Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 16. Nr. | August 2006 | |
6.8. Fremde erleben / Experience the Foreign |
Alessandra Schininà (Università di Catania/Ragusa)
[BIO]
Seit der Antike ist die Figur der Wasserfrau ein beliebtes Motiv in der Kunst und in der Literatur. Sie erscheint unter verschiedenen Formen und Namen: Sirene, Skylla, Melusine, Undine, Wassernymphe, Loreley. Um das Bild der Meeresjungfrau haben sich im Laufe der Jahrhunderte eine Reihe von Symbolen, Metaphern, Andeutungen gruppiert, die sich immer wieder neu kombinieren und epochenbedingte religiöse, philosophische, ästhetische, soziale Bedeutungen gewinnen. So wurde z.B. in der Antike die Verbindung der Sirene zu Kunst, Wissen, Weissagung, Verführung betont. Im Mittelalter standen die christlichen Motive der Versuchung und der Seelensuche, des Doppellebens (Frau und Ungeheuer), der Mahrtenehe, im Vordergrund. In der Romantik kamen in der widersprüchlichen Beziehung zwischen Menschen und Wasserfrauen die Entfremdungsgefühle des modernen Individuums zur Geltung. Im 20. Jahrhundert kehren all diese Themen in Bildern wieder, die sich von der femme fatale bis zur emanzipierten Frau ausbreiten(1). So wurden SchriftellerInnen wie Th.Mann, O.Wilde, Tomasi di Lampedusa, I.Bachmann von der Figur der Wasserfrau fasziniert. In der Tat ist die Sirene zugleich Mensch und Übermensch, Schöne und Biest, Verführerin und Verführte, Hexe und Opfer von Zaubereien - ein Paradoxon, das zum bevorzugten Motiv einer Literatur geworden ist, die Gegensätze und Unterschiede zusammenzubringen versucht. Als hybrides Wesen wird die Wasserfrau zum Symbol der Kunst in ihrer Widersprüchlichkeit, Unfaßbarkeit, Mobilität. Und als Grenzgängerin zwischen den Sphären bietet sie noch heute Anlaß zu Überlegungen über die Wechselwirkungen zwischen Phantasie und Wirklichkeit, Kultur und Natur, Weiblichkeit und Männlichkeit, Anpassung und Andersartigkeit.
Die vielleicht bekannteste Version der Geschichte einer Wasserfrau ist Hans Christian Andersens Märchen Die kleine Seejungfrau, die 1837 erschien, und schon im Titel die Gefährlichkeit und Monstrosität der mittelalterlichen Melusine, der Frau, die im Wasser zu einem abscheulichen, schuppigen Schlangenwesen wird, mindert. Das Modell Andersens war sicher die 1811 geschriebene Novelle Undine von Friedrich de la Motte-Fouqué, die am Anfang der Verbreitung des Wasserfraumotivs in der Romantik steht. In Fouqués Novelle wird die hexenhafte Melusine - die mit Täuschung und Grauen verbunden war - zu einer reizenden Undine, einem Mädchen, das fast unschuldig verführt und vielmehr selbst zum Opfer der Menschen und ihrer hybriden Natur wird. In seinem grotesken Märchen Die neue Melusine versucht auch Goethe die Sirene zu verniedlichen, indem er ein "undenisches Pygmäenweibchen" ersinnt, das der Ehemann in einer Schachtel herumführen kann. Im Versuch, die Sirene zu "domestizieren", sie in die bürgerliche Moral zu integrieren, wollte man die Spuren eines antiken Matriarchats verwischen.
Durch das romantische Bild der anmutigen Undine wird die erotische Anziehung der Wasserfrau vom Motiv der Wollust getrennt (in der christlichen Ikonographie wird die Sirene mit der Wollust identifiziert und der Fischschwanz mit dem Bild der Schlange gleichgestellt). In Wirklichkeit ist auch die kleine Seejungfrau engelhaft und dämonisch zugleich. Sie verkörpert eine naive und wilde Natürlichkeit und besitzt zugleich das Wissen über die Kräfte und die Geheimnisse der Natur. Aber wie die Undine Fouqués zeigt, scheitern die Versuche, sie durch die Ehe zu zähmen. Das Motiv der Mahrtenehe, der Ehe zwischen einem Sterblichen und einem weiblichen Wesen aus einer anderen Sphäre, endet traditionell - wegen des Bruches eines Versprechens oder der Verletzung eines Tabus seitens des Ehemannes - stets tragisch. Eros und Thanatos sind also bereits am Anfang des Mythos der Sirenen untrennbar aneinander gekoppelt.
