Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 16. Nr. | Juli 2006 | |
7.5. Frauen und Universitäten |
Koc Günes (Wien)
Das Paradigma der Moderne hat in der Türkei das Bewusstsein über die Nation, über den Staat und auch über den Stellenwert der Gemeinschaft und des Einzelnen verändert. Der Ursprung der Ideen, die als der modernisierende Anfang der türkischen Aufklärung bezeichnet werden können, kann schon in der Entwicklung der konstitutionellen Bewegung und in der Staatsgründung verortet werden.
Die Säkularisierung und der Laizismus als das staatliche Prinzip und die Fortsetzung des modernen Nationalstaates mit unterschiedlichen Reformen auf der institutionellen Ebene und in den gesellschaftlichen Einrichtungen waren die Folgen der Gründung des Nationalstaates. Weitere Folgen des Nationalstaates waren die selbst bestimmte Orientierung der Regierungseliten in Richtung einer westlichen Modernisierung mit Fortschrittsglauben.
Die Frauenfrage spielt im Staat als Teil des Modernisierungsprojektes der Eliten eine Rolle. Die politischen Rechte, die Säkularisierung der gesellschaftlichen Institutionen und die Veränderungen im Zivilrecht, im Eherecht und im Erbrecht sind so wie die Regelungen im Bildungssystem unter diesem Aspekt zu berücksichtigen. Viele verschiedene Bereiche des gesellschaftlichen Miteinanders wurden nach der Gründung der Republik in dieser Hinsicht geregelt. Nach der Verfassung vom Jahr 1924 wurde das Zivilrecht nach dem Schweizer Modell, das Strafrecht nach dem italienischen Recht und nach dem französischen Verwaltungsrecht gültig. Am 5. Dezember 1934 wurde mit der Verfassungsänderung den Frauen das aktive und passive Wahlrecht eingeräumt.
Das gleiche Bildungsrecht für Frauen und Männer war in der modernen laizistischen Verfassung von 1924 ein wichtiger Punkt. Dies sollte die Aufklärung und den Fortschritt im Land möglich machen. Das Recht auf die Bildung wurde den Frauen im Vergleich zu europäischen Ländern relativ früh zugestanden. Der Unterricht in gemischten Schulen und auch der Unterricht derselben Fächer für Knaben und Mädchen war erst nach etlichen politischen Schritten möglich. Die Zulassung der Frauen an den Universitäten folgte auch bald nach der Gründung der Republik. Dies hatte allerdings mehrere modernisierende Ansätze auf etlichen Stufen der Bildungsinstitutionen vorausgesetzt. Die Zulassung der Frauen an den Hochschulen und Universitäten war schon im Jahr 1924 - früher als in vielen europäischen Ländern - beschlossen.
Der Fortschrittsglaube des Staates hat die Bildung für das ganze Volk in Form von Bildungskampagnen für alle Bevölkerungsschichten in Gang gesetzt. Sowohl die Alphabetisierungskurse als auch die Förderung der Bildung von Mädchen sind als ein Teil dieser Bewegung zu betrachten. Deswegen ist die Frauenpolitik im heutigen Sinn auf die Modernisierungsgeschichte der Türkei zurückzuführen.
Andererseits ist die Türkei als ein spät industrialisiertes und spät modernisiertes Land zwischen dem Schwert der autoritär durchgesetzten Modernisierung und dem Joch des "rückholenden" Potenzials der traditionellen Vergangenheit gespalten. Die Folgen dessen sind in der überbetonten Rolle des Militärs auf allen Regierungsebenen zu sehen. Die Militärputsche in den Jahren 1960, 1970 und 1980 sind auch Folgen dieser demokratischen Diskontinuität.
Wie die modernisierende und fortschrittsorientierte Seite der Republik in Bezug auf die Freiheiten, auf die Emanzipation und auch auf die Frauenfrage zu analysieren ist, möchte ich weiter unten zusammen mit der vorherigen Fragestellung erläutern.
