Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 16. Nr. | Mai 2006 | |
7.2. Dominierende Innovationsdiskurse zwischen gesellschaftlicher Relevanz und Ignoranz |
Kendra Briken (Universität Frankfurt)
[BIO]
Der Wissenschaftshistoriker David Landes hat in seiner Studie "Armut und Reichtum der Nationen" (1999) eindrucksvoll nachweisen können, warum im historischen Zeitlauf manche Nationen reicher als andere wurden. Eine entscheidende Rolle spielte dabei der Umgang mit Neuerungen, oder wie man heute sagen würde, mit Innovation. Eine Innovation, sei sie nun sozialer, technischer oder organisationaler Provenienz, dies belegt sein Blick in die Geschichte unterschiedlicher Imperien, zieht nicht nur selbst kulturelle, soziale, strukturelle oder institutionelle Veränderungen nach sich. Sie steht zugleich im engen Zusammenhang mit der sie umgebenden Gesellschaft und den in dieser vorhandenen Möglichkeitsstrukturen für Innovation. Der Buchdruck etwa wurde lange vor seiner Verbreitung in Europa in China erfunden. Diese Innovation datiert auf das neunte Jahrhundert. Eine Verbreitung fand der Buchdruck hier freilich nicht, im Gegenteil: Er ist, wie viele Neuerungen, in Vergessenheit geraten.
Im Gegensatz dazu setzte sich die Erfindung Gutenbergs im 15. Jahrhundert beinah explosionsartig durch. Zwei Faktoren sind nach Ansicht Landes dafür verantwortlich. Die Struktur der chinesischen Schriftsprache, die nicht auf einem Alphabet, sondern aus Begriffszeichen besteht, erschwerte den Druck mit beweglichen Lettern. Es dominierte der Tafeldruck und mit ihm die Bilder- statt der Zeichensprache. Zweitens schließlich weist Landes darauf hin, dass (wissenschaftliche) Erkenntnis wie auch Laienansichten, die dem konfuzianischen Staatsbeamtentum nicht genehm waren, unterdrückt wurden. Ganz anders waren die Verhältnisse zu Zeiten Gutenbergs: Das Monopol auf die (heilige) Schriftsprache seitens der Kirche war gebrochen. Die Entwicklung der Städte mit ihren Verwaltungen wie auch die Verbreitung von Schriften in Umgangssprache ließ die Nachfrage nach Geschriebenem anwachsen. Diese Möglichkeitsstrukturen wiederum sind nicht allein, wie Birgit Blättel-Mink in ihrem Aufsatz "Kultur im Innovationsprozess - Does culture matter" anmerkt, natürlicher, struktureller oder institutioneller Art, sondern weisen auch deutliche Bezüge zur Kultur, verstanden als "mentale Programme" auf (vgl. Blättel-Mink 2005).
Die Beobachtung von "Innovation" in einer Gesellschaft impliziert in dieser Perspektive zweierlei: Erstens ist die Diffusion nicht vorab bestimmbar, sondern stellt eine ex post wahrnehmbare Annahme der Innovation durch relevante Akteursgruppen dar, die sich in ihrem sozialen Handeln auf sie beziehen (sei es als Konsument, politischer Akteur oder Wirtschaftsunternehmen). Zweitens greift Innovation aber auch in eine bestehende Möglichkeitsstruktur ein und modifiziert diese. Ein Beispiel hierfür ist etwa die Kühltruhe: Sie veränderte nicht nur Konsumverhalten, sondern machte auch die als sozialer Treffpunkt funktionierenden zentralen Kühlhäuser obsolet und setzte an ihre Stelle dezentrale, autonome Einheiten, die in die häuslich-familiale Struktur integriert wurden.