Ein wesentliches Element der amphibischen Natur der Sirene ist das Wasser, das Meer, der Ozean. Die Sirene, wie ihre Schwestern der Flüsse, Quellen, Brunnen, Seen, ist das Meer, ist eo ipse das Wasser, mit seinem doppelten Aspekt des lebens- und Tod spendenden Elements. Die Sirene - wie der Ozean, die Schifffahrt - repräsentiert eine Gefahr für den Menschen, aber auch eine Möglichkeit, das eigene Wissen zu bereichern. Für den "Heiden" Odysseus bedeutet die Begegnung mit den Sirenen eine Überwindung der eigenen Grenzen, für Professor La Ciura, den Protagonisten der Erzählung Ligheia (Die Sirene) von Tomasi di Lampedusa, dagegen eine panische Erfahrung. In den Geschichten über Seejungfrauen erscheint das Wasser nicht nur als Meer, See oder Fluß, sondern auch in Form von Gewitter, Schaum, Tränen oder in den Topoi der belauschten Badenden und des Narziß. Gerade das Motiv der sich selbst beobachtenden Schönheit beinhaltet eine moderne ästhetische Verwicklung. Heines Loreley genießt selbstbegnügt die eigene Schönheit und die eigene Stimme, ignoriert die Schiffer, deren Kähne an ihrem Felsen zerschmettern. Der Fischer der gleichnamigen Ballade Goethes ertrinkt, angezogen von seinem Spiegelbild im Wasser, das ihm die Sirene als letzte, fatale Versuchung vor Augen führt. Die Sirene ist also auch Projektion eines selbstbezogenen Wunsches. Goethe behauptet, daß er in seiner Ballade einfach "das Gefühl des Wassers" ausdrücken wollte. Das Wasser ist somit spiegelnde Fläche, dauernde Bewegung, ewiges Fließen, Symbol des Lebens, der Zeit, der schaffenden Kraft der Kunst. Aus Wirbeln und Wasserstrudeln schöpfen die Sirenen ihre Prophezeiungen und Visionen. Das Meer, das aus einem ruhigen Wasserspiegel und einer erschreckenden, gefährlichen Tiefe gleichzeitig bestehen kann, wird eins mit der Sirene. Diese spaltet sich innerlich und äußerlich in eine aus den Fluten emporsteigende, wunderschöne jungfräuliche Gestalt und andererseits in ein monströses Wasser-Wesen.
Die kleinen Seemädchen Andersens spielen in einer paradiesischen Ozeantiefe voller Farben, Formen, Lichter. Ihr mit den Objekten aus versunkenen Schiffen verzierter Garten ist jedoch für die Menschen ein gespenstischer Todesort. Die kleine Seejungfrau verzehrt sich sehnsuchtsvoll für eine leblose gestrandete Marmorstatue. Wie in der Odyssee ist die Insel der Sirenen - vom jeweiligen Standpunkt aus betrachtet - entweder eine "blumige Wiese" oder ein Beinhaus. Auch die Überreste des Ertrunkenen in Ariels Lied von Shakepeare werden zu Korallen und Perlen, verwandeln sich "into something rich and strange". Es gibt aber einen noch tieferen Abgrund, den Maelstrom, wo die Seejungfrau, als weiblicher Faust, einen Pakt mit der teuflischen Meerhexe schließt. Hier kehren alle obskuren und verdrängten Elemente der mythischen Fischfrau zurück und nehmen die Form von Wirbeln, Schlamm, Polypen, Schlangen, Ungeheuern, blankem Gebein an. Die Sirene wird gespalten in eine kleine Seejungfrau und in eine Meerhexe. Alle Wasserfrauen versprechen ihrem Geliebten wunderschöne, unterseeische Schlösser und Gärten, die sich aber als tödliche Wasserstrudeln enthüllen oder sich bestenfalls als Täuschung, Träume, Fata Morgana erweisen.