Die moderne Verfassung war eine Fortsetzung der Idee der Ittihat und der Terakki, der beiden modernisierenden Elitenbewegungen während der Reformenära von 1908 bis 1923. Diese Verfassung war auch in diesem Sinne die moderne Fortsetzung des Patriarchats in den kemalistischen autoritären Einrichtungen. Im Familienrecht wurde der Mann als Oberhaupt der Familie bezeichnet. Im Streitfall sollte das Kind dem Vater zugeteilt werden, und die Berufstätigkeit der Frau wurde von der Erlaubnis des Mannes abhängig gemacht. Diese neue Regierungsform errichtete eine staatliche Kontrolle über die Familieninstitution. Die patriarchale Geschlechtertrennung im islamischen Sinn setzte sich mit dieser Verfassung fort, auch wenn sie nach der Modernisierung der Gesetze eine laizistische Kräfteverteilung erhalten hatte. Die gesellschaftliche Kontrolle über die Frauen wurde bloß durch das moderne Staatsgesetz neu strukturiert.
Die kemalistische Regierungsform verlangte von den Frauen anstatt kritischer Teilnahme an der Gründung der Republik eine unkritische und anpassungsfähige Teilnahme am neuen System. Das Verbot der Frauenpartei im Jahr 1923 unter Nezihe Muhiddin kann unter dieser Perspektive gesehen werden.
Frauen waren im Parlament bei den Wahlen 1935 mit 18 Abgeordneten (4,3 %), bei den Wahlen im Jahr 1939 (3,23 %), im Jahr 1943 mit 16 (3,31 %) vertreten. Diese Zahlen waren mit den parlamentarischen Demokratien der Zeit vergleichbar, allerdings ist bei den Wahlen von 1946 diese Zahl viel geringer geworden.(1)
Nach Sirin Tekeli, türkischer Politologin und Feminismusforscherin, ist die relativ hohe Anzahl von Frauen im Einparteiensystem im Wahlsystem begründet, in dem Männer die jeweiligen Kandidatinnen nominieren konnten (Tekeli,Sirin: Istanbul 1995). So gesehen hat das Einparteiensystem die Frauen symbolisch benützt, um sich in der parlamentarischen Demokratie als demokratisch zu repräsentieren.
Bis 1943 gab es zweistufige Wahlen, ab 1946 wurde eine einstufige Wahl praktiziert. Diese einstufige Wahl bedeutete für die Frauen eine stärkere Konkurrenz. Für sie, die die Öffentlichkeit und die politische Tagesordnung nicht bestimmten, war es schwierig, zu konkurrieren. In den nächsten 50 Jahren, die dieser Periode folgten, kam es zu keiner Erhöhung der Anzahl weiblicher Abgeordneten.
Andererseits ist festzustellen, dass die kemalistische Elite im Sinn hatte, ein modernes städtisches Frauenbild zu schaffen. Die politische und akademische Vertretung der Frauen war ein wichtiger Teil dieses so genannten modernistischen Projektes im Sinne der Kulturrevolution.
Aus dieser Perspektive heraus ist es leichter zu verstehen, warum viele Frauen mit städtischem, reichem, der Regierungselite nahem familiären Hintergrund in diesem Projekt eine wichtige Rolle gespielt haben. Es war sogar für die Frauengeneration, die noch aus der osmanischen Elite stammte, in der jungen türkischen Republik schon zu den Anfangszeiten der Republik möglich, an den juridischen und medizinischen Fakultäten aufgenommen zu werden. Die relativ hohe Vertretung der Frauen in hochqualifizierten Berufen und in der Politik (wenn auch nur zum Schein) war vor diesem Hintergrund möglich.
Auf dem Land und in den nicht oder spät industrialisierten Städten und Gebieten der Türkei war diese Entwicklung stark verzögert. Denn die modernisierenden Maßnahmen und gesetzlichen Regelungen im Sinne der Säkularisierung wie die Förderung der Teilnahme am modernen Ideal wurden durch die fehlende Kapitalanlage verzögert. Sowohl das Stadt-Landgefälle als auch die Unterschiede in der Entwicklung zwischen dem Westen und dem Osten der Türkei hatten sozialpolitische Probleme zur Folge.
