Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 16. Nr. | August 2006 | |
6.5. "Den Kunstbegriff gilt es auf Punktgröße zu verengen". Kunst des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart in muslimischen Ländern |
Ein Überblick über die Entwicklung der zeitgenössischen Kunst in Pakistan und ein Ausblick auf die derzeitige Situation in den Ländern Südasiens insgesamt
Simone Wille (Wien)
[BIO]
Die Künstler und Künstlerinnen die ich Ihnen hier vorstellen möchte kommen aus Bangladesh, Indien und Pakistan; einige leben und arbeiten dort, andere haben sich in westlichen Metropolen niedergelassen, wo sie mit ihren Erfahrungen über multiple Kulturen und Versetzung zum integrativen Teil einer interkulturellen Kunstgemeinschaft geworden sind. Das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen verläuft keinesfalls immer reibungslos: "Zeitsprünge" finden statt, "Raumfolgen" tun sich auf, verschiedene Schichten von Raum und Zeit überlagern sich, Synchronität, die klassische Einheit von Ort und Zeit ist aufgelöst. Jede Epoche erträumt die folgende, wie Walter Benjamin sagte, und dabei revidiert sie die vorangegangene: Die hier vorgestellten KünstlerInnen setzen sich mit einer Zeit in Bewegung auseinander, in der persönliche, kulturelle, ökonomische, räumliche und virtuelle Ausdehnungen unvorhergesehene Konsequenzen haben.
Könnte man sagen, dass wir Europäer, oder vielmehr wir Westler, immer noch auf der Suche nach dem Fremden und Verborgenen sind? Der Wunsch, unseren eigenen Raum zu verlassen und in eine andere Zeit einzutauchen scheint vom Angebot der heutigen Tourismus Industrie bestätigt, die erfolgreich die Fantasien und Wünsche des Reisenden anspielt und mit exotischen Inseln und Themenparks lockt. Ähnlich der Ausstellungsbetrieb, der uns auf internationalen Biennalen und einer wachsenden Zahl von ethno-religiösen Gruppenausstellungen illusorisch eine temporäre globale Völkervereinigung vorgaukelt. Man könnte daher meinen, dass dieses Bedürfnis, das Andere zu entdecken, nie größer war als heute. Vom einstigen Pilger bis zum heutigen Touristen, wie die Geschichte der Identität von Zygmunt Bauman(1) sehr treffend beschrieben wird, gibt es in der westlichen Kultur eine ganze Reihe heroischer Gestalten, die stets bereit waren, alle möglichen Grenzen zu überschreiten, um das Verborgene zu entdecken.
Aber die Faszination des Westen für den Orient ist bekanntlich uralt. Seit der Antike war der Orient, zumal für den Europäer, ein exotischer Ort, ein Ort der Romantik. Europa’s älteste und reichste Kolonien sind im Orient zu finden genauso wie die Wiege seiner Zivilisationen und Sprachen. Darüber hinaus hat der Orient dazu beigetragen, Europa bzw. den Westen in seiner Andersartigkeit zu definieren. Das kulturelle "Andere", das die moderne Welt über das Kolonialreich entdeckte, provozierte in der westlichen Identität eine Krise, welche durch unterschiedliche Ansätze adressiert wurde. Im Bezug auf Kunst denke man nur an die Faszination des Westens für orientalische Kunst im neunzehnten Jahrhundert sowie das bestens bekannte Interesse der Avantgarde am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, welche über Formen der Exotik und des Primitivismus verfügte um zu einem authentischeren westlichen Bewusstsein zu gelangen. Den Beitrag, den nicht westliche Kunst und nicht westliche Künstler und Künstlerinnen in der Geschichte der Mainstream Kunstentwicklung leisteten ist lange ignoriert gewesen und findet heute erst langsam Eingang in die offizielle Kunstgeschichtsschreibung. Des Westlers Sorge, den Kanon zu definieren rührt von der Angst her, die Kontrolle und die Macht über das Bestimmen und Definieren von Qualität sowie das Klassifizieren und Standardisieren zu verlieren.
An dieser Stelle sei auf die kritischen post-kolonialen Theorien außerhalb der visuellen Künste eines Edward Said(2) und Homi Bhabha(3) hingewiesen, deren einflussreiche Bücher eine ganze Subkultur im Westen ausgelöst haben. Diese Schriften haben eine intensive Auseinandersetzung ausgelöst, welche das Spiel der Kolonialmacht mit Subjektivität und Identität im Bezug auf die Repräsentation des "Anderen" beleuchtet. Erst über die Folgen des Exil und der Migration transformierte sich dieser Prozess allmählich. Said hat mit seinem grundlegenden Buch "Orientalism", erschienen im Jahr 1978, all das untersucht und evaluiert. Seine Arbeit beleuchtet die Ungenauigkeit und den Irrtum einer Reihe von Annahmen sowie gängige Denkmuster von Akademikern, Individuen und Politikern die dem Westler dazu diente, seine eigenen Fantasien, Verlangen und Mängel dem "Anderen" aufzubürden.