Stürme und Schiffbrüche, die vom Erscheinen der Sirenen begleitet werden, erhalten ebenfalls eine doppelte Bedeutung: einerseits verursachen sie Tod und Verderbern, andererseits deuten sie auf Wiedergeburt und Erlösung hin. Das Wasser ist mit dem Motiv der Taufe und der Suche nach der Seele verbunden. Im Mittelalter wurden die Sirenen mit Fischen in den Händen dargestellt. Sie symbolisierten die von den dämonischen Sirenen gefangen genommenen christlichen Seelen. Mit der Zeit kehrt sich die Lage um: es ist die Wasserfrau, die eine eigene Seele erhalten möchte. Eine entheiligende und ironische Variante dieses Themas zeigt Oscar Wildes Erzählung Der Fischer und seine Seele. Hier möchte der in eine Sirene verliebte Fischer die eigene Seele als Schatten loswerden, um mit der Sirene zusammenleben zu können. Als Grundlage steht der Dualismus zwischen Körper und Seele, der in der doppelten Natur der Wasserfrau seinen Ausdruck findet. In diesem Sinne bot Paracelsus in seinem Buch Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandris eine Reihe von Motiven, die von der modernen Literatur über Sirenen übernommen wurden. In seiner Theorie über Elementargeister beschreibt er Wesen in einem Zwischenzustand zwischen Geist und Mensch, zwischen Mensch und Tier. Die Undenae des Wassers so wie die Erdgeister, die Waldgeister der Lüfte, die Salamander des Feuers sind seelenlos und lösen sich schließlich einfach in Staub oder Schaum auf. Daher ihr Verlangen nach einer Seele - in der christlichen Auslegung interpretiert als Wunsch nach Erlösung. Auch die kleine Meejungfrau Andersens kann nur durch eine Ehe mit einem Menschen eine Seele erwerben. Wenn aber der Ehemann eine Undine verstößt und in der Nähe des Wassers mit Schimpfworten beleidigt, muß sie in ihr Element zurückkehren. Sollte der ehemalige Gatte wieder heiraten, muß die Undine, auch gegen ihren Willen, wieder auftauchen, um ihn zu töten, so z.B. in der Erzählung Fouqués.
Die Sirene ist ein Grenzwesen. Mehr noch als in der Tiefe des Meeres erscheint sie auf einem Strand, auf einer Insel, in einer Lichtung bei einem Brunnen. Das Ufer wird zum Übergangsort, wo zwei Sphären, Realität und Phantasie, Kultur und Natur, Moral und Instinkt, Heidentum und Christentum zusammentreffen und aneinander stoßen. Die eigenartigen Theorien des Paracelsus boten den Romantikern wie Eichendorff, Arnim, Brentano ein reiches Bilderrepertoire, bei welchem die Grenzen zwischen Geschichte und Zivilisation einerseits, Natur und Traum andererseits verstellbar sind. Mit der Zeit gewinnt das Bild der Wasserfrau eine utopische Dimension, wird zum Ausdruck des Traumes eines unmittelbaren Verhältnisses zwischen Natur und Mensch. In den Sirenengeschichten werden Phantasien, Wunschvorstellungen, Ängste, Fluchtversuche aus einer befremdenden Realität heraus projeziert, und die Wasserfrau wird zur Chiffre der Entfremdung des modernen Menschen. Die Figur der Sirene wird wieder einmal ambivalent. Die Undine versinnbildlicht die positive Seite der Transzendenz, während die Melusine (Loreley) die Angst, sich in das Irrationale zu verlieren, ausdrückt. Diese beiden Aspekte sind eigentlich komplementär und untrennbar - wie bei den Romantikern die Todessehnsucht und die Todesangst.
Wasserfrauen tauchen aber immer wieder auch in der Phantasie und in den Erzählungen realistischer Autoren des XIX. Jahrhunderts bis hinein in das XX. auf - siehe Heine, Fontane, Mörike, Raabe bis hin zum Doktor Faustus von Th. Manns. Es beginnt sich dabei eine ironische Note abzuzeichnen. Was wäre passiert, fragt sich Grillparzer in seiner abermaligen Version der Melusinenlegende, wenn der Prinz der Wasserfrau gefolgt und ins unterseeische Schloß übersiedelt wäre. Er hätte sich gelangweilt, wie der Fischer Oscar Wildes. Die Beziehung zwischen der Sirene und dem Menschen ist nur in ihrer Spannung und Unentschloßenheit anregend. Im Laufe des XX. Jahrhunderts nehmen Kitsch und Vermarktung des Motivs der Undine die Oberhand über den Mythos der Sirene. "Ich hab keine menschliche Seele, ich leb nur als Märchen dahin", sang Mitte der 30er Jahre Karl Valentin als Loreley verkleidet mit langem blonden Haar und Leier in der Hand(2).