Das zielgerichtete Entwicklungsprojekt des Kemalismus konnte wegen dieses Ungleichgewichts dem Ideal des modernen Staates nicht entsprechen. D er Unterschied der Analphabetenrate unter Frauen und Männern betrug im Jahr 1970 in der Türkei 35 % (unter den Frauen waren um 35 % mehr Analphabeten als unter den Männern). N ach den statistischen Feststellungen im Jahr 2000 sind immer noch 19,4 % der türkischen Frauen Analphabetinnen.(2) Diese Prozentzahl hat allerdings in den letzten Jahren deutlich abgenommen . Andererseits bilden heute weltweit Frauen die ärmste Masse der Bevölkerung: als illegal Erwerbstätige und Billiglohnarbeiterinnen leben sie hauptsächlich in den Armenvierteln an den Stadträndern, die durch die Landflucht entstanden sind.
Dafür ist wiederum eine im Vergleich zum Westen relativ hohe Anzahl von Frauen in qualifizierten Berufen und in der akademischen Welt festzustellen. Obwohl aber verhältnismäßig viele Frauen in qualifizierten Bereichen tätig sind, dominieren immer noch Männer die Führungspositionen. Zum Beispiel bilden die Frauen im Bank- und Versicherungssektor nach einer Analyse aus dem Jahr 1992 43 % der Beschäftigten. Auf der mittleren Ebene sind Frauen nur mit 26 %, auf der Leitungsebene nur mit 4 % vertreten.(3)
Die Frauen machen 44 % der Lehrkräfte im Land aus. Dagegen sind nur 7% der Direktoren weiblich. Die Türkei hat weltweit einen der höchsten Anteile an Frauen im akademischen Betrieb. 32 % des akademischen Personals sind weiblich. Die Türkei steht damit direkt hinter den USA und Kanada. Im Jahr 1989 machten Frauen 32 % des gesamten akademischen Personals aus. Im selben Jahr waren nur 15,9 % des gesamten Leitungspersonals an den Universitäten Frauen.(4)
In einer Studie über die weiblichen Entscheidungsträger an Universitäten zeigt G. Günlük-Senesen, dass 11 % der Dekane, die im Jahr 1991 im Amt waren, Frauen waren. Allerdings betrug die Prozentanzahl der weiblichen Professoren nur 20 %. Seit der Gründung der türkischen Republik bis zum Jahr 1998 waren nur drei Frauen als Rektoren tätig. (ITÜ 2001 Atilim Projesi, 1997 / Technische Universität Istanbul, das Fortschrittsprojekt)(5).
So gesehen können zwei Dimensionen der allgemeinen Situation als Resultat dieses Modernisierungsprojektes beschrieben werden. Erstens ist festzustellen, dass es auf den ersten Blick scheint, dass in der Türkei durch die kemalistische Revolution ein Bruch mit der Tradition und eine Modernisierung durchgesetzt wurden; im Vergleich zu anderen moslemischen Ländern scheint dieser Bruch sehr radikal ausgefallen zu sein. Dadurch wurde nach westlichem Vorbild eine moderne Frauenelite geschaffen. Dies ermöglichte wiederum das aus derselben Denk- und Strukturtradition stammende moderne und modernistische Frauenbild in den Städten, aber heute auch an der Peripherie der Städte. Andererseits können Frauen, die durch das Stadt-Landgefälle auf Grund ihrer ökonomischen Unterentwicklung die Angebote der modernen Welt auf der kulturellen und ökonomischen Ebene nicht genießen können, weder einen modernen Lebensstil praktizieren noch eine hohe Bildungsebene erreichen. Infolgedessen bilden sie die unterdrückten, armen Bevölkerungsmassen.
Allerdings ist das, was der kemalistische Geist im Bewusstsein der Bevölkerung bewirkt hat, gleichzeitig auch ein Ansatz der revolutionär fortschreitenden und entwicklungsfördernden Politik. Später wurde er in Verbindung mit der Landes- und Nationalideologie zum eigentlichen Kemalismus. Es gibt innerhalb der Frauenbewegung auch einen Flügel, der sich als die kemalistische Frauenbewegung beschreibt und eine nach diesem Ansatz ausgerichtete politische Position vertritt. Er spricht seine "Dankbarkeit" und auch "Schuldbarkeit" dem Kemalismus und dem zum Kult der Nation gewordenen Atatürk aus.