Innovationen sind Grenzgänge zwischen Altem und Neuem, sie passen in einen gegebenen Rahmen und transzendieren ihn zugleich. Sie sind somit nicht allein Icons, also Zeichen des Neuen, sondern lassen Rückschlüsse auf vorhergehende Grenzziehungen und Entscheidungsprozesse in Gesellschaften, mithin auf Gesellschaftsformationen zu. Ausgehend von diesen Vorüberlegungen stellt sich die Frage: Welche Rolle spielen Innovationsdiskurse bei dieser neuen Grenzziehung? Und muss womöglich zwischen konkreten Diskursen, die sich auf gegenstandsbezogene Prozesse fokussieren, sowie abstrakten Diskursen, die Innovation als Idee, also verstanden als Inter-Diskursen, unterschieden werden?
Ein Diskurs kann aus linguistisch-historischer Perspektive zunächst als ein Herstellungsprozess sozialer Ordnung im Sprachgebrauch verstanden werden. Sprachverwendung gilt als sozialer Akt der Wirklichkeitskonstruktion und etabliert dadurch Wissensregime sowie Bedeutungsordnungen. Sie sind strukturell verknüpfte Aussagenkomplexe, in denen Behauptungen über Phänomenbereiche auf Dauer gestellt werden (vgl. Keller 2005). Mit Bezug auf den Begriff des Diskurses verschiebt sich bezogen auf Innovationsprozesse der Zugriff: Ich rekonstruiere nicht den Prozess der Entstehung von konkreten Innovationen in definierten Entitäten (Organisationen, Nationalstaaten, Akteuren), sondern fokussiere auf semantische Programme, die selbst Innovation zum Thema haben bzw. diese als Wirklichkeitskonstruktionen ermöglichen. Ziel eines solchen Zugriffs ist nicht die Trennung von Fakten und Ideologie oder die Suche nach der "verstellten" Wahrheit. Vielmehr geht es um die Rekonstruktion der Produktion der Innovationssemantik: Welches Wissen über und welche Bedeutung von Innovation wird in der Gesellschaft produziert? Über welche Unterscheidungen operiert sie, welche Grenzen werden gezogen und welche Exklusionseffekte gehen damit einher? (vgl. Lemke 1997). Eine Analyse "dominanter Innovationsdiskurse" bewegt sich in diesem Zugriff auf zwei Ebenen. Zum einen geht es um die Rekonstruktion gegenstandsbezogener Diskurse, wie sie sich etwa im Bereich der Biotechnologie, der Nanotechnologie oder der Hirnforschung manifestieren. Zu fragen wäre nach Relevanzen und Ignoranzen im Rahmen der Bedeutungsordnungen, die aus wissenschaftlichen Erkenntnissen dieses Feldes resultieren. Zugleich findet aber auch ein Diskurs über Innovation statt, der quer zu diesen Phänomenbereichen liegt.
Ich möchte im folgenden einige kursorische Überlegungen(2) dazu anstellen, wie sich diese beiden Diskursfelder, d.h. die "gegenstandsbezogenen" wie auch der Diskurs, der zur Konstitution des Phänomens der Innovation beiträgt, miteinander im Diskursfeld der Biotechnologie verschneiden. Meine These ist, dass die gegenstandsbezogenen Diskurse, wie sie in der Umwelt- und Risikoforschung analysiert wurden, von einem neuen/qualitativ veränderten Diskurs um Innovation überlagert bzw. durchzogen werden. Dieser Prozess kann in Anlehnung an Beck/Bonß (2004) als eine Politik der Grenzziehung verstanden werden: Vormals offene Entscheidungsräume werden geschlossen, indem sie die Sowohl-als-auch-Logik der zweiten Moderne zurück in eine Entweder-Oder Grammatik überführen. Institutionalisierte Reflexionsprozesse werden im Zuge eines gesellschaftlichen Wandels, den ich vorläufig als neoliberalen bezeichnen möchte, im Hinblick auf ihre Innovativität hin gemainstreamt: Gut ist, was innovativ ist. Ausgehend von diesen Überlegungen möchte ich im folgenden das Theorieangebot der reflexiven Modernisierung nutzen, da es in seiner Skizzierung der zweiten Moderne ein zeitdiagnostisches Deutungsangebot für den Umgang von Gesellschaften mit Entscheidungsprozessen bei Unsicherheit liefert. In einem ersten Schritt werde ich die für mich relevanten Anknüpfungspunkte vorstellen. Daran anschließend werde ich zweitens das Feld der Biotechnologie als diskursive Formation präsentieren. Drittens werde ich dann meine Überlegungen dazu anstellen, inwiefern es einen öffentlichen Inter-Diskurs gibt, der vom jeweiligen Gegenstand (Hirnforschung, Biotechnologie, Nanotechnologie) durch das semantische Programm der Innovation abstrahiert und zugleich als Referenzrahmen für die Definition von Relevanzen und Ignoranzen in den unterschiedlichen Innovationsdiskursen fungiert.