Der Versuch, die Sirene zu "domestizieren", ihr transgressives und zerstörerisches Potential zu entschärfen, geht mit ihrem progressiven Stummwerden einher. Nachdem Fouqués Undine eine Seele bekommen hat, verliert sie ihre besondere Sprache, ihre Fähigkeit frei, direkt und unmittelbar zu kommunizieren und wird zu einer scheuen und unterwürfigen Ehefrau. So verliert sie ihre erotische Ausstrahlung in den Augen ihres Mannes, und wird ihn erst am Schluß als todesbringender Elementargeist, der ihm den Todeskuß gibt, wiedererobern.
Auch im Märchen Andersens verstummt die kleine Seejungfrau, nachdem sie ihre wunderschöne Stimme gegen ein Paar menschlicher Beine eintauscht. Als stumme und fremde Frau kann sie nicht mit dem Prinzen kommunizieren, ihm die Wahrheit sagen, ihn heiraten. Sie wird weder Geliebte und Ehefrau eines Mannes wie Undine, noch Mutter wie Melusine. Ihr zerstörendes Potential ist ausgelöscht, da sie nicht mehr zu einer erotischen Versuchung und einer Todesquelle werden kann. Ihr verzweifelter Tanz drückt ein verinnerlichtes, ersticktes Leiden aus. Die kleine Meerjungfrau vernichtet sich selbst, um den anderen nicht zu vernichten, indem sie den Mord ablehnt, der ihr den Fischschwanz und dadurch das Leben wiedergeben könnte. Vergebens opfern ihre Schwestern ihre Haarpracht, ein weiteres Verführungsmerkmal der Wasserfrau, um durch die Hexe das Messer zu erhalten, durch welches das Blut des Prinzen vergossen werden soll. Das Blutvergießen ist ein weiteres Element der Sirenengeschichten, vom Biss der kleinen Undine, zum Blut, das aus dem Mund der Sirene Ligheia rinnt, zu den Unterwasservisionen, die das verseuchte Blut im syphilitischen Leverkühn des Romans Th. Manns auslöst. Dieser, als neuer Faust, sieht in der kleinen Seejungfrau eine verwandte Seele, eine "Schwester in der Trübsal", die sich der teuflischen Meerhexe verkauft hat, um durch Schmerzen, die furchtbaren Stiche in den Beinen, eine Seele zu gewinnen. Ähnlich hat der Musiker Leverkühn seine Seele dem Teufel verkauft, um neue, bisher unerhörte Klänge komponieren zu können, die von den Schmerzen unerträglicher Migräneanfälle begleitet werden.
Die Literatur ist voll von singenden Sirenen, aber auch paradoxerweise von schweigenden Sirenen. Es handelt sich nicht nur um die Unmöglichkeit zwischen Mensch und Natur, zwischen Mann und Frau zu vermitteln, sondern auch um eine ästhetische Frage. Sowohl der Gesang der Sirenen in Blanchot, als das Schweigen der Sirenen in Kafka, von Politzer wieder aufgenommen, wurden Anlaß für theoretische Überlegungen über die Vermittlungsfähigkeit der Kunst, der Literatur. Die Matrosen in Rilkes Gedicht Insel der Sirenen spitzen die Ohren, um den Gesang der Sirenen zu hören, sie vernehmen jedoch nur das Stillschweigen des Ozeans - eine Metapher für einen Mythos, der den Menschen nichts mehr zu sagen hat? Im XX. Jahrhundert wird die Sirene zu einer Ikone, zum bildlichen Ausdruck des "ewig weiblichen", des Unbewußten. Manchmal wird sie auf eine Abbildung reduziert, manchmal verbleibt nur ihre Stimme.