Im Folgenden möchte ich beschreiben, wie sich die Frauenbewegung und die Frauenpolitik der Gegenwart im Hinblick auf diese Vergangenheit entwickelt haben.
Bei den Konflikten zwischen den Kemalisten und der islamisch orientierten politischen Bewegung geht es hauptsächlich um die Dichotomie zwischen dem Laizismus und der so genannten Gefahr des Fundamentalismus. Gleichzeitig geht es um die so bestimmte Pflicht des Aufbewahrens der laizistischen Identität des Landes. Die kemalistische Frauenbewegung hat in den 90er Jahren mit dem Aufstieg der islamischen Bewegung eine neue Positionierung in der politischen Arena gewonnen. Dabei war der Konflikt um das Kopftuch, also die Frage, ob Frauen mit Kopftüchern an den Universitäten studieren und überhaupt in den Bildungseinrichtungen und in den öffentlichen Ämtern arbeiten oder studieren dürfen, eines der großen Themen.
Eine heikle Diskussion wurde in der Mitte der 90er Jahre ausgelöst, was sowohl die laizistischen Prinzipien als auch die Funktion des Militärs wieder zu einer heißen Debatte machte. Die kemalistischen Frauen hatten sich zu einem missionarischen Aufbewahren der sechs Grundprinzipien des Kemalismus deklariert, darunter also in erster Linie zum Laizismus. Die islamische Frauenbewegung ist auch in diesen Jahren entstanden.
Die so bezeichneten islamischen Frauen setzten sich hauptsächlich aus jungen, in den Städten aufgewachsenen, allerdings hauptsächlich aus den vom Land immigrierten Familien stammenden Studentinnen zusammen.(6) Die Forderung nach dem Recht auf Bildung in den modernen laizistischen staatlichen Einrichtungen hat durch Konflikte mit dem Militär und dem Staat unter anderem eine politische islamische Frauenbewegung ausgelöst.
Was diesen Diskurs und diesen Konflikt zur Bewegung machte, kann auch mit ihrer Forderung, an der Öffentlichkeit teilzunehmen (und dies sowohl durch Bildung als auch durch Arbeitsmöglichkeiten) erklärt werden. Dabei ging es darum, die Teilnahme an der Öffentlichkeit durch die islamische Kleiderform zu gestalten. Dieses Prinzip trägt die Veränderung der Öffentlichkeit durch die Teilnahme an den modernen Strukturen in einer so genannten, vom kemalistischen Ansatz aus gesehen, scheinbar vormodernen Form.
Das bedeutet allerdings auch die Veränderung der islamischen Weltauffassung und der dazu gehörigen traditionellen islamischen Öffentlichkeit, nach der die Frauen ausschließlich in der Privatsphäre zu existieren haben. Deswegen wurden gewisse islamische Frauenkreise, die sich durch diese Bewegung entwickelt hatten, als islamische Feministinnen bezeichnet, was auch in ihrem Interesse lag.
Eine andere Richtung der feministischen Bewegung seit den 80er Jahren sind die kurdischen Frauen. Die Bewegung formierte sich in den 90er Jahren und ist eine über die ethnischen Fragen definierte Frauenbewegung innerhalb der kurdischen Bewegung. Sie solidarisierte sich mit den türkischen Frauen und identifizierte sich mit dem feministischen Ansatz nach der dritten Frauenbewegung. Die radikalen Feministinnen und die sozialistischen Feministinnen sind die anderen zwei sich absondernden feministischen Gruppierungen, die durch ihre Zeitschriften ihren eigenen politischen Diskurs über aktuelle Themen erläutern.