Folgt man den Annahmen, die seit Ende der 1980er Jahre im Anschluss an Ulrich Becks Überlegungen zur reflexiven Modernisierung kursieren (vgl. Beck et al. 1999), so zeichnen sich Entscheidungsprozesse in der zweiten Moderne zunehmend dadurch aus, dass nicht nur mehr, sondern auch immer unterschiedlicheres Wissen zur Verfügung steht. Kognitive wie auch normative Handlungssicherheiten werden in dieser Perspektive fragil und "gewusste Ungewissheit" bzw. "Nicht-Wissen" zu einer relevanten Kategorie bei der Definition von Rationalitätskriterien. Selbstverständliche Strukturen, eindeutige Lösungen und klare Differenzierungen werden mit Gegenmodellen, funktionalen Alternativen und der Beschreibung nicht intendierter Nebenfolgen konfrontiert. An die Stelle eines Entweder-oder tritt ein Sowohl-als-auch, d.h. eindeutige, moralisch-ethisch "richtige" Positionen scheinen in allen Bereichen der Gesellschaft fragil zu werden. Ein Umstand, der gern mit Zitaten von Paul Feyerabends "Anything goes" oder aber auch der "Neuen Unübersichtlichkeit" von Habermas zusammengefasst und der postmodernen Sicht der Dinge zugeordnet wird.
Der für meine Fragestellung relevante Aspekt dieses Perspektivwechsels ist, dass dies auch relevant für Innovationsdiskurse wird. Der dogmatische Fortschrittsglaube, der sich noch bis in die 1970er Jahre hinein hielt und von der sozialen Kontrolle von Technik ausging, wird brüchig. Das neue politische Programm ist angeleitet von Skeptizismus. In dem Maß, in dem die gesellschaftlichen Lebensbedingungen als selbst erzeugt und damit auch als selbst-verantwortlich zu behandeln seien, sind technisch-ökonomische Neuerungen (Innovationen!) im Kern nicht mehr ihrer politischen Legitimation entzogen. Rechtlich zuständige, staatliche Kontrollinstanzen und die "risikosensible" Medienöffentlichkeit beginnen, in den Intimbereich des betrieblichen und wissenschaftlichen Managements hineinzureden und hineinzuregieren", mit der Folge, dass es zu einer Politisierung der Orte, der Bedingungen und der Medien der Entstehung und Deutung von Risiken kommt. Mit dem Konzept der sozialen Definitionsverhältnisse (als Pendant zu den Produktionsverhältnissen) umreißt Beck die neue Konstellation zugespitzt: "Gemeint sind damit Regeln, Institutionen und Ressourcen welche die Identifikation und Definition von Risiken bestimmen. Es handelt sich dabei um die rechtliche, epistemologische und kulturelle Matrix, in welcher Risikopolitik organisiert und praktiziert wird" (vgl. Beck 1999: 328). In einer solcherart "entgrenzten" Welt bedürfen Entscheidungen neuer Begründungen und Verfahren.