In der Novelle Die Sirene von Dieter Wellershoff(3) ist die Sirene eine verführerische, weibliche Telefonstimme, die den Protagonisten in einen Strudel hineinzieht, der seine fest geordnete Welt schwanken läßt. Das Opfer ist ein angesehener Universitätsprofessor, wie Professor La Ciura in Ligheia von Tomasi di Lampedusa. Er besitzt aber weder das wissenschaftliche Format noch das Übermenschgefühl von La Ciura, im Gegenteil enthüllt er sich als ein feiger und unschlüssiger Mensch, der keine positive Beziehung zur Sirenenstimme aufzubauen vermag. Die Art von Wissen, die ihm die Telefonstimme vermittelt, ist sicher nicht mit der Art der Ligheia zu vergleichen. Die Stimme am Telephon gehört eher einer frustrierten Wasserfrau, und verliert sich schließlich in einem konfusen Gestammel. Ligheia (auf griechisch, die mit der klaren Stimme) ist hingegen eine selbstbewußte und entschlossene Sirene, mit freier und unmittelbarer Rede. Sie wählt den richtigen Mann, um ihre Naturgeheimnisse zu übermitteln. In der Novelle Tomasi di Lampedusas begegnen sich zwei Arten von Wissen und Weisheit: eine logische, rationale und eine geheimnisvolle, magische, die den Prophezeiungen der Sybille, den Rätseln der Sphynx nahesteht. La Ciura sagt über die von ihm geliebten Sirene: "Man ist nicht umsonst die Tochter Kalliopes: in Unkenntnis aller Art von Bildung, jeden moralischen Zwang verachtend, hatte sie trotzdem teil an der Quelle jeder Kultur, jeder Weisheit, jeder Ethik", und ihre Worte lauten: "Ich bin alles, weil ich nur fließendes Leben bin, und nichts als das; ich bin unsterblich, weil aller Tod in mich einmündet, von dem des Stockfisches von vorhin bis zu dem von Zeus; in mir vereinigt werden sie wieder Leben, das nicht mehr persönlich und begrenzt ist, sondern panisch und daher frei."(4)
Dank der Liebesbeziehung mit einer Sirene machte Professor La Ciura als junger Mann eine sinnliche und zugleich geistige Erfahrung. Nach diesem einmaligen Erlebnis einer Einheit von intellektueller Weisheit und Naturerfahrung kann er sich nicht mehr in die geordnete Welt integrieren. So wird der Ich-Erzähler der Novelle von der Figur des alten Professors angezogen. Diese ist abstoßend häßlich und zugleich faszinierend, anscheinend grob und plötzlich fein, fast als ob sich der Professor der doppelten Natur der Sirene, halb Mensch, halb Tier, angeeignet hätte. Normalerweise waren es Prinzen und Ritter, die einer Sirene begegneten. Hier geschieht es einem besonders gebildeten Menschen, der seine außergewöhnliche Beziehung zu einer Sirene erzählen und somit weitergeben kann. Im allgemeinen enthüllen sich die meisten von den Sirenen begegneten Männer als unwürdig und verständnislos. Wie Kafka bemerkte, ist schon die Geschichte von Odysseus und den Sirenen die Geschichte einer verfehlten Begegnung. Odysseus verkörpert die westliche Kultur und die Vernunft, die Sirenen die Sinnlichkeit. Meistens stehen sie sich antithetisch gegenüber, statt eine Synthese zu suchen.
Der skeptische Brecht fragt sich: "Alles gut, aber wer - außer Odysseus - sagt, daß die Sirenen wirklich sangen, angesichts des angebundenen Mannes? Sollten diese machtvollen und gewandten Weiber ihre Kunst wirklich an Leute verschwendet haben, die keine Bewegungsfreiheit besaßen? Ist das das Wesen der Kunst?"(5) Die Sirene ist also zu interpretieren als Vertreterin eines Wissens und einer Kunst, die engstirnige und eingeschränkte Menschen nicht verstehen können. In antiken Abbildungen wurden die Sirenen den Musen gegenübergestellt, als Symbol einer primitiven, obskuren Kunst. In ihrer Invektive gegen die Menschen und deren begrenzten Horizont klagt die Undine Ingeborg Bachmanns: "Ihr mit euren Musen und Tragtieren und euren gelehrten, verständigen Gefährtinnen, die ihr zum Reden zulaßt..."(6) Die Sirene und ihre Kunst wird zum Schweigen gebracht, bleibt ungehört von denen, die sich vor einer mobilen, rebellischen, unkodierten Kunst fürchten, die das Unbewußte, das Andersartige, die Instinkte, aber auch die Ekstase darstellt.