Das, was die zweite feministische Bewegung nach den 80er Jahren herbeigerufen hat, kann unter dem Aspekt der neu entstandenen politischen Terminologie und einer neuen Reflexionsebene im politischen Diskurs gedacht werden. Eine reflexive Auseinandersetzung mit der kemalistischen Tradition und die Dekonstruktion der Auffassung, dass die Frauen ihre Rechte "dank M. Kemal" bekommen haben, ohne dabei einen eigenen Beitrag geleistet zu haben, ist durch die zweite feministische Bewegung und den Diskurs, den sie eröffnet hat, möglich gewesen. Die geschichtliche Aufklärung über die erste feministische Bewegung in der Reformenära im Osmanischen Reich und deren die erungen und Bestimmungen der männlichen modernisierenden Eliten überschreitenden politischen Äußerungen waren nämlich eine wichtige Fragestellung über das in der Öffentlichkeit agierende Subjekt. Die autoritäre Einparteienära des Kemalismus hatte die Öffentlichkeit, die sich während der Reformenära der konstitutionellen Bewegung zu bilden begann, aus dem Weg geräumt. Die Unterdrückung aller oppositionellen Stimmen bis zum Ende der Einparteienära war ein augenscheinliches Merkmal dieser autoritären modernisierenden Regierung.
Eine Demokratie nach dem Motto,"das Volk weiß nicht, was für es gut ist", durchzusetzen, kann am Beispiel der Türkei für die spät industrialisierten und auch für die postkolonialen Länder beschrieben werden. Allerdings heißt das nicht, dass die Frauenbewegung in einer entmachteten Öffentlichkeit keine Rolle im Geist und auch in der Tat der so genannten Emanzipation gespielt hat.
Ein weiterer Punkt der Kritik der zweiten Frauenbewegung war die Auseinandersetzung mit der linken Tradition in den 70er Jahren. Die schärfste Kritik der Frauen richtete sich gegen die patriarchale Rollenverteilung innerhalb der linken Bewegung und problematisierte das Ignorieren und die Sekundarisierung des Frauenproblems.
Welche Beziehungen und Wechselwirkungen es zwischen der Frauenbewegung und der beeinträchtigten Frauenpolitik in der Bildungspolitik der Gegenwart auf der universitären Ebene gegeben hat, möchte ich im Folgenden erläutern.
Die Rolle des Militärs als politisches Subjekt innerhalb des Landes zeigte sich mit der Einführung des Hochschulgesetzes wie mit der Verfassungsänderung nach 1980 wiederum in aller Deutlichkeit. Yüksek Ögretim Kurumu (YÖK), das neue Hochschulsystem, hat durch die Verfolgungen und die Kontrolle von Akademikerinnen und Studentinnen nach dem Militärputsch 1980 ein sozusagen kommerzialisiertes akademisches Umfeld geschaffen. Während der ersten Regierungsperiode nach dem Militärputsch im Jahr 1983 versuchte man, die oppositionellen Stimmen auch durch die stur fortgesetzte Liberalisierung der Ökonomie zu unterdrücken. Heute ist das YÖK-System immer noch aktuell und als Kontrollsystem über den akademischen Geist und über die Studentinnen immer noch eine Realität des akademischen Lebens des Landes. Das YÖK-System hat sich in den 90er Jahren durch die liberalisierte Ökonomie an das globale Marktsystem angepasst und entwickelt sich in den Beziehungen zwischen der Wissenschaft und dem Marktsystem weiter.
Das Universitätssystem in der Türkei hat sich nicht nur aus ideellen Überlegungen wie Modernisierung nach westlichem Vorbild entwickelt, sondern war auch mit dem politischen und ökonomischen Programm, das damit verbunden war, immer konkret umzusetzen. Das kontinentale europäische Bildungsmodell, das hauptsächlich als deutsch-französisches Modell bezeichnet werden kann und bis zu den 80er Jahren geführt wurde, wurde ab den 80er Jahren und mit besonderer Intensität in den 90er Jahren an das angloamerikanische Modell angepasst.
Heute sind die Türkische Akademie der Wissenschaften TÜBITAK und das Hochschulsystem YÖK der "nationalen Wissenschafts- und Technologiepolitik" untergeordnet, womit die Pragmatisierung der Universitäten, die Förderung der technischen und wirtschaftlichen Fächer und deren unmittelbare Integration durch konkrete Verbindungen mit der Wirtschaft und Industrie wie durch Förderungsmaßnahmen bezweckt wird.(7) Dadurch wird die Abhängigkeit der Universitäten von der Wirtschaft natürlich verstärkt. Infolgedessen werden durch das Entziehen der staatlichen Förderungen und durch die Kommerzialisierung der Forschung die Sozialwissenschaften in ihrem Ausmaß verringert und das wissenschaftliche Bildungsniveau heruntergeschraubt. Dies ist nur ein Resultat dieser Politik. Das geplante angloamerikanische System, das sich auch in der Privatisierung der Universitäten schon seit den 90er Jahren widerspiegelt, wird sowohl durch die türkische Industriellenvereinigung TÜSIAD als auch durch die konkrete Unterstützung des Militärs durchgesetzt. Dieses Modell ist nicht nur für die Wissenschaft kontraproduktiv, sondern es vertieft auch das soziale Ungleichgewicht.