Empirisch betrachtet kann konstatiert werden, dass Beck mit seiner Zeitdiagnose nicht weit entfernt von der empirischen Realität lag. Schlaglichtartig ist etwa festzustellen: Neue, zumeist auf diskursiven Ansätzen im Habermasschen Sinn basierende Verfahren setzen sich durch. Mehr und mehr Expertengremien beraten in Deutschland Öffentlichkeit und Politik (vgl. Resch 2005). Ethikkommissionen wie der Nationale Ethikrat diskutieren mit breiter öffentlicher Beachtung. In den überregionalen Zeitungen wie auch im Fernsehen ist seit geraumer Zeit ein scientific turn zu beobachten, in dessen Folge Wissenschaftsseiten sowie Wissenschaftsmagazine eine immer dominantere Rolle spielen. Und auch Wissenschaft gibt sich zunehmend als "issue driven" (vgl. Ravetz 2003) also am Gegenstand orientiert und produziert Wissen nicht nur in neuen disziplinären Konstellationen sondern auch, dafür steht etwa der sog. Mode 2 der Wissensproduktion (vgl. Nowotny et al. 2001), in heterogenen Netzwerken mit Akteuren aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen. Die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik wird diskursiviert, d.h. Aushandlungsprozesse und Definitionskonflikte werden zwischen sozialen Akteuren zunehmend öffentlich ausgetragen. Es kommt zu einer Diskursivierung der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik.
Wirft man vor dem Hintergrund dieser Überlegungen einen Blick auf das Diskursfeld Biotechnologie, womit im folgenden insbesondere die sog. Rote Biotechnologie, also allgemein gesprochen: alle wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen mit dem Ziel der Entwicklung medizinischer Anwendungen, so können die Veränderungen auf allen genannten Ebenen konstatiert werden (wobei ich mich auf den Fall Deutschland beschränken möchte und somit die Transnationalisierung von Diskursen nur eine vermittelte Rolle spielt):
Veränderung der Rolle und Wahrnehmung wissenschaftlichen Wissens in öffentlichen Diskursen: Seit nunmehr über zwei Jahrzehnten sind die Ergebnisse von Wissenschaft (und noch viel mehr: der Medizin) auf dem Gebiet der Biotechnologie in die Öffentlichkeit diffundiert. Zur Erinnerung: 2 Seiten schenkte die Redaktion der FAZ damals den schlichten Variationen der Sequenz ATCG. Recht schnell wurde medial aber auch die gute von der umstrittenen Technologie unterschieden - bzw. im Diskurs unterscheidbar gemacht, wurden wissenschaftliche Ergebnisse je nachdem, aus welchem Feld sie kommen, positivistisch zur Kenntnis genommen und verbreitet, etwa das zumeist akzeptierte Screening des genetischen Datensatzes im Hinblick auf Erbkrankheiten(3) - oder in ethisch-moralischen Debatten aufbereitet, hier sei an die Stammzellforschung oder die Präimplantationsdiagnostik erinnert.
Die Anzahl der (legitimen und legitimierten) Sprechpositionen nahm rapide zu, und zwar ebenfalls auf zwei Ebenen. Um den "Verwertungssektor" kümmern sich unterschiedliche Interessengruppen der Wirtschaft sowie einzelne "Meinungsführer" aus dem Bereich der Wissenschaft. Ethisch-moralische Kontroversen, die aus den Konfliktfeldern resultieren, werden in Regulierungsdebatten thematisiert und diskutiert, etwa im Nationalen Ethikrat, im gen-ethischen Netzwerk oder in unterschiedlichen Selbsthilfegruppen.