Während die sechziger und siebziger Jahre eine Zeit des Optimismus für die schwarze Bevölkerung in den USA und in Großbritannien war ergaben sich in den achtziger Jahren folgende Szenarien. Einerseits sprach man von institutionellem Rassismus im Umgang mit nicht weißen Künstlern und Künstlerinnen. Andererseits unterstützte das Establishment den aufkommenden Multikulturalismus nicht zuletzt zum Zweck der Unterordnung. Wohlgemerkt, beim Multikulturalismus geht es nicht um die Gleichberechtigung aller Kulturen sondern um die Einquartierung der Untergeordneten zum Zwecke der Erhaltung der dominierenden Kultur. Beim Multikulturalismus wird dem "Anderen" nur dann Einlass in die dominierende Kultur gewährleistet, wenn dieses "Andere", das "Exotische" jeweils sichtbar ist. Multikulturalismus unterscheidet sich also von einer sogenannten kulturell-pluralistischen Gesellschaft, in der ein heterogenes Ganzes - bestehend aus verschiedenen kulturellen Komponenten - die gesamte Gesellschaft definiert ohne dabei Ideen von Mehrheit und Minderheit aufkommen zu lassen. In einer kulturell-pluralistischen Gesellschaft muss die Anerkennung kreativer Äußerungen unabhängig von der kulturellen Herkunft eines Individuums stattfinden. Homi Bhaba’s Ideen scheinen in einem direkten Zusammenhang mit der Entwicklung von Multikulturalismus zu stehen. Das Konzept kultureller Hybridenbildung, welches in Bhaba’s Schriften in den 1980er und 1990er Jahren stark gemacht wurde traf jedoch häufig innerhalb der Gruppe von Künstler und Künstlerinnen, die Bhaba adressierte - auf Resistenz. Homi Bhaba’s Formulierung des "in-between space", den er als den Raum beschreibt, der durch das Eintreten einer nicht-westlichen Kultur in die westliche Kultur geschaffen wird, zog somit eine Trennlinie zwischen Weißen und nicht Weißen und hat entfernt dazu beigetragen, dass weiße Künstler sich auf Kosten des Multikulturalismus frei austoben können während nicht weiße Künstler beim Eintreten in die dominierende Kultur ihre Identitätskarte zeigen müssen. Resistenz und Abneigung von Seiten der Kunstschaffenden richtete sich auch vielfach gegen Kunstinstitutionen und kuratorische Praktiken, die ähnlich der einstigen blockbuster Ausstellung "Magiciens de la Terre" (Centre Georges Pompidou, Paris, 1989) riskierten, dem Kult der Authentizität zum Opfer zu fallen. Indem Arbeiten von Künstlern wie Dossou Amidou aus Benin, südliches Nigeria, Nuche Kaji Bajracharya aus Nepal oder der aus den nördlichen Territorien Australiens stammende Künstler Jimmy Wululu neben bereits etablierten westlichen Figuren wie Hans Haacke, John Baldessari oder Nam June Paik platziert wurden löste Magiciens heikle Fragen einer Fortsetzung quasi-kolonialer Agenden aus. Obwohl diese Erwartungshaltung einer vermeintlichen Authentizität im Bezug auf das "Primitive" und das "Ursprüngliche"/"Andere" in dieser Ausstellung aufs Vollste erfüllt wurde so war die Intention Jean-Hubert Martin’s und Mark Francis’ doch die, Künstler der gesamten Welt zu zeigen um das Spektrum zu erweitern und das Ghetto des Westens zu öffnen.
Viele Kunstproduktionen asiatischer Künstler und Künstlerinnen, die sich in den neunziger Jahren in den westlichen Kunstmetropolen zu etablieren suchten, haben mit der Repräsentation Asiens im Westen zu tun. Dieser Dialog lässt sich am Besten verstehen im Zusammenhang mit der modernen Begegnungs- und Migrationsgeschichte Asiens mit dem Westen. Am Beginn des 21. Jahrhundert ist die asiatische Immigration im Westen kein neues Phänomen mehr. Das letzte halbe Jahrhundert bezeugt überhaupt eine große Anzahl von asiatischer Migration weltweit, mit signifikanter Ansiedlungen im Mittleren Osten, in Lateinamerika und in Australien. Wir erleben einen Moment globaler Migrationen wo die Summe der Kontakte, Konflikte und Mischung von Asiaten mit den Kulturen des Westens beispiellos ist. Die Arbeiten der Künstler und Künstlerinnen, auf die ich hier eingehe, sind Teil dieses globalen Moments. Dass dieses Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen nicht immer reibungslos und ausgeglichenen verläuft ergibt sich aus der Genealogie verschiedener Zeiten und Räume, in welchen sich diese Künstler und Künstlerinnen aufhalten.
Unsere Gegenwart ist alles andere als synchron. Vielmehr muss man von bunt zusammengewürfelten Zeiten sprechen, die sich auf immer enger werdenden Räumen begegnen. Jede Epoche erträumt die Darauffolgende, wie Walter Benjamin(4) einmal gesagt hat, und dabei revidiert sie die Vorangegangene. Die Arbeiten der hier präsentierten Künstler und Künstlerinnen sprechen von einer Zeit des Aufruhrs und der Bewegung, in der persönliche, kulturelle, ökonomische und virtuell räumliche Ausdehnungen unvorhergesehene Konsequenzen haben.