Unter welchen Bedingungen die Frauenforschungszentren, die in den 90er Jahren eröffnet wurden, in diesem Universitätsbild existieren, kann vielleicht durch die Ausführungen des Politologen Tevfik Cavdar beleuchtet werden. Er meint, dass viele demokratische Öffnungen in der Türkei nach der Putschära unter der Perspektive des EU-Beitritts betrachtet werden sollten, was die gesetzlichen Änderungen und die gegründeten Institutionen betrifft(8).
Die türkischen Industriellen, organisiert in der TÜSIAD, gewissermaßen das türkische Großbürgertum, befürwortet den EU-Beitritt. Das Militär hat auch als politisches Subjekt starke Verflechtungen mit der Industrie. Auf der ideologischen Ebene allerdings, auch wegen gewisser nationaler politischer Konflikte, nehmen die Militärs eine gespaltene Position ein, was die Beitrittsfrage betrifft. Also stimmen diese Gruppen einer Demokratisierung im Rahmen der EU-Integrationsmaßnahmen zu. Allerdings ist es meines Erachtens für die gesellschaftlichen Veränderungen und Entwicklungen allzu beschränkt, nur die Wirtschaft und die staatlichen politischen Subjekte als Indikatoren wahrzunehmen. Deswegen möchte ich in diesem Punkt das Faktum der Frauenbewegung einbringen. Trotz der demokratischen Diskontinuität in der Türkei hat die Frauenbewegung zu einer emanzipatorischen Veränderung in der Öffentlichkeit beigetragen.
Das erste Frauenforschungs- und Analysezentrum w urde im Jahr 1989 an der Universität Istanbul gegründet. Es gibt heute innerhalb der Universitäten in etlichen Städten der Türkei 16 Forschungszentren und -institute dieser Art, wo es möglich ist, Master- und Doktoratsprogramme zu besuchen. Im Jahr 1990 wurden die Frauenbibliothek und ein Wissenszentrum gegründet. Seit den 90er Jahren gibt es - wenn auch in geringer Anzahl - staatlich gegründete, so genannte Frauenunterkünfte. Im Jahr 1990 wurde das Generaldirektorat der türkischen Republik zur Lage und den Problemen von Frauen gegründet. Im Jahr 1997 wurde die Schulpflicht für Knaben und Mädchen auf acht Jahre angehoben.
Das Frauenhaus Mor Cati wurde im Jahr 1995 als Initiative der feministischen Frauen gegründet. Im Vergleich zu staatlichen Einrichtungen, die aus der Sicht feministischer Frauen kein hinreichendes Hilfeangebot für Frauen in Not waren, wurden hier verstärkt feministische Ansichten vertreten und umgesetzt. Deswegen ist Mor Cati ("Das lila Dach") für die Frauenbewegung in der Türkei ein wichtiger Meilenstein.
Über 300 Frauenorganisationen sind seit den 90er Jahren entstanden. Diese Frauenorganisationen sind auch einzuteilen nach ihren unterschiedlichen politischen Positionierungen, die ich oben aufgezählt habe. Die feministischen Gruppierungen und Organisationen, die durch feministische Frauen gegründet wurden, sind unter den Frauenplattformen vereint, die gemeinsame politische Strategien und Öffentlichkeitsdiskurse entwickeln.
Die Frauenforschungszentren und die Frauenforschungsinstitute an den Universitäten werden in den meisten Fällen von Frauen geführt, die aus der Frauenbewegung kommen. Die Frauenbewegung hat einen wichtigen Beitrag für die Entstehung einer Öffentlichkeit geleistet und trotz der Überbaustruktur des YÖK-Systems gewisse emanzipatorische Ansätze in den akademischen Diskurs eingebracht.