Schließlich ist in Deutschland seit Mitte der 1990er Jahre ein komplexer institutioneller Wandel im Feld der Biotechnologie zu konstatieren. Die Fördersumme für biotechnologische FuE wachsen, die Infrastruktur für biotechnologische Forschung wird verbessert, vielfältige politische Anreize, wie etwa sog. Ausgründungsoffensiven werden gesetzt. Gekoppelt werden diese Restrukturierungsmaßnahmen an Aktivitäten, die darauf zielen, die Themen der Konfliktfelder zu versachlichen und den Kenntnisstand der Bevölkerung über das Feld insgesamt zu erhöhen. Die Akzeptanz für die Biotechnologie soll gestärkt werden, indem Ängste und Risiken von Bürgerinnen und Bürgern thematisiert werden (vgl. Briken/Kurz 2004).
Betrachtet man nun den gegenstandbezogenen dominanten Innovationsdiskurs, so ist festzustellen: Die Entwicklung der roten Biotechnologie ist in der Öffentlichkeit von einer breiten Akzeptanz getragen, insbesondere und wenig überraschend, was den Verwertungsbereich "Medizinische Anwendungen im weitesten Sinn" angeht. Allerdings sind die Konfliktfelder recht stabil: Wenn es etwa um Eingriffe in die menschliche Keimbahn, Klonen oder neuen Möglichkeiten eugenischer Verfahren geht, treten Ängste und Ablehnung zutage (vgl. Hampel/Renn 2001). Aus Perspektive der reflexiven Moderne wenig überraschend, denn die dem Gegenstand immanenten Lösungsangebote bieten keine eindeutige Validität.
Relevant für meine These ist nun, dass der dominante Diskurs im Feld der Biotechnologie die Grenzen zwischen "guten" und "bedrohlichen" Varianten der Technologie bislang recht eindeutig setzt - aber zunehmend durch den Diskurs um Innovation überlagert wird. Dies ist insofern problematisch, als das "Icon Innovation" in seiner semantischen Programmierung selbst eigene richtig-falsch-Vorstellungen trägt. Diese können in besonderer Weise zur Nivellierung konkurrierender "richtig-falsch"-Vorstellungen in gegenstandsbezogenen Diskursfeldern "angerufen" werden. Anders gesagt: Der öffentliche Inter-Diskurs um Innovation enthält, so mein Vermutung, Argumente zur Legitimation in den Konfliktfeldern, die nicht aus dem gegenstandsbezogenen Bereich selbst generiert werden.
Innovation als Begriff suggeriert dabei in den meisten Fällen wie selbstverständlich, dass Innovation eine besondere und zwar positive Bedeutung für Gesellschaft hat. Innovation ist zugleich zu einem bedeutsamen Teil des modernen politischen, wirtschaftlichen wie auch wissenschaftlichen Vokabulars geworden: Innovation ist wahlweise "Lebenselexier"; "Motor" oder "Chefsache". Der Erwartungsraum, der mit Innovation im derartigen "talk" verbunden wird, ist ohne Zweifel groß und zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass in ihm Fortschritt und Leistungsfähigkeit eine symbiotische Verbindung eingehen. Der Begriff Innovation stellt inzwischen selbst eine semantische Innovation dar. Die Fülle des Bedeutungs- und Erfahrungszusammenhanges, in dem und für den das Wort gebraucht wird, ist insgesamt in das Wort Innovation eingegangen und macht es zu einem Begriff, der sowohl schlagwortartige Ubiquität wie auch konkrete Sinnzusammenhänge vereinigt (vgl. Koselleck 1992). Diese semantische Überlegung zeigt, dass Innovation zu einer catch all Kategorie werden kann. Innovation wird zum Deutungsmuster, verstanden als grundlegendes bedeutungsgenerierendes Schema, das durch Diskurse verbreitet wird und nahe legt, worum es sich bei einem Phänomen handelt. Innovation eignet sich damit als Klassifikationsschema, denn sie beinhaltet eine Entscheidungsstruktur (im Hinblick etwa auf die Förderwürdigkeit von Projekten). Sie ist ein Denkmuster, in dem bestimmte Handlungsorientierungen als natürlich verstanden werden (vgl. Siegel 2003). Ohne Zweifel gilt als ewig Gestriger, wer sich nicht der kollektiv geteilte Vorstellung unterwirft, dass es prinzipiell richtig ist, innovativ zu handeln. Sie enthält eine evolutionistische Komponente und skizziert das "vorher" als den "schlechteren" Zustand.
