". Laut Belotsvetova manifestiert sich der Übergang eines staatlichen (sprich korrupten) "Imperiums" in ein ziviles (sprich tolerantes) vor allem im Bereich der Moralität und somit im menschlichen Umgang mit "Anderen," "Fremden" und "Feinden". Da ein ideales "Imperium" letztlich wohl utopisch bleibt, äußert sich auch hier die Diskrepanz von Schein und Wirklichkeit oder Text und Praxis. Ganz aus dem Bereich der Praxis kam der darauf folgende Vortrag des iranischen Germanisten Mohammedreza Dousteh Zadeh aus dem Iran. Der Vortragende konnte auf seine eignen Erfahrungen an der Internationalen Gesamtschule Teheran (Mädchenschule) zurückgreifen und anhand mehrerer konkreter Unterrichtsbeispiele aufzeigen, wie ein sinnvoller Sprachunterricht nur im Zusammenhang mit Kulturunterricht stattfinden kann. Demnach besteht eine wichtige Rolle des Lehrers darin, "interkulturelle Konflikte aufzugreifen und letztlich zu beseitigen". Die Bewerkstelligung dieses Zieles lasse sich am besten dort erreichen, wo eine pädagogische Institution nicht dem Einfluss der für die beiden Kulturbereiche zuständigen Regierungen unterliegt.
Die restlichen drei Vorträge befassten sich mit belletristischer Literatur. Stephanie Günther, die kurz vor ihrer Promotion in Germanistik an der Universität Regensburg steht, untersuchte anhand der drei Autorinnen Alice Berend, Margarete Böhme und Clara Viebig die Rolle von Frauen in der Gesellschaft des Berliner Fin de siècle, wobei sowohl fiktive Figuren in den Werken als auch autobiographische Elemente der schreibenden Frauen selbst der Untersuchung unterzogen wurden. Günther wies überzeugend nach, dass in den Werken dieser Frauen einerseits noch tradierte Konzepte von Weiblichkeit vorhanden sind und anderseits auch authentische Vorausdeutungen moderner Weiblichkeit zum Ausdruck gelangen, wobei vor allem das Letztere den Anlass zu einer Revidierung des literarischen Kanons geben könne. Der an der Vanderbilt University emeritierte und heute in Vorarlberg ansässige Literaturwissenschaftler Helmut F. Pfanner untersuchte eine breite Palette von Werken deutschsprachiger AutorInnen, die während des 'Dritten Reiches' in den USA exiliert waren und nach 1945 nur zum einen Teil in ihre alte Heimat zurückkehrten und zum anderen Teil für immer entweder in den USA weiter lebten oder in ein drittes Land emigrierten. Wie die untersuchten Texte zeigen, entsprach das Bild der ExilantInnen von ihrer ursprünglichen Heimat im Laufe der Zeit nicht mehr der sich ständig wandelnden Wirklichkeit oder ihr Blick wurde infolge von Heimweh oder negativen Erinnerungen getrübt. Zum Schluss referierte die aus China stammende und zur Zeit am Mount Holyoke von Massachusetts lehrende Germanistin Holly Liu über "die Nichtübereinstimmung von Realität und Erzählung als Modell der romantechnischen Komposition in Brigitte Burmeisters "Anders oder vom Aufenthalt in der Fremde" (1987)." Der aus der deutschen Provinz in die Hauptstadt versetzte Protagonist des zitierten Romans erlebt in seiner Phantasie eine Bilderwelt, die er für die wahre Realität hält. Der Widerspruch de perspektivischen Sichtweise des fiktiven Betrachters einerseits und der sich ständig verändernden Wirklichkeit anderseits ergibt sich aus einer subversiven Erzählweise, die den Roman zu einem strukturellen Labyrinth und einem "ästhetischen Formspiel" macht.
In allen neun vorgetragenen Arbeiten war - obgleich in unterschiedlichen Disziplinen nachgewiesen und vorgetragen - eine mehr oder weniger breite Kluft wahrzunehmen, die sich zwischen Fiktion und Wirklichkeit in der andauernden menschlichen Entdeckung der Welt auftut.
© Helmut F. Pfanner (Nashville, Lochau)
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