Andererseits kann das heutige (westliche) Bild der Modernisierung innerhalb der akademischen Diskurse als eine am Demokratisierungsprozess orientierte Auffassung beschrieben werden. Nach den Forschungsergebnissen der staatlichen statistischen Institute(9) und auch nach meiner eigenen Forschung und den von mir durchgeführten Interviews mit den Frauenforschungsinstituten an der Universität Istanbul und an der Marmara-Universität sowie mit den Frauenorganisationen in Istanbul ist festzustellen, dass die Frauen in einem überdurchschnittlich hohen Prozentsatz den Beitritt der Türkei zur EU als eine positive Entwicklung für die Förderung und Entwicklung der Demokratie betrachten.(10)
Sowohl viele Frauenorganisationen als auch Frauenlobbygruppen befürworten grundsätzlich den Beitritt, weil sie ihn mit Demokratisierung konnotieren. Auch die islamistischen Frauen begrüßen den Beitritt in der Hoffnung, dass der Einfluss des Militärs abnehmen und ihre Positionierung in der Öffentlichkeit sich verstärken wird. Diese Erwartungen im Hinblick auf den EU-Beitritt und die Europäisierung des Landes können sowohl auf die Modernisierungstradition der Türkei zurückgeführt werden als auch auf den Zeitgeist, der die endgültige Abgrenzung zum Osten beabsichtigt - die quasi mit dem Fortschritt in einem Atemzug genannt wird. Es wäre nicht falsch zu meinen, dass jede politische Gruppe ihre eigene Wahrheitsprojektion in das EU-Beitrittsprojekt einbringt. Trotz der nationalistischen Erscheinungen ist unter dieser ideologischen Tendenz keine ernsthafte Gegenstimme festzustellen.
Auch wenn wir nicht davon ausgehen können, dass die Frauenpolitik an den Universitäten positiv gefördert wird oder dass eine Politik der Geschlechtergleichheit an den Universitäten im Vordergrund steht, kann man feststellen, dass die Frauenbewegung sowohl durch die feministischen Frauengruppen als auch durch die unterschiedlichen Frauenorganisationen Aktualisierung und Forschung in dem Gebiet und Entwicklung der emanzipatorischen Ansätze fördert. Die universitäre Forschung über die Geschlechterfragen und Gleichstellung auf unterschiedlichen Ebenen ist damit in dem immer noch den Zwangstrukturen unterliegenden Universitätssystem gegeben, was auch das umgekehrte Übertragen von akademischem Diskurs auf die politische Frauenbewegung ermöglicht.
Es ist auch ein Faktum, dass in der Frauenforschung an den Universitäten vergleichende Studien mit den europäischen Ländern und auch Europastudien durchgeführt werden und dabei der Frage nachgegangen wird, was ein EU-Beitritt konkret für die Verbesserung der Situation von Frauen bringen könnte und wie die positiven Entwicklungen und Maßnahmen in diesem Prozess für die Gleichstellung gesetzt werden können. Von Frauen wird vielleicht nicht Europa an sich, aber dieser Prozess als eine Chance für Reflexion und Möglichkeit der Durchsetzung von positiven Veränderungen wahrgenommen.
© Koc Günes (Wien)
ANMERKUNGEN
(1) Yaraman, Aysegül: Von der formellen Geschichte zur Frauengeschichte ... Ankara 2001, Baglam Vlg. (Resmi Tarihten Kadin Tarihine Elinin Hamuruyla Özgürlük), S. 55.
(2) S. Timur, "Determinants of Family Structure in Turkey". Aufsatz in "Women in Turkish Society" (Istanbul, 16-19 Mai 1978).
(3) Kabasakal, H.-Boyacigiller, N.A.-Erden, D., "Organizational Characteristics as Correlates of Women in Middle and Top Management", Bogazici Journal: A Review of Social, Economic and Administrative Studies, 8, 1994, s. 45-62 in 75 yilda kadinlar ve erkekler / Frauen und Männer in 75 Jahren. Istanbul 1998, Türkiye Is Bank Tarih Vakfi Vlg.., s. 303.