Behauptungen über bestimmte Phänomenbereiche werden mit dem Label "Innovation" auf Dauer gestellt und mit mehr oder weniger starken Geltungsansprüchen verbunden. Daraus resultiert in der Regel ein Anspruch auf Wirklichkeitsgeltung mit hohem Akzeptanzpotenzial - insbesondere in Bezug auf die rote Biotechnologie. Nach wie vor wird diese breite Zustimmung getragen von der Vorstellung, dass die Arzneimittelentwicklung in besonderem Maß von Ergebnissen der Biowissenschaften profitieren und "Heilung unheilbarer Krankheiten" möglich wird.
Anhand von drei Beobachtungen möchte ich Ihnen kurz erläutern, wie mit dem Diskurs um Innovation Bedeutungsordnungen gesetzt und zugleich Entscheidungsräume bestimmt werden, indem Innovation als neue "Querschnittsfunktion" gemainstreamt wird. Anders gesagt: Durch den Anschluss an den Innovationsdiskurs wird erstens das unterschiedliche Potential einzelner konkreter Innovationen im Hinblick auf entweder die Sozialverträglichkeit oder die Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nivelliert. Die engere Anbindung der Wissenschaft an die Wirtschaft wird - wie oben skizziert - durch vielfältige Maßnahmen gestützt. Förderwürdig sind biotechnologische Entwicklungen immer dann, wenn sie das Label "innovativ" für sich beanspruchen können. Ob diese wirklich auf den Markt kommen, darüber kann die staatliche Förderung nicht mehr verfügen. Die Biotechunternehmen ermöglichen den etablierten Pharmaunternehmen den Zugang zu neuem Wissen, Technologien und Forschungsansätzen (etwa über Lizenzen, Kooperationen oder Aufkauf) und stellen sicher, dass Basisinnovationen ihren Weg von den Hochschullaboren zur kommerziellen Realisierung finden. Sie sind aber einem erheblichen Druck der Kapitalgeber ausgesetzt, die, wie wir in einem empirischen Forschungsprojekt nachweisen konnten (vgl. Briken/Kurz 2003; 2004), nicht ohne Einfluss sind auf die Entwicklungsrichtung der Innovations- und Wissensproduktion der Biotechs. Im Endeffekt sind die Definitionsverhältnisse dergestalt, dass das innovativste Produkt immer das ökonomisch verwertbarste ist.
Zweitens wird auf geplante Grenzverschiebungen Einfluss genommen, indem etwa das Schreckgespenst des Verlusts der Innovationsfähigkeit bemüht wird. So erklärt etwa die pharmazeutische Industrie bzw. stellvertretend der Verband der forschenden Arzneimittelhersteller in schöner Regelmäßigkeit immer dann, dass Innovationen fortan unmöglich seien, wenn das Gesundheitssystem zulasten der Industrie restrukturiert wird.
Drittens schließlich werden auch bislang gültige Grenzen in Frage gestellt. Auch in ethisch-moralischen Debatten verweisen (Bio-)Wissenschaftler nicht selten auf einen Verlust der "Innovationsfähigkeit". Die Argumentation lautet dann etwa mit Verweis auf die "globale" Wissenschafts- und Innovationsentwicklung, dass Stammzellenforschung in Deutschland dringend gesetzlich erlaubt werden müsse, damit die deutsche Forschung den Anschluss an innovative Entwicklungen nicht verliere.