Arbeiten der vorgestellten Künstlern und Künstlerinnen gehen bewusst auf das kulturelle Missverständnis des Exotischen ein und bringen Erfahrungen über Reisen, Exil, Diaspora, Entfremdung und Integration, Gefühlen von Sehnsucht und Dazugehören, Erinnerungen von Orten und Menschen, Begegnungen mit unterschiedlichen Ansichten über Sexualität und Gender und verschiedene weltpolitische Positionen zum Ausdruck. Wenngleich sich die Situation von Künstlern und Künstlerinnen, die primär im Herkunftsland leben und arbeiten von jenen, die in einem Zweit- oder Drittland leben und arbeiten unterscheidet. Shahzia Sikanders Auseinandersetzung und Umgang mit der Miniaturmalerei Südasiens steht in starkem Kontrast zu der wachsenden Schar von "Miniaturisten" in Pakistan, die das Medium zwar inhaltlich, selten aber konzeptionell oder formal herausfordern. In ihrem sachten Herangehen an das historische Medium - weit entfernt von postmoderner Einmischung - fordert uns Sikander auf, über gegenwärtige Kontinuität und Diskontinuität mit der Vergangenheit nachzudenken. Der Unterschied zwischen Künstlern, die primär im Heimatland leben und arbeiten und Expatrioten wird von unterschiedlichen sozialen, kulturellen und politischen Wandel genauso definiert wie letztlich auch vom Markt. In Südasien gibt es nur wenige ernsthafte Sammler. Die wohlhabende Oberschicht kauft häufig Kunst, die nach europäischem Maßstab der Kategorie Kitsch zugerechnet wird. Dass diese Künstler aber Arbeiten produzieren, die sich international messen lassen können, ist keine Frage mehr. Immer mehr, der in Südasien ansässigen Künstler und Künstlerinnen, drängen auf ausländische Märkte, meist ist der anglo-amerikanischen Raum die erste Anlaufstelle.
Ähnlich wie Sikander, jedoch mit anderen Medien und Inhalten, reflektiert auch Sarnath Banerjee über Vergangenheit und Kontinuität. Seine illustrierten Geschichten untersuchen mit großen Sprüngen zwischen Raum und verschiedenen Zeiten, wie Mythen und gesellschaftliche Codes sich in der vom Kolonialismus unterbrochenen Geschichte im heutigen Indien verhalten. Banerjee’s Geschichten und Filme handeln immer wieder von Mythen über die indischen Sexualität, welche in der heutigen Zeit keinen Platz mehr haben. Indem er geschickt und auf unterhaltsame Weise zeitgenössisches Ideenmaterial verpackt kann man seine Medien auch als ernst zu nehmendes Werkzeug in Sachen Erziehung einsetzen. Das gewisse Maß an Machismo ist nicht zu dick aufgetragen sondern verleiht den Arbeiten eine würzige Note.
Während viele Südasiaten nach ihrer Ausbildung danach trachten, den Subkontinent in Richtung Westen zu verlassen entschied sich Naiza Khan in umgekehrter Richtung, nach der Ausbildung in Libanon und Großbritannien wieder in ihrer Heimat Pakistan ansässig zu werden. Die Erfahrung mit unterschiedlichen Kulturen und Religionen lässt sie in ihre gesellschaftskritischen Arbeiten einfließen, in denen der weibliche Körper eingesetzt wird, Emotionen rund um den Freiheitsdrang Ausdruck zu verleihen.
Farhana Syeda’s fotografische Arbeiten über Migration, ethnische und religiöse Unterdrückung sind Zeitdokumente in denen uns vor Augen geführt wird, dass die Armut südasiatischer Städte ein unaufhaltsames Phänomen ist. Diese lokalen Missstände sind letztendlich ein Hinweis auf globale Gegebenheiten und die enorme Anzahl asiatischer Migration steht als Index für die derzeitige soziale Formation des transnationalen Kapitalismus.
Eine junge Künstlergeneration zeigt zeitgenössische, künstlerische Vielfältigkeit. Neue Sichtweisen und Diskussionen über gängige Klischees und die eigene Haltung anderen Kulturen und Religionen werden im Idealfall neu überdacht.
© Simone Wille (Wien)
ANMERKUNGEN
(1) Zygmut Bauman, "From Pilgrim to Tourist-or a Short Historyy of Identity", in Questions of Cultural Identity, ed. Stuart Hall und Paul du Gay, (London, 1996, Sage Publication), S. 18-35.
(2) Edward W. Said, Orientalism, (London, 1978, Routledge).
(3) Homi K. Bhabha, The Location of Culture, (London, 1994, Routledge).
(4) Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, (Frankfurt, 1963, Suhrkamp Verlag).
Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections
Inhalt | Table of Contents | Contenu 16 Nr.