(4) 75 yilda kadinlar ve erkekler / Frauen und Männer in 75 Jahren. Istanbul 1998, Türkiye Is Bank Tarih Vakfi Vlg., Yildiz Ecevit, Türkiye’de ücretli kadin emeginin toplumsal cinsiyet temelinde analizi / Analyse der Lohnarbeit in der Türkei auf der Ebene des sozialen Geschlechts, S. 303.
(5) Senesen, G. G., "Female Participation in the Turkish University Administration: Econometric and Survey Findings, 1992", Bogazici Journal, 8, 1994.
(6) Göle, Nilüfer: Die Öffentlichkeitsgesichter des Islam. Istanbul, 2000, Metis, 2. Aufl. (Göle, Nilüfer: Islamin yeni kamusal yüzleri), s.44.
(7) TMMOB Elektirik Mühendisleri Odasi Dergisi / TMMOB Ingenieurkammerzeitschrift, Sayi / Nummer: 425. Universite Sanayi Isbirligi Programi Üzerine Bir Elestiri / Eine kritische Äußerung über das Programm der Vereinigung der Industrie und Universitäten, Metin Özugurlu.
(8) Cavdar, Tevfik: Die Demokratiegeschichte der Türkei von 1950 bis heute. Ankara 2004, 3. Aufl., Imge Vlg. (Cavdar, Tevfik: Türkiye’nin demokrasi tarihi (1950’den günümüze)).
(9) Siehe. Yilmaz Esmer, "Türk Kamuoyu ve Avrupa" / "türkische Öffentlichkeit und Europa", Türkiye Avrupa’nin Neresinde? / Wo ist die Türkei innerhalb von Europa? Haz. B. Gökay, Ayrac Yay., 1997, s. 134 in Türkiye’de ve AB’de Kadinin Konumu: Kazanimlar, Sorunlar, Umutlar / Die soziale Position der Frau in der Türkei und in Europa: Die Gewinne, die Probleme, die Hoffnungen. Istanbul 2004, KA-DER Vlg.
(10) Interviews mit den Frauenorganisationen und mit den Frauenforschungszentren an den Universitäten Juni - September 2004.
LITERATUR
Cavdar, Tevfik: Die Demokratiegeschichte der Türkei von 1950 bis heute. Ankara 2004, 3. Aufl., Imge Vlg. (Cavdar, Tevfik: Türkiye’nin demokrasi tarihi (1950’den günümüze)).
Göle, Nilüfer: Die Öffentlichkeitsgesichter des Islam. Istanbul, 2000, Metis, 2. Aufl. (Göle, Nilüfer: Islamin yeni kamusal yüzleri).
Senesen, G. G., "Female Participation in the Turkish University Administration: Econometric and Survey Findings, 1992", Bogazici Journal, 8, 1994.
S. Timur, "Determinants of Family Structure in Turkey". Aufsatz in "Women in Turkish Society" (Istanbul, 16-19 Mai 1978).
Hsg. Tekeli, Sirin: Aus dem Blickwinkel der Frauen. Die Frauen in den 80er Jahren in der Türkei. Istanbul 1995, Iletisim Vlg., 3. Vlg. (1980’ler Türkiye’sinde Kadin Bakis Acisindan Kadinlar).
Yaraman, Aysegül: Von der formellen Geschichte zur Frauengeschichte. Ankara 2001, Baglam Vlg. (Resmi Tarihten Kadin Tarihine Elinin Hamuruyla Özgürlük).
TMMOB Elektirik Mühendisleri Odasi Dergisi / TMMOB Ingenieurkammerzeitschrift, Sayi / Nummer: 425. Metin Özugurlu: Universite Sanayi Isbirligi Programi Üzerine Bir Elestiri / Eine kritische Äußerung über das Programm der Vereinigung der Industrie und der Universitäten.
Türkiye’de ve AB’de Kadinin Konumu: Kazanimlar, Sorunlar, Umutlar / Die soziale Position der Frau in der Türkei und in Europa: Die Gewinne, die Probleme, die Hoffnungen. Istanbul 2004, KA-DER Vlg.
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