Die Neuerung in der Erzählung Undine geht von Ingeborg Bachmann ist eine Umkehrung der Perspektive, die noch radikaler als die im Märchen Andersens ist. Schon er stand sozusagen auf der Seite der kleinen Seejungfrau. Hier sind die Menschen die Ungeheuer (Ihr Menschen! Ihr Ungeheuer! Ihr Ungeheuer mit Namen Hans!) unfähig, das Leben und die Liebe voll zu erleben. Bachmann übernimmt alle traditionellen Elemente der Sirenengeschichten: die Wassersymbolik, das Motiv des Verrats, die Erotik, das Wissen über die geheimen Kräfte der Natur, aber vom Gesichtspunkt der Undine, die trotz ihres Haßes und ihrer Verachtung den schwachen und undankbaren Menschen gegenüber, eine gewisse Sehnsucht nach ihnen verspürt. Bachmanns Undine sieht - wie die kleine Seejungfrau des Märchens - den Menschen als Versuchung für sie. Sie bewundert vor allem die Sprache der Menschen, ihre Fähigkeit den Dingen einen Namen zu geben und dadurch einen Teil der Welt aufzuklären. Sie hingegen verkörpert die obskuren Seiten des Seins. Bachmanns Undine kritisiert die patriarchalische Ordnung, die sie in der modernen Gesellschaft an den Rand gedrängt hat, ist sich jedoch bewußt, daß sie als Frau, aber auch als Gesang, als Kunst, als Literatur die Menschen braucht, so wie diese sie. Als Kommentar zu ihrer Erzählung sagt die Autorin: Die Undine ist keine Frau, auch kein Lebewesen, sondern, um es mit Büchner zu sagen, "die Kunst, ach die Kunst"(7).
Undine als Symbol der Kunst verleiht der menschlichen Existenz Leben und Geist, hilft den Tod und die Zeit zu überwinden, bringt Licht, sie selber aber steht an der Schwelle, immer im Begriff, sich zu verabschieden. In den lyrischen Schlußworten: "Beinahe verstummt, beinahe noch den Ruf hörend. Komm. Nur einmal. Komm."(8) wird das Motiv des Sirenenrufs auf das Wesentliche reduziert. Im Stimmenecho unterscheidet man nicht, ob der Mensch, oder die Undine spricht. Undine geht, nach dem nochmaligen Verrat, aber ihr Schicksal ist wiederzukehren, so wie das des Menschen, sie zu verraten, in einer tragischen, jahrhunderte langen Dialektik. "Doch vergeßt nicht, daß ihr mich gerufen habt in die Welt, daß euch geträumt hat von mir, der anderen, dem anderen"(9), mahnt Undine. Bachmann gibt der Wasserfrau eine einheitliche, wenn auch widersprüchliche Identität. Sie spaltet die Sirene nicht in Engel und Hexe. Undine selbst definiert ihre Identität, spricht über sich selbst, d.h. über den Mythos, die Legende, das Märchen, mit deren immer neuen und doch im Grunde gleichen Varianten.
© Alessandra Schininà (Università di Catania/Ragusa)
ANMERKUNGEN
(1) Über die Entwicklung des Bildes der Wasserfrau in Kunst und Literatur vgl. Irmgard Roebling (Hg.): Sehnsucht und Sirene, Pfaffenweiler 1991; Anna Maria Stuby, Liebe, Tod und Wasserfrau, Wiesbaden 1992; Gabriele Beßler: Von Nixen und Wasserfrauen, Köln 1995; Beate Otto, Unterwasser-Literatur, Würzburg 2001.
(2) In Beate Otto, a.a.O, S. 258.
(3) Dieter Wellershoff: Die Sirene, Köln 1980.
(4) Giuseppe Tomasi di Lampedusa: Die Sirene, München/Zürich 1996 (1961), S.53
(5) Bertolt Brecht: Berichtigungen alter Mythen, in Bertolt Brecht, Gesammelte Werke II, Prosa I, Frankfurt/Main, 1975, S.207.
(6) Ingeborg Bachmann: Undine geht, in I.Bachmann: Das dreißigste Jahr, München 1987 (1961), S.142.
(7) Ingeborg Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews, München-Zürich 1983, S. 46.
(8) Ingeborg Bachmann, a.a.O., S. 147.
(9) Ingeborg Bachmann, a.a.O., S. 145.
6.8. Fremde erleben / Experience the Foreign
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