Innovation ist aktuell eine bestimmende Leitsemantik. Sie scheint eine Vielzahl heute "veralteter" Begriffe zu ersetzen: Kapitalverwertung, "Rationalität" oder "Rationalisierung" oder auch Reform. Sie weist jedoch in ihrem semantischen Bedeutungsgehalt über diese hinaus, da sie zugleich einen Leistungsbegriff in sich vereint. Ziel einer diskursanalytischen Herangehensweise könnte es sein, über eine textkorporabasierte Analyse einerseits den Begriff Innovation zu schärfen, indem seine Verwendungsweisen rekonstruiert und vor allem kontextualisiert werden (insbesondere im Hinblick auf die Sprechpositionen). Andererseits könnte man mit diesem Zugriff Überlagerungen von diskursiven Feldern herausarbeiten, die nicht nur die Frage nach sozialer Relevanz und Ignoranz erhellen, sondern auch die Bedingungen der Möglichkeiten von Akzeptanz als drittem wichtigen Faktor gesellschaftlicher Entwicklungen freilegen. Die Erweiterung der sozialwissenschaftlichen Innovationsforschung um diskursanalytische Projekte würde dann dazu beitragen, die gesellschaftliche Relevanz der Leitsemantik Innovation auch in ihren macht- und interessenspezifischen Facetten auszuleuchten sowie nicht-intendierte Nebenfolgen in den Blick zu bekommen.
© Kendra Briken (Universität Frankfurt)
ANMERKUNGEN
(1) Bei dem Text handelt es sich um eine marginal überarbeitete Form des Vortragsmanuskripts.
(2) In diesen Vortrag fließen Erkenntnisse eines Forschungsprojekts ein, das Constanze Kurz und ich am Soziologischen Forschungsinstitut in Göttingen zwischen 2001 und 2004 im Feld der Biotechnologie durchgeführt haben, und in dem wir die "Organisation von Innovation" analysierten (vgl. Briken/Kurz 2006). Ich habe in meinem Vortrag unterschiedliche, von uns bislang teils nur angedeutete Ergebnisse unter einer veränderten Perspektive betrachtet. Von daher sind die vorliegenden Ausführungen nicht die Ergebnisse eines diskursanalytischen Forschungsprojekts, sondern stellen ein work in progress vor.
(3) Vgl. kritisch dazu Lemke 2004.
LITERATUR
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Briken, Kendra; Kurz, Constanze (2003): Neue Formen der Nutzung und Steuerung wissenschaftlicher Arbeits(kraft) in der Pharma- und Biotechindustrie. In: SOFI-Mitteilungen Nr. 31. S. 67-74.
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Hampel; Jürgen; Renn, Ortwin (2001): Gentechnik in der Öffentlichkeit. Wahrnehmung und Bewertung einer umstrittenen Technologie. Frankfurt/New York.
Landes, David (1999): Wohlstand und Armut der Nationen. Berlin.
Keller, Reiner (2005): Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms. Wiesbaden.
Koselleck, Reinhart (1992): Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M. (2. Auflage)
Lemke, Thomas (1997): Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität. Hamburg.
Ders. (2004): Veranlagung und Verantwortung. Genetische Diagnostik zwischen Selbstbestimmung und Schicksal. Bielefeld.
Nowotny, Helga; Scott, Peter; Gibbons, Michael (2001): Re-Thinking Science. Knowledge and the Public in an Age of Uncertainty. Cambridge.
Resch, Christine (2005): Berater-Kapitalismus oder Wissensgesellschaft? Zur Kritik der neoliberalen Produktionsweise. Münster.
Siegel, Tilla (2003): Denkmuster. In: Geideck, S.; Liebert, W.-A. (Hg.): Sinnformeln. Linguistische und soziologische Analysen von Leitbildern, Metaphern und anderen kollektiven Orientierungsmustern
Wittke, Volker; Kurz, Constanze; Briken, Kendra (2003): Organisation von Innovationen in der Pharma- und Biotechindustrie. Problemlagen und Lösungsansätze (Zwischenbericht). In: Niedersächsischer Forschungsverbund Technikentwicklung und gesellschaftlicher Strukturwandel I. Programm, Projekte und erste Zwischenergebnisse. Göttingen. S. 87-113.
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